- Neues aus der Infektiologie
Einer der Hauptvorträge am KHM 2022 beschäftigte sich mit neuen Aspekten aus der Infektiologie, die für die tägliche Praxis relevant sind. Antibiotikafreie Therapien, sexuell übertragene Infektionen, die HPV-Impfung und Corona plus Umgang mit Impfskepsis waren die Themen, die Prof. Dr. med. Philipp Tarr, Basel, ansprach.
Unnötige Antibiotika vermeiden
80% - 90% aller Antibiotika werden in der Praxis, nicht im Spital, eingesetzt. Der Mythos der Spital-Bakterien (exogene Akquisition von resistenten Bakterien) ist überholt. ESBL und andere werden in der Praxis gleich häufig wie im Spital übertragen. Eine endogene Kolonisation existiert oft monatelang, die Keime können durch Antibiotikatherapie herausselektioniert werden. 50% dieser Antibiotika sind nicht indiziert, zu breit und zu lang gegeben. Die ambulante Medizin ist zunehmend im Fokus was Antibiotika Resistenzentwicklung betrifft. Die Schweizer Guidelines erlauben seit September 2019 eine primär antibiotikafreie Behandlung der Streptokokken-Angina. Bei Streptokokken-Angina und Scharlach gibt es seit Mai 2020 keinen Schulausschluss mehr.
Behandlung der Streptokokken-Angina
Die Schweizer Guidelines erlauben seit Sept. 2019 eine primär antibiotikafreie Behandlung. Bei Streptokokken-Angina und Scharlach seit Mai 2020 kein Schulausschluss mehr gemäss der Vereinigung der Kantonsärztinnen und -ärzte der Schweiz. Empfehlungen für den (vor)schulischen Ausschluss bei übertragbaren Krankheiten und Parasitosen.
Zystitis Diagnose und Therapie
Alarmzeichen? Flankenschmerz, Flankenklopfdolenz, Fieber, schlechter AZ, Erbrechen, Leukozytose, erhöhtes CRP, bereits Pyelonephritis durchgemacht und angeborene Nierenabnormität.
Falls Alarmzeichen nicht vorhanden: Zystitis: Wünscht Patientin eine antibiotikafreie Therapie, kommt sie dafür in Frage? Wenn nein werden Antibiotika eingesetzt, wenn ja antibiotikafreie Therapie. Falls Alarmzeichen vorhanden: Pyelonephritis. Bei Vorhandensein einer Pyelonephritis sollen Antibiotika eingesetzt werden.
Rezidivierende Dysurie, Pollakisurie
Anamnese, Untersuchung
Vertrauensvolle Beziehung Arzt/Ärztin Patientin, persönliche /psychologische Aspekte. Sexuelle Faktoren (intensiver Sex, neuer Freund, Insuffizienz, vaginale Lubrikation)
Intimhygiene (exzessives Scheuern/Waschen mit Seifen, evtl. Fixierung auf dieses Thema)
Trinkmenge, vaginale Trockenheit, Vulva-Untersuchung (Herpes, andere Läsionen)
Alarmzeichen
Über 75-jährig, bekannte urologische Probleme, angeborene Nierenabnormalität, immunsupprimiert, schwanger, Leukozytose, erhöhtes CRP, bereits durchgemachte Pyelonephritis.
Falls nein: Antibiotikafreie Therapie möglich, falls ja antibiotikafreie Therapie nur zurückhaltend (als Pyelonephritis behandeln, falls schlechter AZ oder Flankenschmerz, klopfdolent).
Keine Alarmzeichen: auch bei einer rezidivierenden Zystitis ist eine antibiotikafreie Therapie möglich.
Behandlungsoptionen: Mehr trinken, optimale, vaginale Lubrikation beim Sex, schonende Intimhygiene, vaginale fettende Gele, Öle, Crèmen, allenfalls topisches Östrogen, Meditation, Entspannung, Stressreduktion, Akkupunktur, phytotherapeutische, komplementärmedizinische Produkte, vaginale/orale Probiotika, D-Mannose, Methenamin, Urinkultur, radiologische/urologische Abklärung, Antibiotikaprophylaxe (evtl. primär postkoital).
Pneumonie: gewisse Pat. Antibiotikafrei behandeln?
Was haben wir bei Covid gelernt: zu vermeiden, dass wir immer Antibiotika geben, sondern nur bei dichten Infiltraten («Konsolidationen»), CRP <30? Neutropenie >7800 (+ «nach Gefühl»).
Faktoren, die eine bakterielle Pneumonie nahelegen:
Hyperakuter Beschwerdebeginn, septischer Schock, keine viralen Symptome (Ein-Etagen Symptomatik ohne Schnupfen, Halsweh, rote Konjunktiven). Initial milde Symptomatik, es ging sekundär schlechter («bakterielle Superinfektion»), Leukozyten >15000, <6000, Linksverschiebung, dichtes oder lobäres Infiltrat, Procalcitonin ≥0.25.
Initial antibiotikafrei behandeln? Nachkontrollieren, falls keines von diesen bakteriellen Elementen, jemand im Umfeld «viral» erkrankt, «virale», also obere Atemwegs-Symptome, fleckige oder milchglasartige Infiltrate im Röntgen, Leuk.
normal oder nur minim erhöht, Procalcitonin <0.1.
Divertikulitis – Behandlung ohne Antibiotika?
Ursache unklar – dass Bakterien eine Rolle spielen, ist heute unklar (vor 20 Jahren war dies klar und alle kriegten Antibiotika). Die Klinik korreliert schlecht mit dem Schweregrad: Es braucht ein CT für die Diagnose (alternativ US oder MR). Unkomplizierte Klinik (keine Perforation, extraluminale Luft, kein Abszess: Erstepisode 3.2% werden kompliziert, 5.7% chronisch, 3% Sigma Resektion innert 6 Monaten. Komplizierte Klinik: (gedeckte/ungedeckte Perforation, Abszess). Ob es nach Erstperiode unkomplizierter Divertikulitis eine Koloskopie braucht, ist unklar. Alle anderen Koloskopien frühestens 6 Wochen nach Divertikulitis-Episode, falls keine Koloskopie in den letzten 3 Jahren.
Divertikulitis-Behandlung
Spezielle Diät-Empfehlungen (faserreich, usw.) haben keine Evidenz. Patienten dürfen essen, was sie vertragen. Keine Evidenz, dass mit Rifaximin (Xifaxan®), Mesalazin (Salofalk®), Probiotika weniger Rezidive stattfinden. Bei unkomplizierter Klinik braucht es routinemässig keine Antibiotika. Antibiotika falls immungeschwächt oder Sepsis. Bei komplizierter Klinik braucht es normalerweise Antibiotika (aber Guidelines sagen nicht welche). IV ist besser als PO, CoAmoxi 1g 1-0-1 für 7-10 Tage oder Cipro 500mg 1-0-1 plus Flagyl 500mg 1-1-1. CoAmoxi ist gleich gut bei Divertikulitis wie Cipro/Flagyl, wie in einer US-Studie gezeigt wurde. Die Beschwerden bei Divertikulitis bessern mit und ohne Antibiotika etwa gleich schnell.
Bei wem sollten wir bezüglich antibiotikafreier und ambulanter Behandlung vorsichtig sein? Alter <18 oder >80, akute Divertikulitis Episode in den letzten 3 Monaten, Antibiotika Therapie in den letzten 2 Wochen, Immunsuppression oder substanzielle Komorbiditäten oder mehr als eines der folgenden Kriterien: Axilläre T ≥380C oder <360C, Leuk. >12000/ml oder <4000/ml, Herzfrequenz >90/min, Atemfrequenz >20/min, CRP >15mg/dl (CH>150mg/l).
Die neueste randomisierte Studie bei Divertikulitis, die erstmals ambulant aber nicht verblindet – durchgeführt wurde, zeigte gleich gute Resultate mit und ohne Antibiotika.
Sexuell übertragene Krankheiten: Erreger Übersicht
- Genitale Ulzerationen: Herpes («schmerzhaft»+ mehrere Läsionen auf gerötetem Hintergrund) >>> Syphilis («schmerzlos», oft nur eine Primärläsion)
- Urethritis Ausfluss aus Harnröhre, Brennen beim Wasserlösen: Chlamydien («transparent») >>> Gonorrhoe («eitrig»), Mycoplasma genitalium
- 90% asymptomatisch Pharynx und Anal: Gonokokken und Chlamydien: screenen/suchen falls Oralsex, Analsex, v.a. falls wechselnde Partner
- Praktisch verschwunden, dort wo HPV Impfung früh eingesetzt wurde. Anogenitalwarzen: Nicht onkogene HPV-Typen (v.a. 11 und 12), epidemiologisch mit Lungenkrebs usw. assoziiert.
- Bei jeder STI gehört welche Zusatzdiagnostik dazu? HIV Test (BAG bei jungen Frauen mit Chlamydien nicht «rentabel») Syphilis-Serologie
- Dagegen kann man impfen: Hepatitis B, HPV bei jeder STI Blick in den Impfausweis bzgl. Hepatitis B, seit 1.7.2016 auch HPV Impfung für Männer bis 26j. bezahlt, aber nur in kantonalen Impfprogrammen.
Behandlung von Genitalherpes: episodisch vs. chronisch suppressiv:
Episodisch: Bescheidener Effekt auf Heilungsgeschwindigkeit. Nicht weniger Episoden pro Jahr. Kein Effekt auf Ansteckungsrisiko bei Partner.
Suppressiv: 4 x weniger Herpes Episoden pro Jahr. Senkung des Ansteckungsrisikos für Partner. Keine langfristigen Nebenwirkungen bekannt. Dies hat enorme Bedeutung für die individuelle und öffentliche Gesundheit. Im Jahr 2004 von den US-Behörden erstmals zugelassen zur Senkung der Übertragungen auf Sexpartner. Erfahrungsgemäss nicht oft eingesetzt aber hohes Potenzial von hoher Patient:innen-Zufriedenheit.
Ceftriaxon: 3. Generation parenterales Cephalosporin, i.m. Produkt in Lidocain auflösen. Das Pulver ist das gleiche wie i.v. aber nur das i.m. Produkt wird mit Lidocain geliefert.
Guidelines CH 20121: ohne Azithromycin =OK, i.v. Ceftriaxon OK, Dosis Ceftriaxon neu 1g.
Affenpocken-Läsionen
Fieber und Krankheitsgefühl (können fehlen) gehen dem Ausschlag typischerweise 1-2 Tage voraus. Eventuell nur 1 oder wenige Läsionen. Alle Läsionen im selben Stadium papulär – vesikulär – pustulös. Eventuell «umbilikal» mit zentraler Delle (wie Bauchnabel), eventuell Verkrustung. Beginn meist im Gesicht + Verbreitung nach peripher (so war das früher). Heutzutage Beginn peri-oral, peri-anal, peri-genital, je nach Sexualkontakt. Übertragung 2022 fast ausschliesslich bei MSM mit multiplen Sexpartnern, via engen Kontakt: Hautläsionen < durch Sex Reibung /Mikroverletzungen beim Partner.
Zeit von der Exposition bis Ansteckung ca. 1-2 Wochen, maximal 3 Wochen. Diagnostik: PCR aus Läsion nach Genf (CRIVE), USZ schicken.
Massnahmen: Melden, Kontakt- und Tröpfchen Isolation zuhause oder Spital (wieso eigentlich?) bis alle Läsionen verkrustet, mind. 10 Tage (Kantonsarzt BS).
Epidemiologischer Zusammenhang gemäss CDC, d.h. mindestens eines der folgenden Kriterien:
Positives Affenpockenvirus (Orthopoxvirus) PCR, oder epidemiologischer Link zu bestätigtem oder wahrscheinlicher Affenpockenfall (in den 21 Tagen vor Symptombeginn), oder Reise (in den 21 Tagen vor Symptombeginn) in ein Land mit Affenpockenfällen.
HPV-Impfung
Impfen darf jeder Arzt/jede Ärztin, die Impfungen werden aber nur im Rahmen der kantonalen Impfprogramme und bis Alter 26 bezahlt.
Es gibt 2 Arten von Karzinomen im Hals-Rachen-Bereich;
- HPV-
Nicht durch HPV bedingte Karzinome, assoziiert mit Rauchen und Alkohol. Dort, wo weniger geraucht wird ist die Inzidenz geringer. - HPV+
V.a. HPV 16 assoziiert, v.a. Zungen- und Oropharynx, Inzidenz in den letzten 30 Jahren sehr stark zunehmend. Wegen mehr Oralsex? - V.a Männer im Alter von 45-55 Jahren, die nicht rauchen oder trinken. Sie sprechen auf Strahlen- und Chemotherapie besser an als nicht HPV-assoziierte Karzinome. Experten erwarten, dass die Impfung ähnlich gut gegen Zervix- und vor Oropharynx-Karzinomen schützt.
Die HPV-Impfung reduziert Gebärmutterhalskrebs, wie in verschiedenen schwedischen Gesundheitsregistern gezeigt wurde. (1.67 Mio. Mädchen und Frauen, die 2006-2017 zwischen 10 und 30 Jahre alt waren. Wirksamkeit von Gardasil: 63% weniger Gebärmutterhalskrebs. Impfung vor Alter 17 Jahre: 88% weniger Gebärmutterhalskrebs, Impfung nach Alter 17 Jahre: 53% weniger Gebärmutterhalskrebs.
Kommentar des Referenten: Erstmals solide Daten, dass HPV-Impfung die Krebsinzidenz senken kann. Die bisherigen Daten zeigten, dass die HPV-Impfung Dysplasien und persistierende HPV-Infektionen reduziert.
Corona-Neuigkeiten, frisch ab Presse
Der Referent berichtete vom ersten Fall einer Katze mit COVID -19 in einer COVID-19 positiven Familie, die einem Veterinär, der sie auf die Krankheit testete, ins Gesicht nieste. Diese Fälle von Katze zu Mensch-Transmission sind vermutlich selten. Forscher betonen, dass man sich um seine Katzen kümmern und vielleicht zusätzliche Vorsichtsmaßnahmen beim Umgang mit möglicherweise infizierten Katzen treffen und sie nicht aussetzen sollte.
Wird Omicron die Pandemie beenden? «Wir erleben aktuell den Übergang von der Pandemie in die Endemie. COVID-19 ist daran, dank zunehmender Immunität in der Bevölkerung zur «Erkältung», zur «Grippe» zu werden», so der Referent. Das heisst aber nicht zwangsläufig, dass die Pandemie nun zu Ende ist und dass erst im Herbst/Winter die nächste Welle kommt…
Die neue Variante BA. 4 ist noch ansteckender als BA.1 und BA.2, BA.4 ist aber weniger virulent. BA.5 ist eher etwas virulenter und befällt untere Luftwege mehr als BA.1 und BA.2.
Omikron ist ein Segen für die Ungeimpften: es ist weniger virulent als Delta war. Sehr viele Leute in der Schweiz wurden dank Omikron «natürlich» immunisiert.
Nur 89% der Schweizer Bevölkerung haben 2+COVID-Impfdosen erhalten. Das ist weniger als in anderen europäischen Ländern. Entsprechend wurden in der Schweiz mit COVID-Impfungen weniger Todesfälle verhindert als anderswo. Aber 90% der Schweizer Bevölkerung sind aktuell immunisiert (geimpft oder genesen). «Was sollte da eine Impfpflicht noch zusätzlich bringen?» fragte der Referent.
Ein paar Prognosen werden gewagt:
2+fach immunisierte Personen (geimpft und/oder genesen) sind sehr gut gegen einen schweren Verlauf geschützt (Stichwort zellvermittelte Immunität). Sie sind aber nicht gegen eine Omikron-Ansteckung geschützt (Stichwort Antikörper). Selten werden die 2+ Immunisierten künftig wegen Corona ins Spital oder sogar auf die IPS müssen. Daher wird es ab Herbst 2022 eher keine allgemeine Empfehlung für Booster geben. Der Booster wird aber im Hebst empfohlen für besonders gefährdete Personen (Alter, Komorbiditäten) und für das Gesundheitspersonal?
Omikron-spezifische Impfungen: «Ich bin nicht sicher, dass es diese wirklich braucht, und die Daten zeigen bisher nicht, dass diese Impfungen wirksamer sind als die herkömmliche Impfung. Sie wurden halt gemäss Omikron «designed» und nun haben wir bereits BA.4 und BA.5», so der Referent.
Das Coronavirus ist die Gefahr, nicht die Impfung (positive und negative Info) senkt vermutlich die Impfakzeptanz, erhöht aber das Vertrauen in die Gesundheitsbehörden. Vage, beruhigende Botschaften (nur das Positive) erhöhen die Impfakzeptanz auch nicht. Sie senken das Vertrauen in die Behörden und fördern Verschwörungstheorien.
Wir dürfen und müssen abwägen
Ohne Impfung
- mit Angst Covid zu kriegen leben müssen
- Omikron Variante ist sehr ansteckend
- Omikron verläuft meist mild und immunisiert mich gut gegen einen schweren Verlauf mit zukünftigen Varianten
- Ich mag ein 1:20K – 100K Myokarditis-Risiko für meinen 17jährigen Sohn nicht akzeptieren
- Ich bin erst 27j. und mein Risiko eines schweren Verlaufs ist weit unter 0.5%
Mit Impfung
- Mit Angst vor seltenen Nebenwirkungen leben müssen
- Komplikationsprofil und -Häufigkeit der mRNA-Impfungen sind nun gut bekannt nach 11 Mio. Dosen und 18 Monaten Beobachtungszeit
- Keine Hinweise, dass mRNA Impfungen Thrombosen verursachen
- Kein Interesse an Long COVID
- Lust auf normales Leben (Restaurant, Ferienreise, Konzert, Theater…)
- Ja, man kann COVID-Zertifikat als «indirekte Impfpflicht» interpretieren
Der Referent schloss mit einem Zitat aus der NZZ: Die geduldige Diskussion mit Corona-Leugnern und Putin-Verstehern sorgt für Inklusion. Nur wer abweichende – und seien es verrückte – Meinungen zulässt, kann auf nachhaltige Legitimation rechnen (Gujer, NZZ 25.5.2022).
Quelle: KHM, KKL Luzern, 30.6. 2022 Hauptvortrag Prof. P- Tarr
riesen@medinfo-verlag.ch