- Hut ab?
Eines muss man Bundesrat Berset lassen: er hat sich zu Beginn der Coronakrise die richtige PR-Agentur angeheuert und sich perfekt inszeniert. Professionelle Fotos zeigen einen gutgelaunten Gesundheitsminister, der einen top modischen Hut trägt und den Eindruck eines brillanten und dynamischen Chefs erweckt. Der muss doch alles im Griff haben, denkt man.
Zugegeben, die Coronakrise wurde in der Schweiz nicht perfekt, aber sicher nicht schlechter ausgetragen als in vergleichbaren Ländern. Es war eine schwierige, undankbare Aufgabe. Eigentlich wusste niemand, ausser unseren unzähligen Experten, wohin die Reise geht. Die Schweiz hat ihren Anteil an Kranken und Toten gehabt, aber dank ihrem soliden – wenn auch überteuerten – Gesundheitswesen und Massnahmen in vernünftigem Rahmen haben die meisten von uns die Krise – bis jetzt – nicht so schlecht hinter sich gebracht. Einige von diesen Lorbeeren gehen auch an BR Berset, wobei die gewaltigen Anstrengungen ganz vieler Leute im und um das Gesundheitswesen auch ohne ihn erbracht wurden.
Was sich aber im Bereich des ambulanten Tarifes abspielt, passt viel weniger zu einem kompetenten und überragenden Gesundheitsminister. Nachdem im 2004 der TARMED nach über zehnjähriger Arbeit in Kraft gesetzt war, zeigten sich rasch sachliche Fehler. Eine rollende Verbesserung war durch das unglückliche Entscheidungssystem mit der Möglichkeit einer Vetoblockierung durch einzelne Partner (allen voran Santésuisse) verhindert, so dass zuerst das Parlament und dann der Bundesrat eine Revision des Einzelleistungstarifs forderte, dessen Revisionsbedarf unbestritten war. Die seit ca. acht Jahren dauernde Revisionsarbeit wurde daraufhin vor allem von der FMH vorangetrieben. Es war ein schwieriger Prozess, mit hohem Risiko, die Ärzteschaft zu spalten. Aber die FMH, welche im Laufe der Jahre enger mit Curafutura und MTK zusammenarbeiten konnte, leistete Enormes. Unzählige Stunden wurden von Mitarbeitern des Tarifbüros und vielen Ärzten aufgewendet und zukunftsorientierte Kompromisse zwischen Grundversorgern und Spezialisten gefunden.
Die Arbeit wurde jedoch durch den Bundesrat systematisch erschwert: Einerseits kamen jährlich neue Anforderungen; so wollte man initial einen sachgerechten Tarif, aber als sich zeigte, dass die Tarife in der Sache eben durchschnittlich zu tief waren, wurde plötzlich die Kostenneutralität als prioritär erklärt, später wollte man Hunderte von Millionen über eine Tarifsenkung einsparen. Andererseits beklagte sich Herr Berset immer wieder über schleppende Fortschritte der TARMED-Revision. Er konkretisierte seine Ungeduld, indem er 2014 und 2018 seine subsidiäre Kompetenz wahrnahm und Sacheingriffe im Tarif vornehmen liess, welche aber weniger der sachlichen Optimierung dienten als der politischen Effekthascherei. Politisch versuchte man bei jeder Angelegenheit, die Ärzteschaft anzuschwärzen und dem Volk weiszumachen, dass die stets steigenden Kosten durch die fehlerhafte Tarifstruktur, somit durch die unwilligen Ärzte, verursacht würden. Für die Tarifpartner war es eine schwierige Aufgabe, zumal das BAG gemäss Pius Zängerle, Direktor Curafutura, «wie ein Orakel funktionierte und zu wichtigen Fragen nichts oder nichts Substantielles sagte» (Zitat Medinside, 08.06.2021).
Vor zwei Jahren haben die FMH, die grossen Versicherer CSS, Helsana, KPT und Sanitas, später noch SWICA (womit die Mehrheit der Versicherer vertreten ist) sowie die MTK dem BR den TARDOC zur Genehmigung vorgestellt. Naturgemäss musste ein Vorschlag zur Kostenkontrolle beigefügt werden, auch hier wurde zäh aber kreativ verhandelt, womit immerhin gezeigt wurde, dass die Tarifpartner doch zusammenarbeiten können. TARDOC ist zurzeit der einzige aktualisierte und sachgerechte medizinische Einzelleistungstarif.
Was folgt, ist eine inakzeptable Verzögerungstaktik. Der gleiche BR Berset, welcher sich über die zu langsam erfolgende Revision beklagte, hat es plötzlich gar nicht mehr eilig. Es folgen immer neue Forderungen und Ausreden, wodurch die TARDOC-Partner blockiert wurden. Seitens BAG wird u.a. bemängelt, dass Santésuisse nicht einbezogen wurde, obwohl diese von Anfang an jegliche Zusammenarbeit mit TARDOC offen verweigert hatte. Obwohl die Voraussetzungen für eine Genehmigung erfüllt sind, lassen BR und BAG die Situation im Unklaren und weigern sich, eine Frist zur Lösung des Problems zu setzen. Man wolle zuerst ein nationales Tarifbüro aufstellen und warte lieber, bis ambu-lante Tarifpauschalen vorliegen. Dass jedoch die Einführung eines aktualisierten Einzelleistungstarifs in der Erwartung von ambulanten Tarifpauschalen verzögert wird, ist nicht ernsthaft nachvollziehbar. Zwar haben FmCH, Santésuisse und H+ Pauschaltarife für weniger als 10% der Positionen Leistungspauschalen skizziert, die Berechnung dieser Pauschalen beruht jedoch meistens auf Kalkulationsregeln des TARMED und teilweise des TARDOC. Zudem ist allen klar, dass die Abrechnung über Tarifpauschalen insbesondere im Grundversorgerbereich hoch problematisch wäre. Mit anderen Worten: eine weitere Alibiübung.
Was wird hier für ein Spielchen gespielt? Der Verdacht liegt nahe, dass es Herrn Berset und seiner Partei nicht um die Optimierung des aktuellen Systems, sondern um den Aufbau einer Staatsmedizin unter der Kontrolle eines mächtigen Bürokratenapparates geht. BR Berset und BAG wollen gar keinen durch die Leistungsträger und -erbringer aufgebauten Tarif, vielmehr geht es offenbar darum, den Ärzten und Versicherern die Tarifhoheit wegzunehmen, womit diese dann künftig dem BAG zugesichert würde und damit auch das Ende der liberalen Medizin eingeläutet werden könnte. Herr Berset will zeigen, dass die Ärzte das Volk abzocken, belügen und eine Lösung des Prämienproblems verhindern und ihm daher «leider» keine andere Wahl bleibt als die Einführung verschiedener staatsmedizinischer Instrumente, z.B. eines staatlichen Tarifs. Wie das aussehen könnte, zeigt die Vorstellung des BAG bei den Tarifen für COVID-Impfungen! Dass Herr Berset andererseits wichtige, aber politisch gefährliche Baustellen bezüglich Effizienz des Gesundheitssystems tunlichst meidet, wird leider in der Politik kaum kommentiert. Für eine solide Diskussion über die Finanzierung des Gesundheitssystems braucht es unbedingt ein sachgerechtes und nachvollziehbares Tarifwerk; das, sehr geehrter Herr Bundesrat, ist das Interesse des Schweizer Volkes.
Es wäre an der Zeit, dass Ärzte, aber auch Politiker sich konsequent gegen diesen hinterhältigen Machtmissbrauch wehren und daran erinnern, dass das Volk bei jeder Abstimmung über Gesundheitsfragen mit überwältigender Mehrheit das Verlassen der aktuellen liberalen Medizin abgelehnt hat. Die SchweizerInnen werden sich nicht vom Palast aus Köniz vorschreiben lassen, wie sie sich zukünftig behandeln lassen.
Hut ab? Sicher nicht.
Dr. med. Urs Kaufmann, Bolligen
Bolligen
urs.kaufmann@hin.ch