- Hormonelle Kopfschmerzen bei Frauen
Frauen sind viel häufiger von Kopfschmerz betroffen als Männer. Eine mögliche Ursache liegt unter anderem in hormonellen Schwankungen, wobei die Ursachen noch nicht endgültig geklärt sind.
Les femmes souffrent beaucoup plus souvent de maux de tête que les hommes. Une des possibles raisons réside dans les fluctuations hormonales, mais les causes ne sont pas encore définitivement établies.
Epidemiologie, Abklärung und Klassifikation der Kopfschmerzen, speziell Migräne
Migräne und Spannungskopfschmerz sind die wichtigsten primären Kopfschmerzen und werden in den ersten beiden Kapiteln der ICHD-3 (International Classification of Headache Disorders, 3rd Edition) erfasst. Weitere primäre Kopfschmerzen umfassen das Kapitel 3 (Clusterkopfschmerz) sowie einige «Raritäten» u.a. primärer Hustenkopfschmerz, Orgasmus- und Präorgasmus-Kopfschmerz.
Die weiteren Kapitel der ICHD-3 klassifizieren sekundäre Kopfschmerzen, die nach Ursachen gegliedert sind, z.B. posttraumatischer Kopfschmerz (Kapitel 5, ICHD), aber auch die menstruelle Migräne bei hormonellen Schwankungen oder Migräne durch orale Kontrazeptiva. Da im Vergleich zum Spannungstyp die Migräne starkes Leiden verursacht, wird im Folgenden hauptsächlich von Migräne gesprochen (Tab. 1: ICHD-Klassifikation der hormonassoziierten Kopfschmerzen). Von Bedeutung ist diese Unterscheidung für die Betroffenen, da Migräne zu 50% gar nicht diagnostiziert und folglich zu 50% unterbehandelt ist – trotz Dr. Google.
Migräne hat eine Lebenszeitinzidenz von ca. 18% bei Frauen und 6% bei Männern, während Spannungskopfschmerzen bei Männern und Frauen gleich häufig auftreten, je nach Untersuchung in 50 bis 90%. Wenn die Migränekriterien nicht wissenschaftlich streng, sondern klinisch etwas abgeschwächt angewendet werden, steigt die Zahl auf 25% der Bevölkerung (Göbel 1995). Clusterkopfschmerzen hingegen werden bei Frauen ca. achtmal seltener angetroffen als bei Männern. Migräne, Spannungstypkopfschmerz und Clusterkopfschmerz spannen sich weitgehend über das reproduktive Alter von Männern und Frauen. Da Kopfschmerztypen nicht während des ganzen Lebens vorhanden sind, kann die jeweilige Prävalenz zu einem Zeitpunkt mit 10% der Gesamtbevölkerung angegeben werden, wenn Betroffene gezählt werden, die im Jahr vor der Befragung mit mindestens einer Migräneattacke konfrontiert worden sind. Diese und ähnliche Daten werden von der WHO systematisch und weltweit – im Rahmen der «Burden-of-disease»-Kampagne – erhoben, u.a. weil die Migräne fast immer das Berufsleben begleitet und so enorm hohe indirekte Kosten für eine Volkswirtschaft verursacht. Für die Schweiz kann aufgrund von Hochrechnungen aus ausländischen Studien von mind. 600 Millionen CHF pro Jahr ausgegangen werden. Davon entfallen ca. 15% auf die Behandlung (Konsultationen, Diagnostik, Medikamente), 35% auf Arbeitsabsenzen und 50% auf Präsentismus, d.h. Einbussen am Arbeitsplatz durch Minderleistungen, Fehler und spätere Kompensationen (engl. «presenteeism»).
Hinweise auf eine Beeinflussung der Migräne durch weibliche Hormone werden aufgrund von vier Beobachtungen vermutet: Erstens steigt die Inzidenz für Migräne bei Frauen nach Beginn der Pubertät stärker an als bei Jungen. Bis zu Beginn der Pubertät sind gemäss einer schwedischen Studie von Bo Bille in den 60er-Jahren Mädchen und Jungen gleich häufig von Migräne betroffen (Bo Bille, 1962). Zweitens steigt die Prävalenz der Migräne im Verlauf des Monatszyklus prä- und perimenstruell stark an. Drittens können durch weibliche Geschlechtshormone Migräneverläufe stark positiv oder negativ beeinflusst werden und viertens hat Schwangerschaft und Stillen einen sehr starken Einfluss auf das Auftreten von Migräneattacken.
Hirnschläge werden im Zusammenhang mit Migräneleiden immer wieder thematisiert. Die «einfache» Migräne ohne Aura ist nicht mit Hirnschlagrisiko assoziert und Migräne mit Aura nur in sehr geringem Masse. Allerdings steigt das thrombotische CVI-Risiko mit Einnahme von oralen Kontrazeptiva an, v.a. wenn dazu noch Zigarettenrauchen kommt. Junge Damen, die eine Migräne mit Aura haben, oral verhüten und Rauchen muss man diesbezüglich warnen und das Rauchen muss sistiert werden.
Abklärung
Durch die hohe Prävalenz und Inzidenz bei Frauen ist die solide Abklärung und Behandlung der Migräne, nebst Reduktion des Leidens, auch mediko-ökonomisch signifikant. Noch immer ist die Migräne in 50% der Fälle nicht diagnostiziert und wird meistens fälschlicherweise als Spannungskopfschmerz bezeichnet, was zur Folge hat, dass migränespezifische Medikamente und Behandlungen nicht angewendet werden. Patienten, Familien und Arbeitsplätze sind so oft unnötigerweise starkem Leiden ausgesetzt.
Die Abklärung erfolgt rein klinisch mittels Gespräch, neurologischem und internistischem Status. Denn auch heute noch gibt es keine Migränemarker wie Laborwerte oder spezifische Bildgebung. Für die diagnostischen Kriterien wird heute weltweit die ICHD-3
(International Classification or Headache Disorders, Tab. 1+2) angewendet. Wie beim DSM werden auf der Webseite der IHS (International Headache Society) Kriterien für über 200 Kopfwehtypen geboten. Da die Migräne auch eine Ausschlussdiagnose darstellt, ist heute eine MRI unerlässlich. Nur so können okkulte und schlummernde Ursache von sekundären Kopfschmerzen nachgewiesen werden.
Eine Subarachnoidalblutung wegen eines verpassten zerebralen Aneurysmas ist in den meisten Fällen eine vermeidbare Katastrophe!
Gedanken zur Pathophysiologie als Grundlage der Behandlung
Die Migräne basiert auf einer genetischen Prädisposition und kann als übertriebene Reaktion auf körpereigene (z.B. Hormonen) oder externe Stressoren betrachtet werden. Eineiige Zwillinge haben eine Konkordanzrate für Migräne von rund 80%, während diese für irgendwelche zwei Menschen ca. 10% beträgt. In Familien von Betroffenen ist die Migräne ebenfalls gehäuft. Durch die höhere Prävalenz unter Frauen nach der Pubertät zeigt sich eine pseudo-maternale Vererbung. Die spektakulären Entdeckungen von Migräne-Genen bleibt für die sehr seltenen Familiären Hemiplegischen Migränen reserviert. Bei der «kommunen» Migräne, mit und ohne Aura, sind wohl stets mehrere Gene gleichzeitig involviert, was deren Erforschung stark erschwert.
Kernstück der Migränepathophysiologie ist das trigemino-vaskuläre System, das ein enges Zusammenspiel von Kerngebieten des Hirnstamms und den Meningen umfasst, in erster Linie mit den meningealen Blutgefässen mit perivaskulären Nerven, die in afferenter und efferenter Beziehung zu Hirnstamm und Hypthalamus stehen. Zahlreiche Neurotransmitter und Neuromodulatoren spielen in den perivaskulären Nerven eine Rolle, mit Serotonin als dem wichtigsten Neurotransmittor und CGRP (Calcitonin Gene Related Peptide) als wichtigstem Neuromodulator. Sieben Serotonin-Agonisten (die Triptane) wurden zum Eckpfeiler der Migräne-Attackenbehandlung, während Antikörper gegen das Neuropeptid CGRP oder dessen Rezeptor im Moment die Migräne-Prophylaxe revolutioniert. Erenumab (Aimovig®, Novartis), Galcanezumab (Emgality®, Lilly) und Fremanezumab (Ajovy®, TEVA) sind monoklonale Antimigräne-Antikörper und müssen von Neurologen verschrieben werden. Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) hat eine ausserordentlich restriktive, komplexe und aufwändige Limitatio gesprochen. So können betroffen Migräniker erst von den Antikörpern profitieren, wenn sie mindestens 8 Migränetage pro Monat (das sind zwei Tage pro Woche!) nachweisen können.
Nebst Serotonin und CGRP spielen Transmitter wie Adrenalin, Noradrenalin, Dopamin, Histamin und andere eine untergeordnete Rolle. Zahlreiche zentralnervöse Ionenkanäle beeinflussen das Migränesystem zusätzlich und werden durch eine breite Palette von Prophylaktika wie Betablockern, Antiepileptika und Antidepressiva moduliert.
Östrogene haben erregende und hemmende Einflüsse auf verschiedene Neurotransmitter wie Serotonin, Dopamin, Glutamat, GABA, Opioide, NO. Östrogenrezeptoren wurden auf vielen zentralen und peripheren Neuronen entdeckt, so auch auf verschiedenen Teilen des trigemino-vaskulären Systems. Östrogene modulieren CGRP-Expression und können die Migräne-Sensitivität verändern. Die Rolle der Gestagene ist weniger klar und untergeordnet.
Weibliche Hormone
Die Exposition auf körpereigene weibliche Hormone gehört zum Leben jeder Frau. Irgendwann im Leben wird fast jede Frau mit der Verabreichung von Östrogenen und Progesteron konfrontiert werden. Im folgenden Kapitel werden Interaktionen von Kopfschmerzen, v.a. Migräne, und «Hormonen» behandelt. Migräneleidende sind generell empfindlich auf Fluktuationen des autonomen Nervensystems, seien diese körpereigen oder von aussen verursacht wie Änderung des Schlafverhaltens, Nahrungseinnahme, insbesondere Alkohol, Stressreaktionen auf berufliche und private Anforderungen, psychologische Belastung durch Arbeit, Familie und Freizeit. Weibliche Hormone modifizieren auf direkte Weise das ZNS, etwa durch Östrogen-Rezeptoren auf gewissen Nervenzellen.
Auf die hormonellen Schwankungen im normalen Monatszyklus reagieren ca. 50% der Migränikerinnen, am besten visualisierbar in einem einfachen kombinierten Kopfschmerz-Menstruations-Kalender (Abb. 1). Dort werden Kopfweh- und Migränetage eingetragen sowie Tage der Menstruation. Etwa die Hälfte der Betroffenen leiden einige Tag vor Einsetzen der Blutung an Migräne, die andere Hälfte zeitgleich mit der Blutung. Nur einige wenige berichten von Migränetagen im Anschluss nach der Blutung oder während der Ovulation.
Behandlung
Attacke
• NSAR
• Triptane
• Antiemetika
Prophylaxe
• Lifestyle (u.a. Entspannungstechniken, Sport)
• Nahrungsergänzungsmittel (Magnesium, Q10,Vitamin B2)
• Neuromodulatoren wie Antieptileptika und Antidepressiva
• Botulinumtoxin perikraniell
• CGRP-Antikörper
Verabreichte Hormonpräparate, meistens als Kontrazeptiva, als Mono- oder Kombinationspräparate, wirken sich uneinheitlich und oft widersprüchlich auf den Verlauf der Migräne aus, denn die Migräne kann durch weibliche Hormone ausgelöst werden oder auch verschwinden. Noch unberechenbarer wird die Klinik, wenn sich die Migräne durch Wechsel von Hormonpräparaten ändert. Oft gehört dazu eine Portion Glück in der Wahl der Präparate, da es keine Prädiktoren für Erfolg oder Misserfolg gibt. Das Kopfwehzentrum Hirslanden pflegt eine langjährige und gegenseitig befruchtende Zusammenarbeit mit der Gynendokrinologie USZ unter der Leitung von Prof. Dr. med. Gabriele Merki-Feld. Mehrere gemeinsame Publikationen zur Umstellung von Kombi-Präparaten auf Gestagene sind aus dieser Zusammenarbeit entstanden.
Schwangerschaft
Wesentlich besser voraussagbar ist der Verlauf einer Migräne in der Schwangerschaft: etwa drei Viertel aller Frauen können sich einer oft absoluten Migränefreiheit erfreuen, die vom dritten Monat bis zur Geburt anhält, oft auch bis zum Abstillen. Im Gegenzug stellen sich gelegentlich Schwangere bei uns vor, die exklusiv während der Schwangerschaft Migräneattacken rapportieren. Die Behandlung einer Migräne in der Schwangerschaft richtet sich in erster Linie nach der Attackenbehandlung. Nebst Paracetamol, gewissen Antiemetika und Ibuprofen können auch Sumatripten (Imigran®) und Naratriptan (Naramig®) angewendet werden. Für beide Substanzen führte der Hersteller Glaxo (Glaxo-Wellcome-Smith-Kline) ein Schwangerschaftsregister, das nach ca. 800 unauffälligen Schwangerschaften unter Sumatriptan und Naramig geschlossen wurde, weil keine teratogene Wirkung entdeckt worden ist. Für viele Migränikerinnen ist es eine wesentliche Erleichterung. Nur schon das Wissen, dass allfällige Migränebehandlungen während der Schwangerschaft zur Verfügung stehen, kann entlastend wirken.
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Vorträge und Advisory Boards für Novartis, Lilly, Almirall, Allergan, X-med, TopPharm, Medical Tribune.
- Migräne kommt bei fast 20% aller Frauen irgendwann im Leben vor und verursacht grosses Leiden und hohe wirtschaftliche Kosten.
- Migräne ist nur in 50% der Fälle diagnostiziert und deshalb auch unterbehandelt.
- Weibliche Hormone beeinflussen die Migräne in mannigfaltiger Weise.
- Die Kombination von Migräne mit Aura, Pille und Rauchen führt zu erhöhtem Hirnschlag- und Thromboserisiko.
- Mit zahlreichen neuen Therapieoptionen können die meisten Patientinnen gut bis zufriedenstellend behandelt werden.
Messages à retenir
- Dans le courant de leur vie, presque 20% des femmes souffrent de migraine ce qui provoque de grandes souffrances et d’importants coûts économiques.
- La migraine n’est diagnostiquée que dans 50% des cas. De ce fait elle est insuffisamment traitée.
- Les hormones féminines influencent la migraine dans de multiples manières.
- La combinaison de migraine avec aura plus pilule contraceptive plus tabagisme augmente le risque d’attaque cérébrale de thrombose.
- Les multiples options thérapeutiques nouvelles permettent d’offrir à la plupart des patientes un traitement bon à satisfaisant.
1. R. Agosti, H.-C. Diener und V. Limmroth (2015): Migräne & Kopfschmerzen. Ein Fachbuch für Hausärzte, Fachärzte, Therapeuten und Betroffene. Karger-Verlag.
2. GS. Merki-Feld, B. Imthurn, B. Seifert, LL. Merki, R. Agosti, AR. Gantenbein (2013): Desogestrel-only contraception may reduce headache frequency and improve quality of life in women suffering from migraine. The European Journal of Contraception and Reproduction Health Care.
3. R. Ornello, M. Canonico, GS. Merki-Feld, T. Kurth, Ø. Lidegaard, EA. MacGregor, C. Lampl, RE. Nappi, P. Martelletti, S. Sacco (2020): Migraine, low-dose combined hormonal contraceptives, and ischemic stroke in young women: a systematic review and suggestions for future research. Expert Review Neurotherapeutics.
4. Bo Bille (1962): Migraine in school children. A study of the incidence and short-term prognosis, and a clinical, psychological and electroencephalographic comparison between children with migraine and matched controls. Acta paediatrica Supplement.
5. Hartmut Göbel (2012): Die Kopfschmerzen. Ursachen, Mechanismen, Diagnostik und Therapie in der Praxis. Springer, 3. Auflage.
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- Vol. 10
- Ausgabe 4
- August 2020