Forum ONCOSUISSE

Änderung KVV/KLV betreffend Vergütung von Arzneimittel im Einzelfall (off-label-use)

Verschlechterung statt Verbesserung der Zugangsgerechtigkeit

Die Hoffnung war gross, nachdem endlich auch die Verwaltung die Ungleichbehandlung der Versicherten als nachgewiesenen Fakt bestätigte. Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) zeigte in seinem Bericht zur Evaluation der Vergütung von Medikamenten im Einzelfall nach Art. 71a-71d KVV substanzielle Unterschiede in der Beurteilung von Kostengutsprachegesuchen auf: Die Krankenversicherer vergüten Off-Label-Behandlungen uneinheitlich. Mit dem Ziel diese Situation zu verbessern, hatte der Bundesrat deshalb eine Änderung der entsprechenden Verordnungsbestimmungen in die Vernehmlassung geschickt. Das Ergebnis ist ernüchternd: Mit den vorgeschlagenen Massnahmen würde der Zugang zu Off-Label-Anwendungen insgesamt sogar verschlechtert. Neu sollen nämlich für die Vergütung im Einzelfall klinisch kontrollierte Studien vorliegen, die einen Mehrnutzen von 35% aufzeigen. Die Konsequenz eines solchen Grenzwertes wäre eine unerhörte Diskriminierung von Patientinnen und Patienten mit Krebserkrankungen und insbesondere von krebskranken Kindern.



Die Sicherstellung der Zugangsgerechtigkeit sowie der Versorgungssicherheit sind fundamentale Anliegen der Oncosuisse. Ziel ist der gerechte, sichere und rasche Zugang zu (Krebs-)Medikamenten für alle Patientinnen und Patienten in der Schweiz. Doch dieser ist heute nicht in jedem Fall gegeben, insbesondere bei sogenannten Off-Label-Behandlungen. Neben den Betroffenen von seltenen Erkrankungen werden heute rund ein Drittel aller Krebsbetroffenen und fast alle krebskranken Kinder off-label behandelt, also mit Medikamenten, die anders dosiert, in einer anderen Art oder Kombination verabreicht oder für eine andere Indikation eingesetzt werden, als sie vom Schweizerischen Heilmittelinstitut (Swissmedic) ursprüng­lich zugelassen oder auf der sogenannten Spezialitätenliste (SL) des Bundesamtes für Gesundheit aufgeführt sind. Medikamente müssen auf der SL aufgeführt sein, damit die Krankenversicherer sie vergüten. Ist dies nicht der Fall, ist eine einzelfallbezogene Kostengutsprache erforderlich, deren Voraussetzungen und Verfahren in den Art. 71a-71d der Verordnung über die Krankenversicherung (KVV) geregelt ist.

Stossende Ungleichbehandlung in der Kostenübernahme von Off-Label-Behandlungen

Der Schlussbericht zur Evaluation der Vergütung im Einzelfall vom 24. Juli 2020 (im Auftrag des BAG) zeigt die hohe Bedeutung der Artikel 71a–71d in der KVV für den raschen Zugang zu lebenswichtigen Medikamenten. Gleichzeitig bestätigen die Ergebnisse, was die Krebsorganisationen seit Jahren bemängeln: Die aktuelle Vergütungsregelung führt dazu, dass die Versicherer vergleichbare Fälle unterschiedlich vergüten. Die Ergebnisse der Evaluation zeigen substanzielle Unterschiede in den Bewilligungsquoten und den Fristeinhaltungsquoten der einzelnen Krankenversicherer auf. Während die Mehrheit der Kostengutsprachegesuche zwar schlussendlich gutgeheissen wird – häufig aber erst nach einem Wiedererwägungsgesuch und der damit unnötig grossen Bürokratie – gestaltet sich die Praxis für komplexere onkologische Fälle aufwändig und unbefriedigend. Umso weniger ist nachvollziehbar, dass mit den vorgeschlagenen Änderungen der KVV und der Krankenpflege-Leistungsverordnung (KLV) die heute uneinheitliche Vergütung von lebensnotwendigen Off-Label-Anwendungen, insbesondere der kostenintensiven innovativen Onkologika, nicht nur ungenügend verringert wird, sondern sogar noch neue Hürden geschaffen werden sollen.

Die heterogenen Beurteilungen sind unter anderem auf den Umstand zurückzuführen, dass es in der Schweiz zwar über 50 verschiedene Krankenversicherer gibt – aber keine verbindlichen, einheitlichen Nutzenbewertungsmodelle und selbst für hochkomplexe Fälle keine Experten beigezogen werden müssen. Die Entscheide der Krankenversicherer sind bisweilen intransparent und den Patientinnen und Patienten fehlen Rekursmöglichkeiten – in lebensbedrohlichen Situationen fehlt den Betroffenen die Kraft und schlichtweg die Zeit für einen langwierigen und kostspieligen Rechtsweg. Gleichzeitig ist der administrative Aufwand für alle beteiligten Akteure unverhältnismässig gross. Damit geht eine grosse Unsicherheit für Betroffene einher. Zudem spielt der Faktor Zeit eine bedeutende Rolle, da die Dauer zur Bearbeitung eines Gesuchs gerade bei Krebserkrankungen entscheidend sein kann.

Handlungsbedarf endlich erkannt, aber Vorschläge würden Zugang verschlechtern

Entsprechend begrüsst die Oncosuisse, dass der Handlungsbedarf endlich erkannt wurde. Der Bundesrat versprach, dass mit Änderungen der Bestimmungen zur Einzelfallvergütung in der KVV und der KLV die Gleichbehandlung der Patientinnen und Patienten durch die Krankenversicherer und die Transparenz verbessert werden soll mit Änderungen der Bestimmungen zur Einzelfallvergütung in der KVV und der KLV soll die Gleichbehandlung der Patientinnen und Pa­tienten durch die Krankenversicherer und die Transparenz verbes­sert werden. Die Änderungsvorschläge gehen allerdings in eine Richtung, die den Zugang zu Off-Label-Anwendungen insgesamt verschlechtern. So führt die vorgeschlagene Definition des Begriffs „therapeutischer Nutzen“ als Voraussetzung für eine Kostenübernahme im Einzelfall – mit dem Kriterium von mindestens 35% Mehrnutzen im Vergleich zu Standardtherapien oder Placebo – dazu, dass Patientinnen und Patienten der Zugang zu lebensnotwendigen Behandlungen künftig verwehrt bleibt. Dies widerspricht fundamental dem Zweck der Verordnungsbestimmungen der Einzelfallvergütung. Konsequenz eines solchen Grenzwertes wäre eine unerhörte Diskriminierung von Patientinnen und Patienten mit Krebserkrankungen und insbesondere von krebskranken Kindern. Ein klinisch sinnvoller Benefit kann auch bei einem Mehrnutzen von unter 35% bestehen. Dies muss anhand neuster wissenschaftlicher und klinischer Erkenntnisse beurteilt und kann nicht generell festgelegt werden. Deshalb fordern wir als Unterstützung der fachlichen Entscheidungskraft des vertrauensärztlichen Dienstes und zur Evaluation des therapeutischen Nutzens die Einbindung eines unabhängigen Expertengremiums.

Neue Lösungen sind gefragt – verschiedene Lösungsansätze bestehen schon lange

Um eine tatsächliche Verbesserung der heute unbefriedigenden Situation und eine effektive Verringerung der bestehenden Ungleichbehandlung zu erreichen, ist eine Vereinfachung des Gesamtprozesses sowie mehr Verbindlichkeit nötig. Denn die Situation wird sich künftig verschärfen: Off-Label-Anwendungen nehmen aufgrund des medizinischen Fortschritts hin zur modernen Präzisionsmedizin stetig zu. Es ist damit zu rechnen, dass Off-Label-Use in der Onkologie zur Regel anstelle der Ausnahme wird. Entsprechend müssen die Rahmenbedingungen grundsätzlich überdacht werden und diese als Ausnahmeregelung konzipierten Bestimmungen in einen moderneren regulären Prozess für eine breite Anwendung überführt werden. Hier sind insbesondere flexible und schnelle Zulassungs- und Vergütungsverfahren und übergreifende Prozesse gefragt.

Umso bedauerlicher ist es, dass verschiedene zielführende und von den Akteuren seit Jahren diskutierten Lösungsansätze in der Verordnungsänderung nicht berücksichtigt wurden:

  • Schaffung und verbindlicher Einbezug eines unabhängigen Expertengremiums in komplexen oder strittigen Fällen (siehe auch Forderung des Swiss Patient Acces Pilot Projekt SPAP)
  • Schaffung einer Ombudsstelle/einfacher Rekursmöglichkeit bei Ablehnung der Kostengutsprachegesuche für Patientinnen und Patienten, dies könnte auch Aufgabe des unabhängigen Expertengremiums sein
  • Schaffung eines Off-Label-Registers inkl. Kostengutsprachegesuchen und Entscheiden gemäss Art. 71a-71c, beispielsweise angesiedelt bei SGMO/SAKK
  • Digitale Plattform zur effizienten Abwicklung der Kostengutsprachegesuche

Damit der Zugang für die lebensbedrohlich erkrankten Patientinnen und Patienten sichergestellt werden kann, braucht es zudem eine Klärung bei der Kostenübernahme in Situationen, die im onkologischen Alltag immer wieder auftreten. Die Krebsorganisationen fordern deshalb eine Kostenübernahme auch bei Uneinigkeit des Krankenversicherers und des Pharmaherstellers in der Preis­verhandlung, beim Ansprechen der Patientin/des Patienten bei Therapieversuchen sowie unmittelbar bei medizinisch dringlichen Therapien, bis der Entscheid vorliegt.

Oncosuisse ersucht den Bundesrat und das Departement des Innern ausdrücklich, die Revision der Verordnungsbestimmungen betreffend Einzelfallvergütung im Sinne der Zugangsgerechtigkeit auszugestalten. Die Krebsorganisationen haben dem Bund ihre Expertise bereits zugesichert und sind bereit, sich in diesem Prozess einzubringen.

Haben Sie Anmerkungen oder Fragen? Bitte melden Sie sich: politik@oncosuisse.ch

Quelle:
1. https://www.bag.admin.ch/dam/bag/de/dokumente/e-f/evalber-kuv/2020-evaluation-art-71a-71d-kvv-schlussbericht.pdf.download.pdf/2020-schlussbericht-evaluation-art-71a-71d-kvv-d.pdf%20 (PDF, 2MB, 18.12.2020)
2. https://www.bag.admin.ch/bag/de/home/das-bag/publikationen/bundesratsberichte.html#accordion_19412211321665657878536 (PDF, 1 MB, 07.09.2022)
3. https://www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/suche-curia-vista/geschaeft?AffairId=20184098

Vergütung von Medikamenten für krebskranke Kinder in der Schweiz

Anfang September 2022 hat der Bundesrat einen Bericht zur Vergütung von Arzneimitteln für krebskranke Kinder veröffentlicht. Er hat damit einen Auftrag des Parlaments, eine Postulat der Gesundheitskommission des Nationalrates (18.4098) erfüllt. Der Bericht kommt zum Schluss, dass die Bewilligungsquote der Vergütung von Krebsmedikamenten für Kinder sehr hoch und die Gleichbehandlung durch die Versicherer gewährleistet sei. Deshalb sieht der Bundesrat keinen Handlungsbedarf, um die Einzelfallvergütung von Medikamenten spezifisch bei krebskranken Kinder zu verbessern.
Fast alle krebskranken Kinder werden im sogenannten Off-Label-Use behandelt, weil die meisten Medikamente für Krebsbehandlungen in der Schweiz nur für Erwachsene zugelassen sind. Aufgrund der kleinen Fallzahlen ist die Entwicklung und Zulassung von Medikamenten im Bereich der pädiatrischen Onkologie für die Pharmaindustrie meist nicht attraktiv. Die hohe Bewilligungsquote in der Vergütung ist laut Kinderonkologinnen und –onkologen mit grossen bürokratischem Aufwand, teilweise nur über Widererwägungsgesuche und damit Verzögerungen und grosser Unsicherheit für alle Beteiligten verbunden. Entsprechend teilt Oncosuisse die Konklusion des Bundesrates nicht, dass kein Handlungsbedarf besteht. Seit Jahren fordern die Krebsorganisationen die Schaffung und der verbindliche Einbezug eines unabhängigen Expertengremiums für komplexe Fälle zur Unterstützung der vertrauensärztlichen Nutzenbeurteilung. Zudem sollten die Kosten für Standardbehandlungen in der pädiatrischen Onkologie automatisch übernommen werden. Nur so kann gewährleistet werden, dass jedes Kind einen gleichberechtigten Zugang zur bestmöglichen Therapie erhält.
Anzufügen ist, dass mit den vorgeschlagenen Massnahmen im Rahmen einer laufenden Revision der Verordnungsbestimmungen – wie oben beschreiben – der Zugang zu lebensnotwendigen Off-Label-Behandlungen insbesondere für krebskranke Kinder massiv eingeschränkt würde. Davor warnen auch Kinderkrebsorganisationen wie die Swiss Paediatric Oncology Group SPOG und Kinderkrebs Schweiz. Die Krebsorganisationen appellieren an den Bundesrat, die Änderung der KVV und KLV nicht wie vorgeschlagen umzusetzen und die Rückmeldungen der Oncosuisse in der Stellungnahme im Rahmen der Vernehmlassung zu berücksichtigen.

Franziska Lenz

Leiterin Politik und Public Affairs Krebsliga Schweiz

info@onco-suisse

  • Vol. 12
  • Ausgabe 7
  • Oktober 2022