- Hörsturz
Der Hörsturz ist definiert als akuter, sensorineuraler Hörverlust. Diese plötzlich ohne erkennbare Ursache auftretende, cochleäre Schwerhörigkeit ist meistens einseitig, kann jedoch in seltenen Fällen beide Ohren betreffen. Bzgl. Frequenzbereich und Schweregrad lassen sich verschiedene Formen der Innenohrschwerhörigkeit unterscheiden: Tiefton-, Mittelton, Hochton- oder pantonale bzw. pancochleäre Innenohrschwerhörigkeit von leichtgradig bis zur an Taubheit grenzenden Schwerhörigkeit oder gar tatsächlicher Taubheit.
Die für die Patienten spürbaren Symptome sind meist ein plötzliches Druckgefühl auf dem betroffenen Ohr bzw. auf beiden Ohren, ein Gefühl wie Watte im Ohr, ein pelziges Gefühl um die Ohrmuschel (periaurale Dysästhesie) sowie Hörverschlechterung. Die Hörverschlechterung kann für die Patienten unbemerkt bleiben, wenn sie nur leichtgradig ist oder nur eine Frequenz bzw. wenige Frequenzen betrifft. Wichtig zu berücksichtigen ist auch die Tatsache, dass die Betroffenen unter Hörverlust, Tinnitus und Schwindel unterschiedlich stark leiden. Bei schwergradiger oder sehr schwergradiger Betroffenheit bzw. grossem Leidensdruck z. B. durch Tinnitus findet man häufig eine psychische Komorbidität. Neben Tinnitus können weitere Symptome wie Schwindel, Hyper-, Diplo- oder und Dysakusis vorhanden sein. Die Hörsturz-Inzidenz liegt nach Untersuchungen aus Deutschland zwischen 160 – 400/100.000 pro Jahr (1, 2). Epidemiologische Daten aus der Schweiz liegen weder für den Hörsturz noch für Tinnitus vor. Am häufigsten tritt der Hörsturz in der Altersgruppe der 40 – 50jährigen auf. Ein Hörsturz im Kindesalter ist möglich, aber sehr selten. Ich habe dies bei grossem, negativem Stress in Schule oder Familie gelegentlich gesehen. Es gibt keine geschlechterbezogene Häufigkeit.
Pathogenese
Pathogenetisch liegt eine Schädigung der äusseren und/oder der inneren Haarzellen vor, die reversibel (Zellschädigung) oder irreversibel (Zelltod) sein kann. Wenn die Hörminderung im tiefen Frequenzbereich fluktuierend ist, der Hörsturz also scheinbar wiederholt auftritt, liegt meist kein Hörsturz, sondern ein endolymphatischer Hydrops als Ursache eines Morbus Menière vor. Als Ursache der wannenförmigen Senkenbildung der Hörschwelle im mittleren Frequenzbereich werden lokale Durchblutungsstörungen im Bereich der Lamina spiralis ossea mit hypoxischen Schäden des Corti-Organs diskutiert. Bei pantonaler Schwerhörigkeit liegt meist eine Funktionsbeeinträchtigung der Stria vascularis, also eine Durchblutungsstörung vor. Ein vaskulärer Verschluss ist meistens die Ursache für eine an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit oder eine Ertaubung. Durch die als häufigste Ursache des Hörsturzes vermutete Durchblutungsstörung kommt es zu einem kurzzeitigen oder bleibenden Zusammenbruch der Energieversorgung des Innenohres. Da das Innenohr nur durch eine einzige Endarterie mit Blut versorgt wird, ist es für Durchblutungsstörungen besonders anfällig. Zum Glück sind diese Durchblutungsstörungen meist reversibel und das Innenohr bzw. die Haarzellen werden bald wieder mit Sauerstoff versorgt, was die Spontanremissionen beim Hörsturz erklärt. Aufgrund des hohen Anteils von Spontanremissionen gilt der Hörsturz im Gegensatz zum Herzinfarkt oder zum Apoplex nicht als Notfall, der sofort therapiert werden muss. Wohl aber gilt er als otologischer Eilfall, der bei Persistenz der Beschwerden über 24 Stunden hinaus möglichst innerhalb der ersten 48 Stunden richtig diagnostiziert und adäquat behandelt werden sollte (3-5).
Die Differentialdiagnosen des Hörsturzes bzw. der akuten Innenohrschwerhörigkeit sind vielfältig: Traumata (Knall-, Explosions-, Barotrauma, Felsenbeinfraktur), Labyrinthitis (z. B. als Komplikation einer Otitis media, Borreliose, Lues), Meningitis, Encephalitis, Autoimmunvaskulititis, Intoxikation (Alkohol, andere Drogen, Arzneimittel wie Aminoglykosidantibiotika und Schleifendiuretika, Toxine aus Bakterien), Virusinfekte (Adenoviren, Herpes zoster, Mumps), Tumore (z. B. Akustikusneurinom, Hirnstamm- und Kleinhirnbrückenwinkeltumore), Perilymphfistel, dialysepflichtige Niereninsuffizienz, Liquorverlust-Syndrom, (z.B. nach Liquorpunktion), genetisch bedingte Syndrome, hämatologische oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Zu den Differenzialdiagnosen gehören auch psychogene Hörstörungen.
Diagnostik
Nach der eingehenden Anamnese incl. der Klärung der Lärmexposition in Beruf und Freizeit erfolgt die Otoskopie. Cerumen im Gehörgang wird ggfls. entfernt. Mit der Tympanometrie wird der Druck in den Mittelohren gemessen, der idealerweise gleich dem atmosphärischen Aussendruck sein sollte. Die Stimmgabelversuche nach Weber und Rinne geben erste Hinweise auf eine Hörstörung. Sehr wichtig ist die Reintonaudiometrie mit Luft- und Knochenleitung mindestens im Sprachbereich von 125 – 8000 Hz. Ich messe die Frequenzen von 125, 250, 500, 1000, 1500, 2000, 3000, 4000, 6000, 8000, 9000, 10000, 11000, 12000, 14000 und 16000 Hz. Besteht ein Tinnitus, sollten Tinnitusfrequenz und –lautheit gemessen werden. Bei Hyperakusis sollte die Unbehaglichkeitsschwelle gemessen werden. Bei Einschränkung des Sprachverständnisses sollte auch eine Sprachaudiometrie durchgeführt werden. Bei Schwindelsymptomatik ist die Untersuchung der Augenbewegungen unter der Frenzelbrille wichtig: Sind Spontan-, Fixationsnystagmen und Folgebewegungen, Kopfschüttel- oder Lagerungsnystagmen zu sehen? Der Kopf-Impuls-Test nach Halmayi und Curthoys und die kalorische Vestibularisprüfung mit Wasserspülungen von 30 und 44 ºC sollen durchgeführt werden. Hinweise auf eine zentrale Gleichgewichtsstörung oder zentrale Störungen der Augenbeweglichkeit sind z. B. Blickrichtungsnystagmen, sakkadierte Blickfolge, verlangsamte Sakkaden. Auf weitere neurologische Symptome wie Facialisparese, Parästhesien, Schluck-, Gang- und Koordinationsstörungen ist zu achten. Blutdruck und Puls werden gemessen. Die Halswirbelsäule wird untersucht auf Bewegungseinschränkungen. Folgende Laborwerte sollten bestimmt werden: Blutbild und Differenzialblutbild, Blutzucker, CRP, Präcalcitonin, Kreatinin, Fibrinogenspiegel, Ausschluss von Borreliose, Lues, Herpes-Virus, Varicella-Zoster-Virus, CMV, HIV. Eine bildgebende Darstellung des Felsenbeins und des Neurokraniums (CT oder MRT) sollten erfolgen z. B. zum Ausschluss eines Akustikusneurinoms bzw. Kleinhirnbrückenwinkeltumors, eines endolymphatischen Hydrops, bei pulssynchronen Ohrgeräuschen auch einer arterio-venösen Fistel oder eines temporalen Paraganglioms, Der Hörsturz verursacht eine wesentliche Einschränkung der Lebensqualität (6). Diese Einschränkung der Lebensqualität bzw. die psychische Betroffenheit durch den Hörverlust, ggfls. durch Tinnitus, Hyperakusis und/oder Schwindelsymptomatik sollte durch standardisierte psychometrische Tests erfasst, eine psychische Komorbidität erkannt werden.
Sollte bei freiem Gehörgang sowie reizlosem und geschlossenen Trommelfell mit normalem Druck im Mittelohr die Symptomatik den Verdacht auf einen Hörsturz nahe legen, wird die Überweisung zur ohrenärztlichen Untersuchung empfohlen.
Therapie
Die beste wissenschaftliche Evidenz besteht für die hoch dosierte Therapie mit Glukokortikosteroiden. Diese sollte drei Tage lang mit jeweils 250 mg Prednisolon oder einem Glukokortikosteroid mit äquivalenter Dosierung durchgeführt werden (7, 8). Die Therapie kann bei Bedarf einige Tage länger durchgeführt werden. Die Kortisondosis muss auch bei einer derart hohen Dosis über wenige Tage nicht reduziert bzw. ausgeschlichen werden (9), obwohl verschiedene Schemata existieren, die genau dies befürworten, wogegen auch nichts einzuwenden wäre. Eine Alternative zur systemischen Kortisontherapie ist die intratympanale Applikation von Dexamethason oder Methylprednisolon, die gleich wirksam wie eine niedrig dosierte systemische Kortisontherapie zu sein scheint und als weiterer Therapieversuch nach einer erfolglosen systemischen Kortisontherapie wirksamer ist als eine Plazebotherapie oder keine Therapie (10, 11).
Rheologika und Vasodilatatoren wie Aloprostadil, Carbogen und Naftidrofuryl zeigten in einer Cochrane-Metaanalyse von drei randomisierten Studien keine Wirksamkeit und können daher nicht empfohlen werden (12). Eine randomisierte, kontrollierte Studie mit Pentoxifyllin/Dextran zeigte keine Überlegenheit gegenüber Pentoxifyllin/NaCl oder NaCl/Plazebo (13). In einer randomisierten, doppelblinden, kontrollierten Studie mit Pentoxifyllin gegen einen standardisierten Ginkgo-biloba-Extrakt zeigte sich ein Vorteil für den Gingko-Extrakt in der Beurteilung der Wirksamkeit durch die Patienten bei Äquivalenz in allen anderen Parametern betr. Hörsturz und Tinnitus (14). Ein Schweizer Autorenteam publizierte 2021 eine systematische Übersichtsarbeit zur Wirksamkeit standardisierter Ginkgo-biloba-Extrakte bei Schwindel und/oder Tinnitus (15). Die pharmakologischen Wirkungen sind verbesserte Durchblutung von Innenohr und Gehirn, antioxidative Effekte, Neutralisierung freier Sauerstoffradikale, Neuroprotektion und verbesserte Energiezufuhr in den Mitochondrien. 17 randomisierte, kontrollierte Studien wurden in diese Übersichtsarbeit eingeschlossen. Davon belegten 14 von 17 Studien die Wirksamkeit und die Sicherheit, darunter 8 von 9 Studien, die Tinnitus und/oder Schwindel untersuchten sowie 6 von 8 Studien, die nur Tinnitus untersuchten. Standardisierte Ginkgo-biloba-Extrakte sind von Swissmedic u. a. für die Indikationen Tinnitus und Schwindel als additive Therapie zugelassen und kassenzulässig auf der Spezialitätenliste. Bzgl. der hyperbaren Sauerstofftherapie kommt eine Cochrane-Metaanalyse von 7 randomisierten Studien mit insgesamt 392 Patienten zur Beurteilung, dass zwar das Hörvermögen signifikant verbessert wurde, die Studien jedoch methodisch unzulänglich sind und deshalb mit Vorsicht interpretiert werden müssen (16). Hier sind auch angesichts der Kosten und des Risikos weitere klinische Studien notwendig, ehe eine positive Empfehlung gegeben werden kann. Bzgl. der antiviralen Therapie zeigt ein Cochrane-Review keine statistisch signifikante Wirksamkeit antiviraler Medikamente wie Acyclovir oder Valcyclovir beim Hörsturz (17), sodass dies nicht empfohlen werden kann.
In meiner Praxis hat sich die Kombination der hochdosierten, systemischen Therapie mit Glukokortikosteroiden und einem standardisierten Ginkgo-biloba-Extrakt in der Tagesdosis von 240 mg bewährt. Wichtig ist das Erkennen begleitender Symptome bzw. Erkrankungen wie Tinnitus, Hyperakusis, otogener Schwindel und psychischer Komorbidität, was ggfls. weitere therapeutische Massnahmen und eine interdisziplinäre Zusammenarbeit erfordert.
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Der Autor hat keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.
◆ Ein idiopathischer Hörsturz ist kein Notfall, aber eine ohrenfachärztliche Abklärung sollte bei persistierender Symptomatik innerhalb von
2 Tagen erfolgen.
◆ Ein Hörsturz mit persistierendem Hörverlust ohne Spontanheilung wird primär hochdosiert mit Kortison behandelt. Additiv unterstützt ein standardisierter Ginkgo-biloba-Extrakt die Therapie.
◆ Ein ggfls. den Hörsturz begleitender Tinnitus und/oder Schwindel wird diagnostiziert und mitbehandelt. Gleiches gilt für Stressfaktoren und eine psychische Komorbidität.
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- Dezember 2021