- Krampfadern – sklerosieren, operieren oder ignorieren?
Varizen kann man im Prinzip sklerosieren, operieren oder ignorieren. Die Behandlung ist mit wenigen Ausnahmen fakultativ, nicht obligat. Es gibt allerdings durchaus Argumente für ein aktives Vorgehen. Diese sind: Beschwerden, die auch tatsächlich durch die Varikose bedingt sind; schwere Stauungszeichen wie Ödem und Hautveränderungen; Komplikationen wie Varikophlebitis, Varizenblutung, Ulcus cruris; kosmetisch störender Befund; jugendliches Alter. Die Behandlung muss auf jeden Fall individuell und massgeschneidert und die Patientin/der Patient sozusagen «reif» für eine Therapie oder anders gesagt «befähigt zum Selbstentscheid gemacht worden» sein, wenn die Massnahme dann tatsächlich erfolgen soll.
Abstract: In principle, varicose veins can be sclerosed, operated on or ignored. With few exceptions, treatment is optional, not mandatory. There are, however, arguments in favor of an active approach. These are: Complaints that are actually caused by the varicosis; severe signs of congestion such as edema and skin changes; complications such as varicophlebitis, variceal bleeding, leg ulcers; cosmetically disturbing findings; youn g age. In any case, the treatment must be individualized and tailored to the patient’s needs, and the patient must be “ready” for therapy, so to speak, or, in other words, “empowered to make his or her own decision” if the measure is actually to be taken.
Key Words: Varicosis, variceal bleeding, varicophlebitis, leg ulcers
Das ewige Lied mit den Krampfadern! Ja, die Varikose ist so zu sagen der wilde Westen der Medizin. Viel zu häufig werden Patientinnen und Patienten schlecht oder gar falsch beraten. Nicht so selten soll an ihnen entweder verdient oder aber gespart werden. Entscheidend ist gerade deshalb eine integre individuell massgeschneiderte Beurteilung und Therapie. Dabei gibt es starke Argumente für ein konservatives, aber durchaus auch legitime Begründungen für ein aktives Vorgehen. Der schlimmste Fehler aber ist es, Patientinnen und Patienten zu einer Massnahme zu überreden, die sie nicht brauchen und bei guter Beratung auch gar nicht wollen.
Irrtum Nr. 1:
«Man hat mir gesagt, ich hätte auch tiefe Krampfadern»
Stimmt nicht!
Varizen sind erweiterte, geschlängelte, überwiegend epifasziale Venen im Ausbreitungsgebiet der Vena saphena magna oder parva sowie im Bereich der das oberflächliche mit dem tiefen Venensystem verbindenden Venae perforantes. Sie sind die Folge einer degenerativen Venenwandveränderung. Es bestehen zwar hämodynamische Rückwirkungen auf das tiefe Venensystem, doch eine eigentliche Varikose des tiefen Venensystems existiert nicht!
Es wird unterschieden zwischen einer primären (ca. 95%) und einer sekundären (ca. 5%) Varikose (letztere weit überwiegend als Folge einer tiefen Beinvenenthrombose).
Varizen sind häufig (etwa jede dritte Frau und jeder fünfte Mann) (1). Die Einteilung der Varikose folgt der Grösse der befallenen Venen. Stellen Sie sich dazu als Bild des oberflächlichen Venensystems einen Baum ohne Blätter vor, der auf dem Kopf steht (Abbildung 1). Sind die feinsten Ästchen betroffen (Durchmesser < 1mm), spricht man von Besenreiservarizen (intradermale Teleangiektasien). Grössere Ästchen (Durchmesser 1-4 mm) werden als retikuläre Varizen bezeichnet (und gehören ebenfalls noch zur Gruppe der kutanen Varizen). Die Gruppe der epifaszialen Krampfadern umfasst neben der Nebenast- noch die Stammvarikose von V. saphena magna und parva. Die Einteilung der Stammvarikose nach Hach folgt dem Insuffizienzniveau und ist etwas für Spezialisten. Die CEAP-Klassifikation, basierend auf Klinik, Ätiologie, Anatomie und Pathophysiologie ist sicherlich geeignet für wissenschaftliche Studien, aber eine Zumutung für den Nichtspezialisten. Wer schlägt als Zuweiser schon eine Klassifikation nach, um einen Bericht verstehen zu können, zumal dies dann meist ohne praktische Konsequenz bleibt. Meiner Ansicht nach wäre der Spezialist gut beraten deskriptiv zu bleiben, um das Leben des Zuweisers nicht zu erschweren.
Irrtum Nr. 2:
«Ich habe Krämpfe, weil ich Krampfadern habe»
Stimmt nicht!
Der Begriff «Krampfader» hat nichts mit Krämpfen zu tun! Er stammt ab vom althochdeutschen Wort «Krumbader», die krumme Ader. Krämpfe können zwar selten einmal auch von Krampfadern kommen, sehr viel häufiger aber haben sie eine gänzlich andere Genese!
Irrtum Nr. 3:
«Ich bin selber schuld, dass ich Krampfadern habe»
Stimmt nicht oder nur sehr bedingt!
Der Hauptrisikofaktor für die Varikose ist eindeutig die Genetik. Ein befallener Elternteil führt bei 68% der Kinder zu einer Varikose. Befall beider Elternteile sogar bei 75% (2). Naturgemäss ist das Alter ein zusätzlicher Risikofaktor, da es sich ja um einen chronisch-progredienten Prozess handelt. Zusatzfaktoren wie weibliches Geschlecht, Adipositas, lange stehende und sitzende Tätigkeiten, Schwangerschaften sind einzig Katalysatoren dieses Prozesses.
Weil dies so ist, führen alle therapeutischen Massnahmen nicht zu einer Heilung, sondern nur zu einer Verbesserung des aktuellen Zustandes und einem Hinauszögern der Progression. Dies kann nicht selten in eine Sisyphusarbeit ausarten und sollte der Patientin/dem Patienten auch so kommuniziert werden.
Irrtum Nr. 4:
«Ich habe Beinbeschwerden und die sind nach der Behandlung der Varikose weg»
Stimmt nicht! Dafür gibt es definitiv keine Garantie.
Krampfaderpatienten können ein Spannungs-, Druck- und Schweregefühl der Beine aufweisen. Auch Juckreiz, nächtliche Wadenkrämpfe, Parästhesien, Hitzegefühl und unruhige Beine sind möglich. Etwa 50% der Patientinnen und Patienten mit Varikose weisen derartige Beschwerden auf.
Aber: Auch etwa 50% der Patientinnen und Patienten ohne Varikose zeigen entsprechende Symptome! Dies zeigte bereits die bahnbrechende Basler Studie von 1978 (als Schweizer darf man auf diese erste grosse europäische Studie zur Prävalenz der Venenerkrankungen durchaus stolz sein) (3). Es führt also nur zu Frustration auf allen Seiten, wenn man der Patientin/dem Patienten Beschwerdefreiheit auf jeden Fall verspricht. Sollte es dagegen zu Beschwerdefreiheit kommen, ist es natürlich umso besser!
Immerhin gibt es anamnestische Hinweise, dass die Beschwerden phlebologisch bedingt sein könnten. Diese sind: Verschlimmerung der Beschwerden gegen Abend; Zunahme der Symptomatik nach langem Stehen oder Sitzen und bei Wärme; Besserung bei Hochlagern der Beine oder Umhergehen. Trotzdem ist eine Differenzierung zu rheumatologischen und anderen Beschwerden oft alles andere als ein Kinderspiel.
Irrtum Nr. 5:
«Ohne Behandlung bekomme ich ein offenes Bein»
Stimmt nur sehr selten!
Jede fünfte Frau und jeder sechste Mann entwickelt eine chronisch-venöse Insuffizienz (4). Die chronisch-venöse Insuffizienz ist pathophysiologisch nichts anderes als eine langsame venöse Infarzierung von Haut und Subkutis auf Grund einer venösen Hypertonie mit Mikrozirkulationsstörung (5). Der Prozess beginnt mit einem reversiblen Ödem, besenreiserartigen Erweiterungen der Venen besonders submalleolär medial (Corona phlebectatica paraplantaris), geht über in ein persistierendes Ödem, Stauungsekzem (abakterielle Hypodermitis) mit Juckreiz, Hyperpigmentierungen (purpura jaune d`ocre), Depigmentierungen (capillaritis alba) mit atrophischen Hautbezirken (atrophie blanche), Induration von Dermis und Subkutis (Dermatoliposklerose) und zyanotische Hautfarbe und endet in einem floriden oder abgeheilten Ulkus (Tabelle 1). In der Gesamtbevölkerung findet sich aber nur bei 0,1% ein florides und bei 0,7% ein abgeheiltes Ulcus cruris (4).
Würden alle Krampfaderpatienten mit dem Argument Ulkusprävention behandelt, käme es zu einer Flut von unnötigen Eingriffen. Es ist also gerechtfertigt und sinnvoll und es bleibt genügend Zeit, nur diejenigen zu operieren, die an einem Präulkus herumlaborieren oder bereits ein Ulkus aufweisen.
Irrtum Nr. 6:
«Ich muss Angst vor einer Thrombose oder Lungenembolie haben.»
Stimmt nur selten.
Die wichtigste und eine typische Komplikation der Varikose ist die Varikophlebitis, also die oberflächliche Venenthrombose einer varikös veränderten Vene. Diese ist unbedingt zu differenzieren von einer Thrombophlebitis einer nicht vorveränderten oberflächlichen Vene, einem vollständig anderen Krankheitsbild (6,7). Die Varikophlebitis ist zwar «nur» eine oberflächliche Venenthrombose, aber «auch ein kleines Ferkel ist ein Schwein». In knapp 7% kann sie zu einer tiefen Beinvenenthrombose führen, welche wiederum in rund 20% von einer Lungenembolie begleitet ist (8). Die Varikose führt also zu einem leicht erhöhten Risiko für Thrombose und Lungenembolie. Allerdings ist es eine relativ einfache Massnahme, eine Varikophlebitis, die man nicht verpassen kann («rubor, tumor, calor, dolor»), unverzüglich mit einer vorübergehenden Antikoagulation zu behandeln, um eine Propagation ins tiefe Venensystem zu verhindern.
Irrtum Nr. 7:
«Ich kann wegen der Varizen verbluten»
Stimmt fast nicht.
Varizenblutungen sind selten (<1%)(9). Sie können nach einem Trauma auftreten oder auch spontan, vor allem natürlich bei antikoagulierten Patientinnen und Patienten. Ein Verbluten aus dem oberflächlichen Niederdrucksystem ist eine exquisite Rarität. Dazu müssen schon ganz aussergewöhnliche Rahmenbedingungen vorliegen (z.B. Alkoholiker im Rausch nach einem Trauma). Hochlagern und Kompressionsverband über ein paar Tage lösen das Problem, das auf die betroffene Patientin/den betroffenen Patienten durchaus bedrohlich wirken kann.
Irrtum Nr. 8:
«Eine Schwangerschaftsvarikose muss nach der Geburt schnell saniert werden»
Falsch.
Das Aufschiessen einer Varikose während der Schwangerschaft ist typisch. Die Komplikation einer mündungsnahen Varikophlebitis ist heimtückisch und bedarf wegen der potentiellen Propagation in die Tiefe mit der Lebensgefahr einer Lungenembolie eines raschen Handelns. Mit der Sanierung einer Varikose nach Beendigung einer Schwangerschaft soll dagegen mindestens 6 Monate zugewartet werden, da das Regressionspotential erfahrungsgemäss erheblich ist und ausgenutzt werden sollte (4).
Irrtum Nr. 9:
«Ich kann es ja mal mit Medikamenten versuchen»
Schadet immerhin kaum.
Der Nutzen von Venenpharmaka ist gesamthaft ungenügend dokumentiert und bescheiden (10). Keines der Mittel beeinflusst den Verlauf der Erkrankung. Immerhin ist ein symptomatischer Nutzen bei Beinbeschwerden einer chronischen Veneninsuffizienz genügend dokumentiert. Dies gilt insbesondere für Rosskastanienextrakte, Hydroxyethylrutoside, Diosmin und Calciumdobesilat. Immerhin schaden die aus der Phytotherapie übernommenen Medikamente kaum. Schwerere Nebenwirkungen sind nicht bekannt, ausser bei Calciumdobesilat (Agranulozytose). Gesamthaft helfen die Medikamente kaum, sie schaden aber auch wenig (10).
Irrtum Nr. 10:
«Jetzt muss ich einen Strumpf tragen»
Meist falsch.
Auch hier gilt, dass die Kompressionstherapie kaum schadet. Es wurde aber noch nie belegt, dass sie bei der Varikose ohne chronische Veneninsuffizienz den Verlauf günstig beeinflussen kann (4). Bei chronischer Veneninsuffizienz mit Ödem und Hautveränderungen ist die Kompressionstherapie dagegen ein Hauptpfeiler der Behandlung, indem sie den Verlauf der mikrozirkulatorischen Infarzierung durch Bekämpfung der venösen Hypertonie abbremst (5).
Die Kompressionstherapie soll also mit Bedacht angewendet werden. Im Prinzip ist sie ja eine Zumutung und sollte keinem Patienten ohne Not aufs Auge gedrückt werden.
Irrtum Nr. 11:
«Es ist ja eine kleine Operation»
Falsch.
Ja, Varizenoperationen und andere Eingriffe wie Sklerotherapie sind für den Chirurgen/Therapeuten keine grossen Operationen/Eingriffe, aber es sind trotzdem Massnahmen mit potentiellen Nebenwirkungen. Es gibt in der Medizin wenig Ärgerlicheres als zu einem Eingriff geraten zu haben, der zu einer Komplikation führt, nur um sich nachher hintersinnen zu müssen, ob der Eingriff auch tatsächlich nötig gewesen sei.
Danksagung: Der Autor bedankt sich bei PD Dr. med. R. Inderbitzi, Prof. em. Dr. med. H.J. Leu und Dr. med. N. Wahli für die kritische Durchsicht des Manuskriptes.
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Der Autor hat keine Interessenskonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.
◆ Die Varikose ist sehr häufig. Sie kann die Lebensqualität einschränken, muss es aber nicht.
◆ Eine Behandlung ist kaum je obligat («man kann, man darf; man muss nicht»).
◆ Es gibt aber Argumente für ein aktives Vorgehen. Diese sind: Beschwerden, die tatsächlich von der Varikose kommen; Komplikationen wie Varikophlebitis, Varizenblutung, Ulcus cruris und andere schwere Stauungszeichen; aber auch belastender kosmetischer Aspekt. Selbstverständlich sind diese von unterschiedlicher Wertigkeit, abhängig vom Alter des Patienten.
◆ Achtung: Die Phlebologie ist der wilde Westen der Medizin. Kaum sonst wird an Patientinnen und Patienten derart verdient oder aber gespart
1. Rabe E, Pannier-Fischer F, Bromen K, et al. Bonner Venenstudie der Deutschen Gesellschaft für Phlebologie. Phlebologie 2003; 32:1-14.
2. Hach W. Ätiologie und Pathogenese der primären Varikose. Dtsch med Wschr 92:1400-1404, 1967.
3. Widmer LK, Stähelin B, Nissen HC et al. Venen-, Arterien-Krankheiten, koronare Herzkrankheit bei Berufstätigen: Prospektiv-epidemiologische Untersuchung. Basler Studie I-III 1959-1978, Hogrefe, 1993.
4. Pannier, F., et al. “S2k–Leitlinie Diagnostik und Therapie der Varikose.” Im Internet: https://www. awmf. org/uploads/tx_szleitlinien/037-018l_S2k_Varikose_Diagnostik-Therapie_2019-07. pdf (2019).
5. Leu AJ, Leu HJ, Franzeck UK, Bollinger A. Microvascular changes in chronic venous insufficiency – a review. Cardiovasc Surg 1995; 3: 237 –245.
6. Leu AJ, Hoffmann U, Franzeck UK, Marty B, Bollinger A. Varikophlebitis und Thrombophlebitis saltans sive migrans – oft verkannt und oft verwechselt. Dtsch med Wschr 1996; 121: 527-531.
7. Leu AJ, Leu HJ. Superficial phlebitis. In: 14th European Vascular Course Book 2010: Best practice in venous disorders. EVC 2010; 11: 97-103.
8. Eklöf B, Perrin M, Delis KT, et al. Updated terminology of chronic venous disorders: the VEIN-TERM transatlantic interdisciplinary consensus document. J Vasc Surg 2009; 49: 498-501.
9. Serra R., et al. Haemorrhage from varicose veins and varicose ulceration: A systematic review. Int Wound J 2018; 15: 829-833.
10. Ritzmann P. Venenmittel. Pharma-kritik 2000; 22 (7): 25-28.
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- Vol. 12
- Ausgabe 7
- Juli 2022