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Interview mit Dr. Rolf Marti, Leiter Forschung, Innovation & Entwicklung der Krebsliga Schweiz (KLS) und Geschäftsführer der Stiftung Krebsforschung Schweiz (KFS)

Aktiv am Puls der Forschung

Im Gespräch mit Prof. Thomas Cerny erzählt Dr. Rolf Marti, der nach 18 Jahren Forschungsförderung für KLS/KFS kurz vor der Stabsübergabe steht, von Forschungsförderung, Förderpolitik und kreativen Köpfen.



Zur Person
Dr. rer. nat. Rolf Marti führt bei der Krebsliga Schweiz (KLS) als Mitglied der Geschäftsleitung den Bereich Forschung, Innovation & Entwicklung und leitet die Geschäftsstelle der Stiftung Krebsforschung Schweiz (KFS). Nach einem Studium in Naturwissenschaften an der ETH Zürich und anschliessender Promotion absolvierte er in Melbourne ein Post-Doc-Studium in einem molekularbiologischen Forschungsgebiet. Zurück in der Schweiz war er zunächst bei Technology Assessment des Schweizerischen Wissenschaftsrats tätig, später bei der Akademie für Naturwissenschaften für den Bereich «Life Sciences» zuständig. Seit 2003 engagiert er sich im Rahmen seiner Tätigkeit für KLS/KFS für die Förderung der Krebsforschung. Dr. Rolf Marti tritt Ende Mai mit 64 Jahren in den Ruhestand.

Worin besteht Ihre Tätigkeit bei der KLS/KFS?

Die Hauptaufgabe ist klar die Forschungsförderung, d.h. gemeinsam mit einer hochkarätig besetzten und gut funktionierenden Wissenschaftlichen Kommission (WiKo) in einem internationalen Reviewprozess die vielversprechendsten Forschungsprojekte zu prüfen und ggf. zu fördern. Als Leiter des FIEs leite ich auch die Geschäftsstelle der Stiftung Krebsforschung Schweiz (KFS). Daneben wurde ich beauftragt, diverse Innovationsprojekte aufzubauen: ein Qualitätslabel für Brustzentren, das inzwischen schweizweit gut etabliert ist; ein Expertengremium für Früherkennung sowie eine Fachstelle für Fragen um Medikamentenpreise und Off-Label-Use. Zudem unterstützt meine Abteilung die Mitarbeitenden der KLS bei wissenschaftlich-epidemiologischen Fragen. Selbstverständlich mache ich das nicht alleine, sondern werde dabei von einem Team aus hervorragenden MitarbeiterInnen unterstützt. Auch arbeiten wir eng mit externen Gremien und FachexpertInnen zusammen.

Können Sie sich noch erinnern, was Ihre Motivation und Ihre Vorstellung der neuen Tätigkeit war, als Sie zur KLS/KFS gekommen waren?

Ja, sehr gut. Websites und Suchmaschinen befanden sich damals in den Kinderschuhen. Mein Bild von KLS und KFS war vorwiegend von den Spendenbriefen geprägt. Bei den Bewerbungsgesprächen merkte ich sehr schnell, dass der Fokus des damaligen Präsidenten klar auf der Forschung lag, der Geschäftsführer ihn eher auf Präventions- und Betreuungsthemen legte. Die Idee, diese Bereiche stärker zu verbinden und einander näher zu bringen sowie die in Aussicht gestellte Möglichkeit, entsprechende Akzente zu setzen, waren sehr motivierend.

Was waren damals Ihre Prioritäten?

Die eigentliche Forschungsförderung lief dank einer sehr gut funktionierenden WiKo und klaren Prozessen bereits gut. Den Mitgliedern der WiKo und insbesondere dem Präsidenten ein gutes Back-Office zu garantieren, war zentral. Innerhalb der Krebsliga habe ich damals sanft, aber dezidiert Impulse für fakten- und evidenzbasiertes Handeln und Kommunizieren geben können. Denn auch Präventionsaktivitäten, Betreuungsangebote und politische Stellungnahmen müssen auf wissenschaftlichen Erkenntnissen basieren. In Broschüren wurden damals zum Teil andere Zahlen zur Krebsprävalenz publiziert als etwa in Stellungnahmen des Geschäftsführers. Da konnte ich mit einer gewissen Beharrlichkeit Ordnung und Konsistenz ins System bringen.

Welche Verantwortung, welche Freiheiten hatten Sie in Ihrer Funktion in der KLS/KFS?

Ich fokussiere hier auf die Forschungsförderung. Die KFS konnte all die Jahre ein stetiges Wachstum der zur Verfügung stehenden Mittel verzeichnen. Heute stehen jährlich über 20 Mio. CHF für die Unterstützung der Krebsforschung zur Verfügung, rund sieben Mal mehr als vor 30 Jahren, als die KFS gegründet wurde. So waren wir in der Lage, für Bereiche Impulse zu setzen, in denen in der Schweiz wenig krebsrelevante Forschung betrieben wurde. So entwickelten wir z.B. in den Nullerjahren ein Förderprogramm für den Nachwuchs in der Psychoonkologie. Und kurz darauf ein Programm zur Verbesserung der Zusammenarbeit der Grundlagen- mit der Klinischen Forschung, der sogenannten translationalen Forschung.

Wie haben Sie die Krebsforschung in der Schweiz damals wahrgenommen, und wie sehen Sie diese heute?

Vor rund 20 Jahren waren die Forschungsdomänen klar abgegrenzt: hier die Grundlagenforschung in den Labors, meist von NaturwissenschafterInnen betrieben; da die klinische Forschung, meist an Universitätsspitälern von Medizinern durchgeführt. Heute ist man näher zusammengerückt, und das ist gut so. Grundlagenforscher arbeiten intensiver mit Klinikerinnen und Klinikern zusammen; Fragestellungen und Probleme werden in grösseren, meist internationalen Teams angegangen. So wie die Behandlungsstrategie eines Krebspatienten in einem Tumorboard besprochen und erarbeitet wird, werden heute auch Forschungsfragen in geeigneten Teams bearbeitet. Der Wissenszuwachs geht so rasant vonstatten, dass das Nutzen des sogenannten «Crowd Knowledge» zwingend erforderlich ist.

Die Wissenschaftliche Kommission (WiKo) der KLS/KFS ist das zentrale Organ zur Beurteilung der vielen Forschungsgesuche. Können Sie etwas zur Arbeitsweise der WiKo sagen?

Die WiKo ist als Gremium tatsächlich das Herz unserer Forschungsförderung. Aufgrund der Zunahme der zu beurteilenden Gesuche ist es inzwischen auf 19 Forscherinnen und Forscher angewachsen. Vertreten sind alle Forschungsbereiche. Wichtig ist, dass die Forschenden einen ausgezeichneten Leistungsausweis und eine entsprechende Reputation bei ihren Peers mitbringen.
Der Beurteilungsprozess ist streng geregelt. Das garantiert auch in einem kleinen Land wie der Schweiz eine gute Unabhängigkeit und langfristig die Glaubwürdigkeit der Forschungsförderungsinstitution.
Wir erhalten rund 200 Projektanträge und Stipendiengesuche pro Jahr. Jedes Gesuch wird zwei Mitgliedern der WiKo zugeteilt. Diese schlagen dann jeweils externe, internationale Experten vor, von denen wir Beurteilungen einholen. Die WiKo bespricht daraufhin an ganztägigen Meetings die Projektanträge unter Berücksichtigung der externen Kommentare und erstellt eine «Rangliste». Diese enthält auch die Gesuche, die zur Ablehnung empfohlen werden. Die Rangliste mit den sorgfältig protokollierten Begründungen wird dem Stiftungsrat der KFS oder dem Vorstand der KLS unterbreitet. Diese Gremien entscheiden gemäss den zur Verfügung stehenden Mitteln und zuvor definierten Vorgaben über die Finanzierung der Projekte, meist entlang des «Rankings». Es dürfen jedoch keine Projekte unterstützt werden, die von der WiKo zur Ablehnung empfohlen wurden.

Was sind Ihre aktuellen Herausforderungen und Erfolge?

Der möglicherweise grösste Erfolg meiner Zeit als Forschungsförderungsverantwortlicher war die 2013 durchgeführte Evaluation der Forschungsförderung. Externe, vor allem ausländische Experten haben unsere Arbeit damals unter die Lupe genommen und auf Herz und Nieren geprüft. Sie führten Interviews mit Forschenden, darunter solche, deren Gesuche bewilligt wurden, aber auch solche, deren Anträge abgelehnt wurden. Auch wurde eine umfassende bibliometrische Analyse der Publikationen der von uns geförderten Projekte durchgeführt. In solchen Situationen ist man ja zunächst etwas nervös, da unklar ist, wie man im Benchmark abschneidet. Und siehe da: Der Vergleich mit ähnlich gelagerten Förderinstitutionen aus England, Holland und unseren Nachbarländern zeigte, dass die Forschungsförderung von KFS/KLS pro investierten Franken den höchsten Impact Factor an Publikationen verzeichnete! Auch die Rückmeldungen der Forschenden selbst war durchaus positiv: Sehr geschätzt wird etwa, dass wir ihnen die Beurteilungen (Reviews) ihrer Gesuche jeweils zur Verfügung stellen, womit die Entscheide für sie nachvollziehbar werden und einen wichtigen Beitrag zur Optimierung eines Projekts beitragen können.

Welche Stellung geben Sie der Krebsforschung der KFS/KLS in der Schweiz zum Beispiel auch im Vergleich zum Nationalfonds und zu Stiftungen?

Soviel steht fest: Die KFS ist mit Blick auf die investierten Mittel die gewichtigste Förderinstitution der Krebsforschung in der Schweiz, die rein spendenfinanziert ist. Von Leitendenden der ETHs und Universitäten wird unserem Evaluationssystem ein ebenso gutes Zeugnis ausgestellt wie dem Nationalfonds. Wir fokussieren in der Förderung auf die freie Projektforschung, d.h. wir geben bewusst keine Themen und Forschungsbereiche vor. Die Geschichte hat gezeigt, dass die besten Ideen von den Forschenden selbst kommen. So fördern wir Innovation und haben damit manchem Forschenden eine Karriere ermöglicht.
Ein besonderes Augenmerk gilt der patientennahen Forschung. Da wir keine kommerziellen Interessen verfolgen, können wir u.a. Projekte unterstützen, die eine bessere Behandlung von seltenen Krebsarten zum Ziel haben oder Forschung an Medikamenten unterstützen, deren Patente abgelaufen sind und die für die pharmazeutische Industrie nicht mehr interessant sind. Wir sind eine ideale Ergänzung zu der vom Nationalfonds unterstützten Forschung und ein wichtiger sowie einflussreicher Akteur für den Forschungsplatz Schweiz.

Wo sehen Sie den grössten Handlungsbedarf in der aktuellen Situation der Krebsforschung?

Inzwischen weiss man bestens, dass eine Krebserkrankung nicht organspezifisch ist. DEN Brustkrebs oder DEN Darmkrebs gibt es nicht. Heute sind weit über 200 Krebsarten charakterisiert. Die molekulare Differenzierung der Tumore hat gezeigt, dass bestimmte Medikamente nur dort wirken, wo auch die entsprechende Mutation vorhanden ist. Diese zunehmende Differenzierung aufgrund von molekularen Biomarkern bedeutet, dass die Behandlungen immer spezifischer und personalisierter werden. Entsprechend können nicht für jeden Subtyp eigene grosse Zulassungsstudien durchgeführt werden. Diese sind zu teuer, und bis robuste Resultate vorliegen, dauert es zu lange. Der sogenannte Nachweis der «klassischen Evidenz» kann nicht mehr mit dem Wissenszuwachs Schritt halten. Deshalb muss neu erworbenes Wissen so schnell wie möglich in Behandlungsleitlinien einfliessen. Eine Folge davon ist, dass aufgrund von biologischer Evidenz die bestmögliche Behandlung im Off-Label-Bereich verschrieben wird, was wiederum Unklarheiten mit der Finanzierung der Behandlung auslöst. Diese Situation ist erfreulich und problematisch zugleich, Lösungen sind hier gefragt.

Wo, denken Sie, haben Sie die wichtigsten Akzente setzen können?

Da ist zum einen die Professionalisierung des Evaluationsprozesses, wo die Digitalisierung doch vieles erleichtert hat. Vor 20 Jahren kamen die WiKo-Mitglieder mit einem Rollkoffer voll ausgedruckter Studien angereist, heute läuft das dank dem Grant Application System «paperless». Die Covid-19-Pandemie hat uns gezeigt, dass wir unsere Meetings auch online bestens halten können.
Gute Leute in die WiKo zu berufen, war sicher auch ein wichtiger Teil des Erfolgs. Es müssen nicht nur Wissenschaftler mit einem ausgezeichneten Leistungsausweis sein, sie sollten auch eine gewisse Sozialkompetenz aufweisen. Und die korreliert nicht zwingend mit der Länge der Publikationsliste.

Sie waren ja auch politisch aktiv, was konnten Sie in dieser Hinsicht für KFS und KLS bewirken?

Genau, ich war tatsächlich über 10 Jahre im Parlament der zehntgrössten Schweizer Stadt, in Thun, aktiv. Und auch während meiner Tätigkeit im Wissenschaftsrat erhielt ich wichtige Einblicke in die Erarbeitung von Gesetzen. Diese Erfahrungen kamen mir in den NGO KLS und KFS sehr zugute.
Von Beginn an durfte ich an der Nationalen Strategie gegen Krebs (NSK) mitwirken, die wir im Auftrag von Bund und Kantonen gemeinsam mit anderen Krebsorganisationen vorantrieben. Auf Gesetzesebene war da bestimmt die Realisierung des Nationalen Krebsregistrierungsgesetzes eine grosse Errungenschaft. Doch gab es nicht nur Erfolge zu feiern: Die knappe Ablehnung des Präventionsgesetzes war eine herbe Enttäuschung.
Mein befriedigendster politischer Erfolg aber war, dass wir – gemeinsam mit einem Präsidenten und guten Kommunikationsfachleuten – das Thema der aus Patientensicht überhöhten Krebsmedikamentenpreise und die Problematik des Off-Label-Use auf die mediale und politische Agenda zu setzen vermochten – und hier noch heute eine Leitfunktion einnehmen.

Wo sehen Sie die grössten Herausforderungen, wenn die Corona-Pandemie überwunden sein wird?

Dank besserer Behandlung und Früherkennung (über)leben immer mehr Krebsbetroffene ihre Krebserkrankung. Das ist sehr erfreulich und ermutigend. Doch diese immer grösser werdende Gruppe von sogenannten «Cancer Survivors» hat mit Spätfolgen der Krebserkrankung und Therapie zu kämpfen: Reintegration in die Arbeitswelt, Fatigue, Beziehungsprobleme aufgrund des veränderten Körperbildes, Sexualität. In der Nachsorge von Krebsbetroffenen und ihren Angehörigen sehe ich einen grossen Handlungsbedarf. Eine Herausforderung für unser Gesundheitssystem, die Krebsliga und ihre Angebote. Hier ist heute gezielte Versorgungsforschung gefragt, die in der Schweiz aber noch in den Kinderschuhen steckt. KLS und KFS könnten hier mit ihrer Forschungsförderungspolitik weiterhin wichtige Akzente setzen.
Weiter sollten wir im Auge behalten, dass alle Krebsbetroffenen Zugang zur bestmöglich verfügbaren und bezahlbaren Behandlung haben müssen, unabhängig von Herkunft, sozialem Status oder Portemonnaie. Wobei ich mit dem Wort Behandlung an «Care» denke, nicht nur an «Cure»; d.h., auch Zugang zu idealen Nachsorgeleistungen.

Werden Sie nach Ihrer Pensionierung der Krebsforschung oder dem Thema Krebs noch mit einer weiteren Tätigkeit verbunden bleiben?

Das ist momentan noch nicht klar, und ich möchte das auch offenhalten. Natürlich bleibe ich der Krebsliga und der Krebsforschung Schweiz weiterhin sehr stark verbunden; ich durfte für diese Organisationen im Lauf der Jahre doch so einiges mitgestalten.
Was ich während meiner Tätigkeit bei der KLS/KFS neu entdeckt habe, ist mein Talent fürs Fundraising. Ich könnte mir vorstellen, Stiftungen oder Private, welche die Krebsforschung unterstützen möchten, bei der Projektauswahl zu beraten und dabei von meinem grossen Netzwerk profitieren zu lassen.
Sehr froh bin ich, dass ich die Verantwortung für die Forschungsförderung bei Dr. Peggy Janich in guten Händen weiss. Sie konnte in den vergangenen Jahren in diesen verantwortungsvollen Job hineinwachsen und bereits ihre Akzente setzen.

Prof. em. Dr. med.Thomas Cerny

Rosengartenstrasse 1d
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  • Vol. 11
  • Ausgabe 2
  • April 2021