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11. Wiler Hausarzt-Symposium

Das Wiler-Hausarzt-Symposium der SRFT (Spitalregion Fürstenland Toggenburg), welches vorletztes Jahr der Corona-Pandemie zum Opfer gefallen ist, vor kurzem aber am 18.11.21 zum 11. Mal nach bewährtem Muster durchgeführt wurde, erfreut sich bei den praktizierenden Ärzten der Spital-Region Fürstenland-Toggenburg einer grossen Beliebtheit. Es sind die beachtenswerten wissenschaftlichen Fachvorträge im Plenum, die beliebten Workshops im kleineren Diskussionsrahmen, aber auch der kollegiale Austausch «zwischendurch», die das Symposium immer zu einem Highlight im Fortbildungsprogramm der Hausärzte macht. Wiederum stand der Anlass unter der Gesamtleitung des Chefarztes Med.
Klinik Wil (Dr. Markus Rütti) und seinem Stellvertreter (Dr. Marc Looser). Sie haben es wiederum verstanden, ein vielseitiges Tagesprogramm zusammenzustellen.



Den Anfang machte ein Gastroenterologie-Update (dargeboten von S. Petardi, LA Gastroenterlogie im Spital Wil) über die verschiedenen Facetten der Zöliakie (vorkommend bei 1% der Bevölkerung und leider nur in 20% rechtzeitig diagnostiziert). Wir alle glauben sie zwar zu kennen, aber es geht eben nicht nur um die Gluten-Unverträglichkeit. Verschiedene Malabsorptionssyndrome, neurologische Begleiterkrankungen und dermatologische Komorbiditäten (z.B. Dermatitis herpetiformis Duhring) sind zu beachten. Differentialdiagnostisch ist eine Weizenallergie (meist IgE–vermittelt) und die «Nicht-Zöliakie-Nicht-Weizenallergie-Weizensensitivität» abzugrenzen. Zur Diagnosestellung stehen die Schleimhaut-Biopsie (aussagekräftig ab histologisch MARSH 2) und die serologische Antikörper-Abklärung (Gliadin-Ak und AK gegen Tissue-Transglutaminase tTG) und weitere dem Spezialisten vorbehaltene Möglichkeiten zur Verfügung. Therapeutisch kann eigentlich nur die völlige Gluten-freie Diät angeboten werden.

Zu Beginn des zweiten Plenum-Vortrags («Evolutionsmedizin – Was wir von der Vergangenheit lernen können») hat man sich vielleicht gefragt: Was kann mir die wissenschaftliche Mumien-Untersuchung eines Tutanchamun oder von Ötzi bringen? Der äusserst spannende Vortrag von Prof. Frank Rühli belehrte den Zweifler eines Besseren. Denn: «Medicine without evolution is like engineering without physics». Heute untersucht man an den Mumien sogar die DNA, und auch die Zahnstein-Forschung blickt auf über 1000 Jahre zurück. Aber auch die moderne Evolutionslehre ist wertvoll: Die Grösse- und Gewichts-Entwicklung der Schweizer Männer seit 1875 ist dank der Zusammenarbeit mit dem militärischen Sanitätsdienst überblickbar, und die Covid 19-Erkenntnisse und die Krisenbewältigung einer Pandemie lassen sich evolutionsmedizinisch auch besser einordnen. Der Referent zeigte sich überzeugt, dass die Evolutionsmedizin bei der Planung der «global health» mithilft.

Im dritten Hauptreferat klärte PD Thomas Maier (Chefarzt Psychiatrie Wil) vorerst den Unterschied zwischen einer psychiatrischen Krise (verlangt eine rasche Intervention!) und dem psychiatrischen Notfall (sofortige Handlung notwendig!) und erläuterte die sechs Stadien einer Veränderungsmotivation: 1. Absichts­losigkeitsstadium (Präkontemplation), 2. Absichtsbildungsstadium (Kontemplation), 3. Vorbereitungsstadium (Präparation), 4. Handlungsstadium, 5. Aufrechtserhaltungsstadium, 6. Abschluss­stadium. Anhand von drei instruktiven Beispielen ging der Referent vor allem auf die Krisenintervention bei einem «präsuizidalen Syndrom» ein. Hier ist das Zuhören des Hausarztes ganz besonders gefragt. Aus der anschliessenden Diskussion erscheinen besonders erwähnenswert: Haloperidol wird vom Fachmann in der Krisensituation heute weniger häufig als Lorazepam, oder auch Olanzapin (fördert aber Gewichtszunahme), eingesetzt; psychiatrische Patienten sind gegenüber den Ärzten ihres Vertrauens auffallend offen und bei drohender Suizidalität ehrlich; Selbstverletzungen sind für den Patienten oft eine Entspannungsmöglichkeit oder appellativ und bedeuten nicht immer eine akute Suizidalität.

Das Tagesschluss-Referat am Wiler Symposium ist jeweils von besonderer Art. Diesmal referierte Haig Peter (vom IBM Research – ThinkLab Zürich) über «Künstliche Intelligenz im Gesundheitswesen». Wenn auch für den in IT-Fragen und in der Quantenphysik weniger bewanderten Allgemeinpraktiker vielleicht etwas schwer verständlich, so liessen die zahlreichen Beispiele den Zuhörer doch staunen, wie rasch die Entwicklung in der Computer-Physik (Qubits vs. Bits!) voranschreitet.
Bedeutend praxisnäher sind jeweils die beiden Fallvorstellungen von praktizierenden Hausärzten: Auch diesmal zwei höchst instruktive Fälle aus der Allgemein-Praxis!

Susanna Krah (Aadorf) berichtete von ihrer eigenen kürzlich überstandenen, hoch-febrilen Infektionskrankheit mit interstitieller Bronchiolitis, Unterlappen-Atelektase, langdauernde Therapieresistenz. Corona – oder doch nicht? Schlussendlich wurde eine atypische (Mycoplasmen) Pneumonie gefunden, was den fehlenden Auskultationsbefund, das hohe Fieber, die Kontagiosität bis 90%, das gute Ansprechen auf Azithromycin oder Doxyclin, nicht aber auf Betalactam-Antibiotika, erklärt.

Alexander Teufel (Kirchberg) präsentierte einen vorerst unklaren Fall eines Landwirtes, mit Dyspnoe, Husten, Pneumonie und anderen plagenden Allgemeinsymptomen. Die Abklärung ergab schliesslich eine Tularämie (Infektion mit Francisella tularensis), welche offenbar in der Schweiz recht häufig angetroffen, aber oft verkannt wird. Die Krankheit kann sich als äussere Form (ulzeroglandulär, okuloglandulär, pharngeal) oder aber als innere (invasive) Form (septisch, intestinal, pulmonal) präsentieren. Ohne antibiotische Behandlung (Ciprofloxacin oder Tetracycline) kann die Sterblichkeit bis 30% betragen.

Schliesslich ist über die parallelverlaufenden Workshops (in drei Blöcken) zu berichten. Sie erlaubten es, im kleineren Kreise medizinische Fragestellungen interaktiv zu behandeln. Leider konnten vom Angebot von fünf Möglichkeiten nur drei Seminare besucht werden (die Workshops über Palliativmedizin sowie über Cancer Survivorship Care fielen dieser Beschränkung zum Opfer).

Marianne Korfmann, Schmerztherapeutin Spital Wil, behandelte das schwierige Thema der Fibromyalgie. Zur Diagnostik dient die Stadieneinteilung des Schmerzes nach Gerbershagen. Die Behandlung ist individuell festzulegen (die üblichen Analgetika, nicht NSAR, aber u.a. auch Infusionen mit Procain und Magnesium und Neuraltherapie); eine Chronifizierung ist möglichst zu vermeiden. Der Invaliditätsgrad ist schwer festzulegen, die IV-Berentung deshalb problematisch. – Auch der Post-Zoster-Schmerz kam zur Sprache. Die Erfahrungen mit Pregabalin sind unterschiedlich (wegen Nebenwirkungen ist einschleichend zu dosieren!)

Markus Rütti, Chefarzt Med. Klinik Wil, stellte drei Fälle mit Anämie vor. Laut WHO (bei Frauen unter 120 g/l, bei Männern unter 130 g/l). Zuerst ging es um eine hyporegenerative hypochrome Anämie, durch die Bestimmung der Retikulozytenzahl genauer einteilbar. Der 2. Fall betraf eine mikrozytäre Anämie (mit Thrombozytopenie) bei unklaremVit.B12-Mangel, die perniziöse Anämie war vorerst nicht offensichtlich. Ein dritter Fall betraf eine autoimmun-hämolytische Anämie (im Rahmen einer CLL). Der Direkte Coombs-Test war positiv und wurde speziell besprochen, ebenso der Stellenwert der Fragmentozyten.

Schlussendlich überzeugte auch der Workshop über Harnwegsinfekte (PD Philipp Kohler), Infektiologe, KSp St. Gallen.). Als Take-Home-Messages können gelten:

– Bei jungen Leuten mit typischen HWI-Symptomen ist vorerst kein Urinstatus und kein Uricult nötig, denn in über 75% sind unspezifische E. Coli verantwortlich.
– Primär kann bei asymptomatischer Bakteriurie und banaler Zystitis auf Antibiotika verzichtet werden. Zu Beginn genügen oft eine höhere Trinkmenge und allenfalls NSAR. AB können sogar schaden (Mikrobiom!).
– Bei ProteusInfekten sind Konkremente auszuschliessen.
– Staph. aureus ist selten (eine Blutkultur drängt sich hier auf; eine Endokarditis ist auszuschliessen). Bei behandlungswürdiger rezidivierender Zystitis gibt man Cefuroxim (2 x 5000 mg), Nitrofuradantin (2 x 100 mg) oder Fosfomycin (erst am Abend nach letztem Toilettengang!), evtl. d-Mannose 3 x 2gr/die (nicht kassenzulässig), aber eher nicht ein Quinolon.
– Nitrofuradantin ist nicht gewebegängig, deshalb nicht bei Pyelonephritis und Prostatitis indiziert.
– Bactrim forte wird immer noch viel gebraucht, die Resistenzlage ist konstant, das Stevens-Johnson-Syndrom ist selten.
– Die Indikation zum Dauerkatheter muss immer wieder überprüft werden (DK-Wechsel eigentlich nur wenn verstopft).
– Alternativ nützen bei rezidivierenden HWI: viel trinken, evtl.

Urovaxom (nüchtern, 30 Minuten vor dem Frühstück!), D-Mannose (Femannose, nur bei E. Coli). Auch Cranberry-Produkte scheinen wirksam zu sein.

(Die am Symposium gehaltenen Vorträge sind im Internet abrufbar unter www.wiler-symposium.ch)

Dr. med. Hans-Ulrich Kull

Küsnacht

der informierte @rzt

  • Vol. 12
  • Ausgabe 2
  • Februar 2022