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Interview mit Prof. Dr. med. Jakob R. Passweg, Basel

Schlaglichter vom ASH 2020: Ergebnisse und Forschungsbedarf



Welche Highlights gab es aus Ihrer Sicht am virtuell durchgeführten ASH 2020?

Es ist schwierig, Highlights herauszustreichen, es läuft überall sehr viel, z.B. bei der CLL: Da sind neue Bruton-Kinase-Inhibitoren (Pirtobrutinib) zu nennen, die wirksam sind bei Patienten mit einer Mutation in den CLL-Zellen, welche die Leukämiezellen resistent gegen die herkömmlichen Kinase-Inhibitoren macht. Das ist ein Hoffnungsschimmer für refraktäre Patienten!
Bei den zellulären Therapien wurden CD19-spezifische (chimäre Antigen-Rezeptor-modifizierte) CAR-T-Zellen mit hohen Ansprechraten «in low-grade»-Lymphomen (follikuläre und Marginal Zonen NHL) präsentiert, bestätigt mit anderen CD19-spezifischen CAR-T-Zellen und erweitert mit einer dritten Zellart auf Patienten mit CLL und SLL. CD19 ist auf allen B-Zellen exprimiert, beginnend beim Lymphoblast, und erst bei der Plasmazelle verschwindet die Expression. Interessant ist, dass bei der pädiatrischen akuten lymphatischen Leukämie eine Vorbehandlung mit dem bispezifischen CD19xCD3-Antikörper Blinatumumab vor CAR-T-Therapie mit einem schlechteren EFS assoziiert ist. Die Unterschiede sind aber gering. In den frühen Studien mit CD19 CAR-T-Zellen waren andere auf CD19 zielende Therapien verboten.
Interessante Daten gibt es auch zu bispezifischen Antikörpern bei B-Zell-Lymphomen (DLBCL und follikulären NHL) mit CD20 – CD3 bindenden Antikörpern: Daten zu mindestens 4 Neuentwicklungen wurden präsentiert. Ob die Zukunft den zellulären Therapien, bispezifischen Antikörpern oder konjungierten Antikörpern gehört, kann nicht gesagt werden, interessante Entwicklungen sind sie alle. Ähnliches gilt für das Plasmazellmyelom, wo konjugierte Antikörper (BCMA-spezifisch, konjugiert mit einer zytotoxischen Substanz (Balantamab-Mafadotin) in Konkurrenz (aber nicht im direkten Vergleich) mit bispezifischen Antikörpern und zahlreichen zellulären Therapien sind. Bei den zellulären Therapien fürs Plasmazellmyelom ist mir eine Arbeit ins Auge gestochen: allogene, d.h. von Spendern stammende CAR-T-Zellen wurden gleichzeitig so manipuliert, dass sie das Antigen CD52 nicht richtig exprimieren und auch keinen normalen T-Zell-Rezeptor haben. Dies verhindert einerseits die Graft-versus-Host-Erkrankung und erlaubt andererseits die Lymphodepletion mit einem monoklonalen Anti-CD52-Antikörper (Campath) und könnte zu einer zellulären Therapie führen, die nicht für jeden Patienten individuell hergestellt werden muss. Alle diese Entwicklungen werden die immunotherapeutischen Optionen der B-Zell-Neoplasien (das Plasmazellmyelom darf hier dazugezählt werden) massiv steigern.

Welche Resultate haben Sie überrascht? Positiv und negativ?

Manchmal sind einfache Studien bestechend und geben gute Antworten. Zu diesen gehört die Flight-Studie: Immunthrombozytopenie (ITP)-Erstlinienbehandlung mit Kortikosteroiden oder Kortikosteroide + Mycophenolat; mit der Kombination traten weniger Behandlungsversagen auf. Ob die Krankheit langfristig besser unter Kontrolle bleibt, ist abzuwarten. Ebenso gehört die A-Treat dazu, eine grosse randomisierte Studie bei Patienten mit therapieinduzierter Thrombozytopenie. Sie beantwortet die Frage, ob Tranexamsäure (ein Fibrinolysehemmer) die Blutungsneigung senkt oder nicht: Sie senkt sie nicht! Frage beantwortet!
Bei stammzelltransplantierten Patienten ist das Leiden an chronischer Abstossung, die chronische Graft-versus-Host-Krankheit, ein grosses Problem. In der Reach3-Studie erhöht Ruxolitinib 10mg bid das Ansprechen von 26% auf 50% im Vergleich zur besten verfügbaren Therapie. Zu diskutieren ist dabei folgendes: Vergleiche einer neuen Therapie mit bester verfügbarer Therapie sind an sich stimmig, wenn es keinen Behandlungsstandard gibt, Zweifel sät die Tatsache, dass der Vergleichsarm kunterbunt daherkommt.
Bei der akuten myeloischen Leukämie (AML) ist Flotetuzumab, ein CD123xCD3 bispezifischer monoklonaler Antikörper, zu erwähnen. Frühe Phase-I-Daten wurden präsentiert. interessant daran ist, dass bispezifische Antikörper sich bei der ALL etabliert haben und nun möglicherweise bei weiteren, nicht nur lymphatischen Malignomen, zum Einsatz kommen. Magrolimab ist eine Neuentwicklung, ein Makrophagen-Immune-Checkpoint-Hemmer, der CD47 blockiert, ein «friss mich nicht»-Signal in AML, aber auch anderen Malignomen exprimiert. Hier ist er in Kombination mit Azacytidine in einer Phase-I-Studie wirksam auch bei AML mit einer p53-Mutation; als Nebenwirkung tritt Hämolyse auf, weil alternde Erythrozyten CD47 exprimieren. Das neue Konzept des Makrophagen-Immune-Checkpoint-Hemmers ist eine «affaire à suivre».
Bei der chronischen myeloischen Leukämie (CML) ist die Revolution der Tyrosinkinase-Hemmer 20 Jahre alt, Asciminib ist nun kein klassischer Tyrosinkinase-Hemmer (TKI), der die ATP-bindende Tasche von ABL1 hemmt, sondern bindet an die Myristoyl-Tasche im ABL1 und hat somit einen etwas anderen Wirkmechanismus. In einer Studie mit Patienten, die auf 2 klassische TKI nicht angesprochen hatten oder diese nicht vertragen konnten, wurde Asciminib mit Bosutinib, einem TKI der 3. Generation verglichen, MMR (majore molekulare Remission) häufiger mit Asciminib (25.5% vs 13.2%) nach 24 Wochen. Novität, insgesamt gibt es da noch Luft nach oben.
Für Ropeginterferon bei Polycythaemia vera gilt: besseres Ansprechen und vor allem molekulares Ansprechen, im Vergleich zu herkömmlicher Therapie; weniger Transformation, führt zur Zulassung in der Schweiz. Die Interferone sind bei den Myeloproliferativen Neoplasien schon lange im Einsatz als Off-Label-Anwendungen, nichts ist zugelassen, insofern ist ein Fortschritt zu verzeichnen.
Auf der weniger positiven Seite ist zu erwähnen, dass für viele Studien Langzeit-Follow-up-Daten gezeigt werden, sei es die Kombination von BCL2-Inhibitoren und monoklonalen Antikörpern gegenüber anderen Therapien bei der CLL oder orale hypomethylierende Substanzen in der Erhaltungstherapie bei der AML. Obwohl diese «Verwurstung» von randomisierten Studien legitim ist, beschleicht den Beobachter der Langzeitresultate und Subgruppenanalysen das Gefühl, dass vieles davon industriegetrieben ist, Timing und Auswahl darauf angelegt sind, sich maximaler Aufmerksamkeit zu vergewissern. Manchmal ist es aber trotzdem erquicklich, Langzeitresultate zu sehen, z.B. in der Murano-Studie bei Patienten mit rezidivierter/refraktärer chronischer lymphatischer Leukämie: Venetoclax + Rituximab ist nach 5 Jahren mit einem um 20% besseren Gesamtüberleben assoziiert im Vergleich zu Bendamustin + Rituximab (eine Kombination, die heute nicht zur Standardzweitlinientherapie gehört). Gesamtüberlebensdaten sind bekanntlich bei Krankheiten mit einem rezidivierenden Verlauf, d.h. in praktisch allen chronischen Neoplasien selten, aber besonders wichtig. Ebenfalls negativ fällt auf, dass viele Studien so angelegt sind, dem Beobachter das zu zeigen, was er schon ahnt; neue Bruton-Kinase-Inhibitoren bei der CLL sollten mit etablierten Bruton-Kinase-Inhibitoren verglichen werden und nicht mit den «Standard»-Substanzen, die bereits im Vergleich mit der ersten Generation dieser Inhibitoren unterlegen waren.

Welche Erkenntnisse haben für Ihre tägliche Arbeit die grösste Bedeutung?

Wir sollen uns in der täglichen Arbeit an die Standards halten. Obwohl viele Studien mit dem Satz «This establishes an new standard» enden, ist es eben nicht so. Standards werden am besten von Fachgesellschaften definiert.

In welchen Bereichen sehen Sie noch die grössten Lücken, grösseren Forschungsbedarf?

Überall besteht Forschungsbedarf, der jungen Generation darf man ja folgendes mitgeben: Kein einziges Problem in der Hämatologie ist gelöst. Euch bleibt ausreichend zu tun!

Haben Sie noch einen anderen bemerkenswerten Punkt aus Ihrer persönlichen Sicht?

Beim ASH ist sicher gut, dass Krankheiten wie die Sichelzellanämie und die Thalassämien mehr in den Fokus rücken. Sie sind eine Plage für die Menschheit, Unterversorgung besteht allenthalben, die Fortschritte sind mässig, aber es sind halt nicht die Krankheiten der reichen weissen Männer, dafür die der Menschen in der restlichen Welt.

Wie beurteilen Sie die virtuelle Form der Kongressbeiträge, jetzt und für die Zukunft?

Eine hochinteressante Frage! Virtuelle Kongresse haben den Vorteil, wenig Störungen, keine langen Reisen, keinen Flug an die Westküste mit 9h Zeitverschiebung und Einschlafen während den Vorträgen zu haben und bieten die Möglichkeit, die Beiträge geordneter zu sehen. Bei den grossen Kongressen kann man sowieso nur einen Bruchteil des Programms mitbekommen. Andererseits fehlt der Austausch mit Kollegen, das Soziale, das ja in Arbeitsgruppen sehr wichtig, aber auch persönlich bereichernd ist. Ich habe auf Kongressen viele interessante Leute kennengelernt und auch Inspirationen erhalten. Das Twittern und die virtuellen Discussion Rooms können diese Begegnungen nicht ersetzen. Wie geht es nach der Pandemie weiter? Meiner Meinung nach wird es nicht mehr so sein wie vorher, Einrichtungen wie Zoom bringen zu viele Vorteile. Möglicherweise wird es ein sinnvolles Alternieren von realen und virtuellen Kongressen geben können.

Haben Sie weitere Bemerkungen zu berichten?

Genug geschwatzt!

Prof. em. Dr. med.Thomas Cerny

Rosengartenstrasse 1d
9000 St. Gallen

thomas.cerny@kssg.ch

info@onco-suisse

  • Vol. 11
  • Ausgabe 2
  • April 2021