- Hoch über dem Illgraben
In St. Luc im Val d’Anniviers bieten sich zwei Doppelbesteigungen an einem Tag an, nämlich das Rothorn und die Bella Tola sowie das zum Rothorn unmittelbar nördlich benachbarte Schwarz- und Illhorn. Wir entscheiden uns diesmal für die letzteren beiden. Dabei verkürzen wir des unsteten Wetters wegen unseren Aufstieg, indem wir den vor Chandolin gelegenen Sessellift nach Tsapé hinauf benutzen.
Die Bergbauern von Chandolin, dem höchst gelegenen Walliser Dorf, betrieben früher eine Mehrstufenwirtschaft, Transhumanz genannt, wie sie auch in anderen Bergregionen der Alpen vorkam. Die hohe Lage des Dorfes führte jedoch dazu, dass sich die alljährliche Wanderung von Stufe zu Stufe in zwei Richtungen bewegen musste. Die Maiensässe und die Rebberge lagen talwärts, die Alpen bergwärts, eine spezielle Herausforderung, die vieler helfender Hände und somit kinderreicher Familien bedurfte.
Von Tsapé aus richten wir uns gegen Osten zum Illpass, von wo aus wir immer noch in östlicher Richtung über einen Moränenrücken den Lac Noir erreichen (Abb. 1). Der Aufstieg zum Schwarzhorn führt auf den ersten Metern entlang des Ostgrates, bevor er sich in einer weit ausholenden Kehre gegen Südosten den Südwesthang des Berges querend zum Gipfel wendet. Dort würde sich der Blick über das Rhonetal und die im Norden gelegenen Gebirgszüge öffnen, doch leider verwehren uns Nebel und Nieselregen diese Aussicht.
Auf dem Rückweg zum Illpass lassen wir uns aber trotzdem das Bad im sommerwarmen Lac Noir nicht nehmen, bevor wir den Verbindungrat zum Illhorn hinüber überschreiten. Der kleine Felszacken mit Kreuz wird gegen Westen umgangen und bei der kleinen Hütte kurz vor dem Abstieg zum Pas de l’Illsee lädt bei schönem Wetter ein Tisch mit Bänken zu beschaulicher Rast ein. Auch der Aufstieg zum Illhorn weiter gegen Norden ist kurz (Abb. 2). Der Tiefblick in den Illgraben ist atemberaubend. Dieser nährte über Jahrtausende den ausgedehnten Schuttkegel, auf dem heute der Pfynwald sowie das Dorf Susten liegen. Die Rhone wurde an den Nordrand des Tales gedrängt. Weit reicht die Aussicht gegen Westen über das Rhonetal. Interessant ist auch der Blick gegen Norden hinüber zur sogenannten Blatte oberhalb von Salgesch. Dieser Hang bildete in prähistorischer Zeit die Gleitfläche für einen riesigen Bergsturz, der die Hügel zwischen Sierre / Siders und Pfyn zurückgelassen hat. In diesem Hang mit seinem lockeren Bewuchs von Waldföhren im oberen und Flaumeichen im unteren Teil fallen zwei praktisch horizontal verlaufende Linien mit dichterem Baumbestand auf. Diese markieren den Verlauf der Grossi Wasserleitu von Varen und der tiefer gelegenen Suone von Salgesch, die beide aus der Raspille gespiesen werden. Die Raspille erhält ihr Wasser aus den von den Faverges und dem Trubelstock herunterziehenden Zuflüssen. Das wertvolle Wasser dient noch heute der Bewässerung der Rebberge und Felder von Salgesch und Varen.
Wir kehren zum Pas de l’Illsee zurück und steigen gegen Westen zur Cabane Illhorn ab, die am oberen Rand des Arvenwaldes von Chandolin liegt (Abb. 3). Hier geniesst man eine köstliche Küche. Der neue Anbau aus Holz bietet Übernachtungsmöglichkeit in sauberen Sechsbettzimmern und im Winter direkten Zugang zu den Skipisten.
Auf dem letzten Wegabschnitt queren wir gegen Südosten zum langen Stall von Plan Losier und weiter, allmählich gegen Süden drehend, auf einem schmalen Pfad unter dem Sessellift hindurch bis zum Geländepunkt 2076 Meter hinunter. Hier biegen wir gegen Norden auf den Weg nach Chandolin ab. Gleich nach erneuter Unterschreitung des Sesselliftes führt eine Wegspur zur Talstation hinunter (Abb. 4). Im Bereich dieses unteren Randes der Alpage de Chandolin stossen wir auf zahlreiche Spuren von alten Wasserleiten, auf Französisch Bisses genannt, die die Wiesen und Felder von Chandolin bewässert haben. Vor Erreichen des Weges nach Chandolin finden sich sogar noch ein paar ineinandergefügte Holzkennel. Die Fugen zwischen den einzelnen ausgehölten Stämmen wurden mit Moss abgedichtet. In meiner Kindheit wurden diese Wasserleiten noch benutzt und ich sehe in meiner Erinnerung die Bauern, wie sie nach dem auf Holzplättchen festgeschriebenem Plan zum festgesetzten Zeitpunkt ihre Wasserrechte wahr nahmen und mit Metall- oder Schieferplatten den Lauf der Bisse unterbrachen, um das Wasser auf ihre Wiesen und Felder zu leiten. Wehe dem, der sich nicht an die Vorgaben hielt; er wurde hart bestraft.
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