Wandertipp

Varner Alp

Im Banne eines rätselhaften Bergsturzgebietes



Die nachfolgende Wanderung liegt in einem prähistorischen Bergsturzgebiet, das der Wissenschaft nach wie vor viele Rätsel aufgibt. So fällt beispielsweise die Datierung kontrovers aus: erfolgte der Bergsturz vor 18 000 bis 13 000 Jahren vor unserer Zeitrechnung, also zu einer Zeit, als der Rhone-Gletscher noch das Tal bedeckte, oder erst vor rund 8000 Jahren, nach Rückzug des Eises? Zudem bleibt unklar, ob es sich um ein oder zwei Bergsturzereignisse handelt. Betrachtet man die Geländetopographie auf dem Blatt 1287 der Landeskarte 1:25 000 oder von der gegenüberliegenden Talseite aus, z.B. vom Illhorn, so glaubt man tatsächlich zwei unterschiedlich orientierte und strukturierte Anriss- und Rutschgebiete zu erkennen: eine grössere östliche, nach Süden orientierte Zone am Fusse der Varneralp mit dem glatten, nur spärlich bewachsenen Gleithorizont, der den Namen Blatte trägt, und eine westliche, nach Südwesten orientierte Zone unterhalb des Murmilitangil, die möglicherweise später zu Tal fuhr und deshalb von den bereits im Tal liegenden Gesteins- und Schuttmassen gebremst wurde, was die bucklige Topographie in diesem Bereich erklären könnte. Wie auch immer, ungeklärt bleibt auch die Tatsache, dass der Geschiebestrom erst bei Grône, also gut 12 Kilometer von der Abrissstelle entfernt zum Stillstand kam. Dies ist an der hügeligen Struktur im Talboden zu erkennen, die heute den westlichen Teil des Pfynwaldes und die Region von Sierre formt. Wie ist dies möglich, wenn nicht der Rhone-Gletscher die Schuttmassen weiter nach Westen transportiert hätte? Einig ist man sich dagegen über die Ursache des Bergsturzes. Durch den allmählichen Rückzug des Rhone-Gletschers am Ende der letzten Eiszeit blieb an seinem Fuss ein instabiler Hang zurück, dessen Abrutschen durch die gleichmässig abfallenden Kalksteinschichten begünstigt wurde. Da das Rhonetal in einer geologischen Störzone liegt, ist auch denkbar, dass ein Erdbeben das Abreissen der Gesteinsmassen ausgelöst hat (Quelle: Flüeler E: Berge entstehen – Berge vergehen. Wanderungen zu Bergstürzen entlang der Alpen. Hep Verlag, Bern 2011).
Hiermit haben wir genug Stoff zum Beobachten und Nachdenken während unseres Aufstiegs durch das Rutschgebiet zur Varneralp. Wir starten am oberen Ende der Maiensiedlung Cordona und folgen dem schmalen Weg gegen Osten in Richtung des Flottuwaldes. Wir bewegen uns hier im Bereich der Sprachgrenze, sodass uns abwechslungsweise französische und deutsche Flurnamen begegnen. Der Waldwuchs ist vorerst noch spärlich. Wir begegnen zur Hauptsache Waldföhren, die den gegebenen Bedingungen mit geringer Humusdecke sowie wenig Niederschlag und hohen Temperaturen bestens angepasst sind. In höheren Lagen wird der Waldwuchs dichter und vielfältiger, weil hier eine mächtigere Schicht von mineralienreichem Bergsturzmaterial liegen geblieben ist.


Der Pfad quert zweimal ein Fahrsträsschen, dem wir noch mehrmals begegnen werden. Auf 1520 Metern Höhe stossen wir auf den Pfad, der von der Varneralp nach Varen hinunterführt. Wir folgen diesem bergwärts in nordwestlicher Richtung bis zur Lichtung Couvinir, wo der Weg gegen Nordosten abbiegt (Abb. 1). Nach Verlassen des Waldes erkennen wir oberhalb der zweiten Hütte einen Pfad, der gegen Südosten in die Abrisszone des Bergsturzes am Rand der Varneralp hineinführt. Zwischen riesigen Blöcken hindurch erreichen wir die Alpwiesen bei Planitschal, von wo aus wir das nahe Ziel, die langgezogene Alphütte von Planigrächti sehen können. Einer der Blöcke hat die Form einer Mitra, weshalb er im Volksmund auch «Bischofschappe» genannt wird (Abb. 2). In Planigrächti geniessen wir eine herrliche Walliser Platte, während draussen ein heftiger Platzregen vorbeizieht. Dieses Jahr werden 200 Stück Vieh zur Muttertierhaltung, sieben Milchkühe für die Käseherstellung und fünf Pferde auf der Alp gesömmert. Bei der Besprechung des Rückweges mit den Alpleuten wird deutlich zwischen dies- und jenseits der «Grenze» unterschieden, also zwischen welsch und deutsch. Und noch eine Grenze ist nicht in Vergessenheit geraten: das schlechte Wetter kommt immer nur von der Berner Seite.


Auf dem Rückweg wenden wir uns vorerst gegen Westen bis zur Alphütte von Nüschelet, wo wir zum Aufstiegsweg zurückkehren (Abb. 3). Diesem folgen wir bis zur dritten Querung des Fahrsträsschens. Auf diesem erreichen wir talwärts nach rund hundert Metern in der ersten Geländeeinziehung eine undeutliche Pfadspur, die uns zu einer langgezogenen Lichtung hinunterführt, an deren Ende wir einen breiten Waldweg finden, der uns direkt nach Cordona zurückbringt (Abb. 4).

Prof. Dr. med. dent. Christian E. Besimo

Riedstrasse 9
6430 Schwyz

christian.besimo@bluewin.ch

der informierte @rzt

  • Vol. 11
  • Ausgabe 6
  • Juni 2021