Wissen Aktuell

Zürcher Hypertonietag 2020 (Teil 2)

Intensiver Gedankenaustausch um den Bluthochdruck und seine Folgen

Am 23. Januar fand am Universitätsspital Zürich der traditionelle, von der Klinik für Kardiologie organisierte Hypertonietag statt. Das Ziel war ein intensiver Gedankenaustausch zwischen den verschiedenen medizinischen Disziplinen rund um den Bluthochdruck und seine Folgen, wobei es galt, neue Horizonte zu entdecken und auch bisher Bekanntes in neuem Lichte zu sehen. Dies ist der zweite Teil der Berichterstattung.



Weisskittelhypertonie und maskierte Hypertonie

Die Weisskittelhypertonie (WKT) ist bei bis zu 30% der Patienten mit erhöhtem Praxis-Blutdruck (> 50% bei sehr betagten Patienten) vorhanden. Die Prävalenz ist tiefer, wenn der Praxis-Blutdruck auf repetitiven Messungen basiert und wenn die Messung nicht durch den Arzt geschieht, stellte Prof. Dr. med. Alain Bernheim, Zürich, einleitend fest.
Die Definitionen für maskierte Hypertonie, anhaltende Hypertonie, normalen Blutdruck und Weisskittelhypertonie sind in der Abb. 1 wiedergegeben.
Die entsprechenden Patientencharakteristika sind häufigeres Vorkommen mit zunehmendem Alter, bei Frauen häufiger als bei Männern und häufiger bei Nicht-Rauchern. Die Weisskittelhypertonie stellt ein kardiovaskuläres Risiko dar, wie Untersuchungen der 10-Jahresinzidenz zeigten. Bei etabliertem Bluthochdruck beträgt die Hazard Ratio WKT vs. normoton 2.51 (p < 0.0001), bei linksventrikulärer Hypertrophie 1.98 (< 0.002) und bei Diabetes 2.89 (p <v00.7). In einer Metaanalyse aus dem Jahr 2017 ergab sich auch eine signifikante Assoziation zur Gesamtmortalität (Huang Y et al. J Hypertens 2017; 35:677-99).
In einem nationalen multizentrischen Register in Spanien wurden an 63 910 Probanden die Praxis-Blutdruckmessung und die 24h Blutdruckmessung miteinander verglichen. Es wurde kategorisiert zwischen Hypertonie, Weisskittelhypertonie, maskierter Hypertonie und Normotonie. Das Outcome wurde nach 4.7 Jahren erfasst. Ambulante Blutdruckmessungen waren ein stärkerer Prädiktor für die Gesamt- und kardiovaskuläre Mortalität als klinische Blutdruckmessungen. Die Weisskittel-Hypertonie war nicht gutartig, und die maskierte Hypertonie war mit einem höheren Sterberisiko verbunden als die anhaltende Hypertonie (Banegas JR et al NEJM 2018; 378:1509-20).
Das Management der Weisskittelhypertonie beinhaltet die Suche nach Endorganschäden, regelmässige «Office» und «Out-of Office» Blutdruckmessungen (HBDM und ABDM), Lebensstiländerungen zur Senkung des kardiovaskulären Risikos. Diese Punkte werden auch in den Guidelines erwähnt (Empfehlung I/C). Gemäss Guidelines kann eine antihypertensive Therapie in Betracht gezogen werden bei Evidenz für HMOD (hypertension-mediated organ damage) oder bei Vorhandensein von hohem oder sehr hohem kardiovaskulärem Risiko (IIb/C). Eine routinemässige medikamentöse Therapie wird nicht empfohlen (III/C).

Maskierte Hypertonie

Sie kommt vor bei ca. 15% der Patienten mit normalem Praxis-Blutdruck. Die Prävalenz ist bei jüngeren Patienten und bei Männern höher als bei Frauen. Sie ist häufiger, wenn der Praxis-Blutdruck im Borderline-Bereich liegt (130-139/80-89 mmHg) und sie ist selten bei Praxis-Blutdruck < 130/80 mmHg. Prädispositionen sind Stress bei der Arbeit oder zu Hause, Rauchen oder übermässiger Alkoholkonsum, Übergewicht, Bewegungsarmut, Diabetes mellitus, Niereninsuffizienz, Schlafmangel, OSAS → maskierte Hypertonie vor allem infolge nächtlicher Hypertonien.
Diagnostische Aspekte: An eine maskierte Hypertonie sollte gedacht werden bei Patienten mit Borderline Praxis-Blutdruckwerten, bei Prädisposition, bei Patienten mit erhöhtem kardiovaskulärem Risiko sowie bei Hinweisen für Endorganschäden. Bei Verdachtsmomenten sollte eine ABDM durchgeführt werden.
Gemäss dem bereits erwähnten spanischen Register (Banegas JR et al. NEJM 2018; 378:1509-20)beträgt die Hazard Ratio bei markierter Hypertonie sowohl für Gesamtmortalität als auch für kardiovaskuläre Mortalität 2.92 (p < 0.oo1). Die Daten einer Metaanalyse aus dem Jahre 2007 zeigen eine Hazard Ration bei maskierter Hypertonie in der Grundversorgung und bei Spezialisten von insgesamt 2.00 (1.58-2.52). Bei anhaltender Hypertonie betrug die entsprechende HR 2.28 (1.87-2.78).
Das Management der maskierten Hypertonie besteht in der Vermeidung auslösender Faktoren, in Lifestyle-Änderungen zur Reduktion des kardiovaskulären Risikos und im periodischen Monitoring des «Out-of-Office» Blutdrucks (Empfehlung I/C in den Guidelines). Eine antihypertensive Therapie wird empfohlen wegen des deutlich erhöhten kardiovaskulären Risikos in dieser Population; kardiovaskuläre Outcome-Resultate sind allerdings keine vorhanden (IIa/C). Bei maskierter unkontrollierter Hypertonie (MUCH) ist die Hochtitrierung der antihypertensiven Therapie empfohlen (IIa/C).

ESC Hypertonieguidelines: «der Teufel liegt im Detail»

Die besagten Guidelines beginnen mit dem folgenden Aufruf: «Die Angehörigen der Gesundheitsberufe werden ermutigt, die ESC ESH-Leitlinien bei der Ausübung ihres klinischen Urteils sowie bei der Festlegung und Umsetzung von präventiven, diagnostischen oder therapeutischen medizinischen Strategien voll zu berücksichtigen. Die ESC/ESH-Leitlinien setzen jedoch in keiner Weise die individuelle Verantwortung der Angehörigen der Gesundheitsberufe ausser Kraft, angemessene und genaue Entscheidungen in Bezug auf den Gesundheitszustand jedes Patienten und in Absprache mit dem Patienten oder dessen Betreuer zu treffen, wo dies angemessen und/oder notwendig ist. Es liegt auch in der Verantwortung der Angehörigen der Gesundheitsberufe, die zum Zeitpunkt der Verschreibung geltenden Regeln und Vorschriften für Arzneimittel und Geräte zu überprüfen» stellte Frau Prof. Dr. med. Isabella Sudano, Zürich fest.


47 Empfehlungen haben einen Level of Evidence C, d.h. Konsens der Meinung der Experten und/oder kleine Studien, retrospektive Studien, Register. 20 Empfehlungen sind IIa «sollte in Betracht gezogen werden», 14 Empfehlungen sind IIb «kann in Betracht gezogen werden». Wenn die Guidelines eine Diagnose beschreiben aber keine Lösung bieten: Out-of-Office Blutdruckmessung ist eine I/A Empfehlung bei der Identifikation von Weisskittelhypertonie und maskierter Hypertonie zur Quantifizierung der Wirkung der Behandlung und Identifikation der Ursachen von möglichen Nebenwirkungen (z.B. symptomatische Hypotension). In den gleichen Guidelines werden bei der Weisskittelhypertonie die Implementation von Lifestyleänderungen zur Reduktion des kardiovaskulären Risikos, sowie regulärer Follow-up mit periodischem Out-of-Office Blutdruck-Monitoring als I/C Empfehlung aufgeführt, medikamentöse Behandlung kann bei Personen mit HMOD oder bei solchen mit hohem oder sehr hohem kardiovaskulärem Risiko in Betracht gezogen werden (IIb/C). Die Referentin nennt einige ähnliche Beispiele bei der maskierten Hypertonie.
Eine antihypertensive Therapie kann auch in Betracht gezogen werden, falls sie toleriert wird, bei gebrechlichen alten Patienten (IIb/B), wenn sie keinen Diabetes haben, keine Schlaganfall-Vergangenheit, keine symptomatische Herzinsuffizienz innerhalb der letzten 6 Monate, keine reduzierte Auswurffraktion (< 35%), keine klinische Diagnose oder Behandlung für Demenz, wenn die erwartete Lebensdauer nicht weniger als 3 Jahre beträgt, wenn kein unerwarteter Gewichtsverlust (> 10%) während der letzten 6 Monate auftrat, der systolische Blutdruck nicht weniger als 110 mmHg beträgt nach einer Minute im Stehen.
Die Referentin kam zum Schluss auf den eingangs erwähnten Abschnitt zurück und empfahl «wer die Guidelines korrekt anwenden möchte, sollte sie mit Aufmerksamkeit und Neugier selbst lesen».

Lipide und Blutdruck: neue Daten, neue Guidelines

Die erste Beschreibung der Atherosklerose geht auf einen Obduktionsbericht von Edward Jenner aus dem Jahr 1787 zurück. Er schrieb «die Koronararterien wurden zu knöchernen Kanälen, darauf begann ich ein wenig zu verdächtigen». Fast 130 Jahre später publizierte der russische Pathologe Anitzkow einen Beitrag mit dem Titel «Über experimentelle Cholesterinsteatose und ihre Bedeutung für die Entstehung einiger pathologischer Prozesse», so Prof. Dr. med. Augusto Gallino, Bellinzona.
Hundert Jahre nach Anitzkow publizieren die Nobelpreisträger Brown und Goldstein «A century of cholesterol and coronaries» (Cell 2015;161-172), wobei sie feststellen, dass die LDL-Cholesterin Konzentration für sämtliche Apo B enthaltenden Partikel repräsentativ ist. Die Evidenz für die Beziehung zwischen der LDL-Cholesterinsenkung und dem Risiko für koronare Herzkrankheit, sowie die Folgen der Expositionsdauer mit erhöhten LDL-Cholesterinwerten wurden anhand einer Metaanalyse von über 20 Mio. Personenjahre und über 150 000 kardiovaskulären Ereignissen (EHJ 2017;38:2459-2472) eindrücklich demonstriert. Der Referent präsentierte die neuen Zielwerte für die verschiedenen kardiovaskulären Risikokategorien (Tab. 1).
Die neuen Guidelines empfehlen ferner das kardiovaskuläre Imaging als Risikomodulator: Arterieller Ultraschall bei tiefem bis moderatem Risiko (Klasse IIa/B) und Koronarkalk (IIb/B). Der Referent betonte die Bedeutung der familiären Hypercholesterinämie und die Notwendigkeit einer frühen Intervention. Er nannte als wichtigste Erkenntnisse: Je tiefer der LDL-Cholesterinwert desto besser und je früher die Behandlung desto besser. Der neue Zielwert für LDL-Cholesterin bei sehr hohem Risiko ist < 1.4 mmol/l sogar für die Primärprävention. Über die echte Sekundärprävention hinaus sollen alle Personen mit entweder klinisch oder mit Imaging dokumentierter ASCVD eingeschlossen werden.

Telemedizin in der Hypertonie

Die Selbstüberwachung mit oder ohne Telemonitoring führt, wenn sie von Allgemeinmedizinern zur Titration von blutdrucksenkenden Medikamenten bei Personen mit schlecht kontrolliertem Blutdruck eingesetzt wird, zu einem signifikant niedrigeren Blutdruck als die Titration nach klinischen Messungen. Da die meisten Allgemeinmediziner und viele Patienten die Selbstkontrolle verwenden, könnte sie zum Eckpfeiler der Blutdruckbehandlung in der Primärversorgung werden (MacManus RJ et al Lancet 2018; 391:949-959) zitierte Dr. med. Christian Grebner, Luzern.
Die Ziele der EUSTAR® (Eur Soc of Hypertension Telemedicine in Arterial Hypertension Register) sind eine schnelle und sichere Datenbank, telemedizinische Standards für ausgewählte Indikationen etablieren und auswerten, neue telemedizinische Interventionen für zusätzliche Indikationen, epidemiologische Daten, digitale Schnittstelle für Interaktionen zwischen Spezialisten und Allgemeinmedizinern.
Der Referent wies auf die zukünftigen Möglichkeiten hin, so beispielsweise die Smartphone-basierte Blutdruckmessung mi transdermaler optischer Bildgebungstechnologie.
Telemedizin ist bestimmt nicht die Antwort auf alle Probleme unseres sich wandelnden Gesundheitssystems, aber als Instrument könnte die Telemedizin nach einer genauen Indikation eine bedeutende Bereicherung in Bezug auf häufige Krankheiten sein (Schulz EG et al. Swiss Medical Weekly 2015; 145:w14077), so die abschliessende Feststellung des Referenten.

Hypertonie bei Frauen: die lautlose Gefahr

Achtzig Prozent der kardiovaskulären Krankheit bei Frauen können entsprechend eines epidemiologischen europäischen Updates aus dem Jahre 2016 (Townsend N et al Eur Heart J 2016; 37:3232-3245) vermieden werden, stellte Frau PD Dr. med. Jelena Rima Templin Ghadri, Zürich, fest.
Die Hypertonie stellt den wichtigsten kardiovaskulären Risikofaktor bei Frauen dar. Sie betrifft Frauen über den ganzen Lebenszyklus hinweg. Während jüngere Männer häufiger eine Hypertonie aufweisen als jüngere Frauen ist die Prävalenz der Hypertonie im Alter bei Frauen höher als bei Männern; neuere Daten aus der Schweiz zeigen eine Angleichung der Prävalenzen im Alter. Die Referentin erwähnte den Einfluss der Östrogene auf den Blutdruck. Der Verlust der hormonellen Schutzfunktion beeinflusst Gefässwiderstand und Hämodynamik. Hypertensive Frauen entwickeln häufiger Schlaganfall und Demenz, diastolische Dysfunktion, linksventrikuläre Hypertrophie, Herzinsuffizienz, chronische Nierenkrankheit und vermehrte arterielle Steifigkeit. Das Risiko für Schlaganfall steigt bei zunehmendem Blutdruck bei Frauen mehr an als bei Männern.
Frauen sind in Studien zu kardiovaskulären Krankheiten unterrepräsentiert. Allerdings hat sich dies in den letzten Jahren gebessert. Die Teilnahme von Frauen ist aber immer noch gering im Verhältnis zu ihrer Gesamtrepräsentation in Krankheitspopulationen.
Als Antihypertensiva kommen bei der Schwangerschaftshypertonie Alphamethyldopa, Labetalol und Kalziumantagonisten in Frage. ACE-Hemmer, ARBs, direkte Reninhemmer und Diuretika gehen mit schlechten Outcomes auf den Foetus und das Neugeborene einher.
In einem namhaften Anteil der schwangerschaftsbedingten Hypertonie handelte es sich um eine Präeklampsie. Mit Aspirin lässt sich diese wirksam verhindern (1.6% unter Aspirin vs. 4.3% in der Kontrollgruppe, p < 0.004).

Viele Fragen sind noch unbeantwortet, wie die Referentin feststellte. Dazu gehören die folgenden:

  • Gibt es möglicherweise andere Blutdruckgrenzen bei Männern und Frauen, sollen Alter und Hormone berücksichtigt werden?
  • Warum sind besonders Frauen mit Hypertonie vom Schlaganfall betroffen?
  • Warum sind immer noch nicht genügend Frauen in Hypertoniestudien eingeschlossen und warum werden genderspezifische Aspekte immer noch nicht genügend analysiert?
  • Welches Antihypertensivum ist das «Beste» für die Frau?
  • Sollen Antihypertensiva bei Frauen anders dosiert werden?

Quelle: Zürcher Hypertonietag, Universitätsspital Zürich, 23. Januar 2020.

Prof. em. Dr. Dr. h.c. Walter F. Riesen

riesen@medinfo-verlag.ch

der informierte @rzt

  • Vol. 10
  • Ausgabe 5
  • Mai 2020