- Die Crux mit der «Action Bias», oder wenn unangebrachter Aktivismus zu unnützen Behandlungen führt
Das Bedürfnis aktiv zu handeln, auch wenn es möglicherweise gar nichts bringt, ist menschlich, und wird in den Verhaltenswissenschaften als «Action Bias» bezeichnet. Besonders ungemütlich wird es, wenn das aktive Handeln durch einen Hype befeuert wird. Jüngste Beispiele in der Prävention sind die Vitamin D-Substitution oder die Einnahme von Fischöl zur Verhinderung von osteoporotischen Frakturen und/oder kardiovaskulären Ereignissen. Hand aufs Herz, wer von uns hätte seinen Eltern oder Grosseltern bei niedrigen Vitamin D-Werten nicht zur Substitution geraten? Unser Bauchgefühl wurde bekanntlich jäh durch die Resultate der grossangelegten VITAL Studie (1) mit über 25’000 Teilnehmern korrigiert, so dass wir in Zukunft ohne Bauchschmerzen Abstand von diesen Therapien nehmen dürfen, da dadurch weder Frakturen noch kardiovaskuläre Ereignisse verhindert werden können. Auch andere Bereiche der Kardiologie unterliegen einem allgegenwärtigen «Action Bias». Denken wir nur an die allzu oft unnötigen präoperativen Abklärungen vor nicht kardialen Operationen, oder die häufig durchgeführten perkutanen Revaskularisationen bei stabilem chronischen Koronarsyndrom. Nachdem beim chronischen Koronarsyndrom der prognostische Nutzen einer perkutanen Revaskularisation bekannterweise trotz etlicher randomisierten Studien bis dato nicht gezeigt werden konnte (2), wurde jüngst unser Bauchgefühl bezüglich des Nutzens einer perkutanen Revaskularisation erneut arg strapaziert. Zum Erstaunen aller führte in der REVIVED-BCIS2 Studie eine perkutane Revaskularisation bei Patienten mit ischämischer Herzkrankeit und schwer reduzierter linksventrikulärer Pumpfunktion (LVEF ≤ 35%) nicht wie allgemein erwartet zu einer Reduktion der Mortalität oder zu weniger Herzinsuffizienz-Hospitalisationen während 3.5 Jahren (3). Kritiker der Studie mögen den «relativ» kurzen Follow-up bemängeln, oder die funktionelle Bedeutung der koronaren Herzkrankheit für die linksventrikuläre Dysfunktion in der Studienpopulation in Frage stellen. Fakt aber bleibt, dass knapp 40% aller Patienten innerhalb von 3.5 Jahren verstarben oder wegen Herzinsuffizienz hospitalisiert werden mussten, unabhängig ob sie sich einer Revaskularisation unterzogen haben oder «nur» medikamentös behandelt wurden. Angesichts dessen relativiert sich der interventionelle Aktivismus auch in diesem Bereich, sofern keine therapierefraktäre Angina pectoris Symptomatik vorliegt.
Die Ressourcen werden in absehbarer Zukunft nicht nur im Energiesektor sondern auch im Gesundheitswesen knapper und die Kosten kennen in beiden Bereichen nur eine Richtung. Evidenzbasierte Therapien von hohem klinischem Nutzen sollten deshalb konsequent umgesetzt werden. Gleichzeitig sollten wir uns hüten, einem unreflektierten «Action Bias» zu verfallen, damit wir in Zukunft nicht evidenzbasierte «low value care» minimieren können. In diesem Sinne, habe ich mich entschlossen, in Zukunft nicht in Holzvorräte, sondern in eine Solaranlage zu investieren.
Prof. Dr. med. Otmar Pfister
Otmar.pfister@usb.ch
Otmar.pfister@usb.ch
1. Manson JE et al. Vitamin D supplements and prevention of cancer and cardiovascular disease, New England J Med 2019
2. Soares A et al. Death and myocardial infarction following initial revascularization versus optimal medical therapy in chronic coronary syndromes with myocardial ischemia: a systematic review and meta-analysis of contemporary randomized controlled trials, J Am Heart Association 2021
3. Perera D et al. Percutaneous revascularization for left ventricular dysfunction, New England J Med 2022
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- Vol. 12
- Ausgabe 5
- Oktober 2022