Editorial

Der zartbittere Traum



Mehrmals am Tag bespreche ich mit Patienten die Ernährung und regelmässige Bewegung an der frischen Luft. Sei es in Bezug auf die erwünschte Gewichtsreduktion oder weil sich eine eingeschränkte Glucosetoleranz, ein ungünstiges Cholesterinprofil oder Refluxbeschwerden abzeichnen. Gemeinsam mit dem Patienten versuche ich herauszufinden, welche Anpassungen mit möglichst wenig Aufwand oder Verzicht den grössten Effekt erzielen könnten. Über die Jahre fällt mir auf, das gewisse Dinge einfacher und andere kaum verhandelbar sind, dazu gehört die Schokolade. Sofort werde ich jeweils sehr dezidiert darüber informiert, dass dunkle Schokolade sehr gesund sei und 1-2 «Reiheli» pro Tag sogar geboten sind. Nicht für weitere fundamentale Diskussionen, aber zumindest für mein eigenes Interesse habe ich versucht das Wundermittel Kakao zu ergründen.

Wirtschaftlich gesehen ist der Schokoladenkonsum – sofern sorgfältig auf eine sozioökologisch gute Herstellung geachtet wird – vermutlich eine gute Sache. In den letzten Jahren sind in der Schweiz viele kleine innovative Schokoladen-Manufakturen entstanden, was sehr sympathisch ist. Bei einem Hersteller werden die Kakao-Bohnen sogar mit dem Segelschiff beinahe CO2 neutral über den Atlantik gebracht. Im Schokoladenkonsum liegt die Schweiz weltweit ganz vorne mit 9.9kg pro Kopf im Jahr 2020, das sind rund 2 Tafeln pro Woche. Eine Tafel à 100g deckt etwa ¼ des Kalorien-Tagesbedarfs.

Die Früchte der tropischen Kakao Bäume sind sehr dekorativ und deren Samen enthalten offenbar über 300 verschiedene chemische Substanzen. Dass auch Tyramin, Salsolinol und Theobromin nachweisbar sind, beunruhigt uns nicht gross. Im Gegensatz zu Hunden, eine halbe Tafel Schokolade ist für einen Yorkshire-Terrier letal, haben wir die entsprechenden Cytochrome, können Theobromin gut abbauen und profitieren vielleicht sogar von einer möglichen stimmungsaufhellenden Wirkung. Als Internisten interessieren uns die antioxidantiv wirkenden Polyphenolen und natürlich die Flavonoide, welche vielleicht eine gefässprotektive Wirkung haben könnten.

Die in der USA gross angelegte COSMOS (Cocoa Supplement and Multivitamin Outcomes) Studie, welche über 5 Jahre 18’000 Probanden beobachtet und unter anderem von Mars Inc. mitgetragen wird, veröffentlicht Hinweise, dass die tägliche Einnahme von 500mg Kakao Flavonide in Form von Pulver eine positive Wirkung auf Herzkreislauf Erkrankungen hat. Verschiedene Zeitschriften haben diesen Hinweis aufgegriffen und den direkten Schluss, dass Schokolade gesund ist, gedruckt. Eine andere im Jahr 2017 publizierte kleine Studie gibt Hinweise, dass mit täglich 200mg Kakao Flavonide der Blutdruck um ca. 2mmHg gesenkt werden könnte. Trotz diesen positiven Hinweisen halte ich den direkten Rückschluss von der gezielten Einnahme von Kakao Flavoniden auf unsere Tafel dunkle Schokolade etwas schwierig. Dunkle Schokolade enthält pro 100g Tafel nur ca. 28mg Flavonide. Die Rechnung ist einfach, eine Tafel Schokolade pro Tag reicht vermutlich bei Weitem nicht um den in den Studien propagierten kardiovaskulär protektiven Effekt zu erzielen.

Was bleibt für den Alltag in der Praxis? Wirklich beweisende Hinweise, dass der Verzehr von Schokolade gesundheitsfördernd ist, haben wir nicht. Ein «Täfeli» oder von mir aus auch ein «Reiheli» gute Schokolade ist vermutlich aber auch keine metabolische Katastrophe, sondern ein Moment Genuss, wo die Gedanken und vielleicht sogar der Blutdruck einen kurzen Moment zur Ruhe kommen.

Dr. med. Vera Stucki-Häusler
vera.stucki@hin.ch

Dr. med.Vera Stucki-Häusler

Aerzteverlag medinfo AG
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  • Vol. 12
  • Ausgabe 10
  • Oktober 2022