- Sigmund Freud: 16 Jahre Krebspatient
1923 wurde bei Sigmund Freud Krebs in der Mundhöhle festgestellt. In den nächsten 16 Jahren unterzog er sich 32 Operationen. 1939 starb er im Exil in London an einer Überdosis Morphium, die ihm sein Arzt verabreichte.

1882, im ersten Jahr der Assistenzarzttätigkeit von Sigmund Freud, wurde beim damals 26-Jährigen Typhus diagnostiziert. 1884 litt er wochenlang an Ischias. Im April 1885 erkrankte er an Pocken, die allerdings keine Narben hinterliessen. Er litt unter Arrhythmie, Spannen und Brennen in der Herzgegend, an «heissem Laufen» im linken Arm sowie Atemnot. Die befragten Ärzte waren sich nicht einig. Diskutiert wurden eine Herzmuskelentzündung und Angina-Pectoris-Anfälle. Übereinstimmend rieten ihm die Ärzte, das Rauchen einzustellen. Freud war starker Raucher: zwanzig Zigarren am Tag waren die Regel. Er war, wie er es ausdrückte, nikotinsüchtig, und er betonte, ohne Rauchen könne er keine schöpferische Arbeit leisten.
Seine persönliche Krankengeschichte weist in jener Zeit neben körperlichen Erkrankungen auch psychische Störungen auf. Er diagnostizierte bei sich selbst eine Neurasthenie, starke Stimmungsschwankungen mit ausgeprägten depressiven Perioden. Er hatte Anfälle von Todesangst, litt mehrere Jahre unter anhaltender Reiseangst, speziell in Eisenbahnen.
1917 entdeckte der 61-jährige Freud eine schmerzhafte Schwellung am Gaumen, die aber bald wieder verschwand. Mitte Februar 1923 meinte er, eine «leukoplastische Geschwulst» an seinem Kiefer und Gaumen festgestellt zu haben. In den folgenden 16 Jahren unterzog sich Freud 32 Operationen. Der Onkologe Professor Thomas Cerny beschreibt im nachfolgenden Beitrag Freuds Krankengeschichte aus heutiger Sicht.
Zwei Monate nach dem «Anschluss» am 12. März 1938 floh Freud mit Frau Martha, Tochter Anna und Chow-Chow Liin, der Kinderärztin Josefine Stross und dem Hausmädchen Paula im Orient Express Richtung London. Am 6. Juni kamen sie in Victoria Station an. Freud zog in sein neues Haus in Hampstead ein, heute Freud-Museum.
Am 27. August 1939 machte Freud die letzte Eintragung in seine «Chronik». Sie endete mit dem Wort «Kriegspanik».
Freud starb um drei Uhr morgens am 23. September 1939 an einer Überdosis Morphin, die ihm sein Arzt auf seinen Wunsch hin verabreichte. Er ist mit Frau Martha und Tochter Anna auf dem Urnenfriedhof Golders Green im Nordwesten von London beigesetzt.
Jörg Weber
Quellen: Schur, Max: «Sigmund Freud. Leben und Sterben», Suhrkamp, Frankfurt a.M., 2006
Gay, Peter: «Freud – A Life for Our Time», W.W. Norton & Co., New York, 1987
Die heutige Sicht von Prof. Dr. med. Thomas Cerny
Eine onkologische Epikrise: Sigmund Freuds Krebserkrankung
Aus heutiger onkologischer Sicht, mehr als 100 Jahre nach der Diagnose von Leukoplakien der Mundschleimhaut und später eines konsekutiven enoralen Plattenepithelkarzinoms am Gaumen, ist die Krankengeschichte von Sigmund Freud immer noch Anlass von neuen medizinischen Publikationen. Seine geniale Persönlichkeit als beobachtender Forscher, als einfühlsamer Arzt und sich selbst immer wieder ergründender Patient (in einem Brief von 1897 schrieb er: «Der Hauptpatient, der mich beschäftigt, bin ich selbst.») und sein schriftstellerisches Talent zeigen in vielen Zeugnissen beispielhaft auf, wie die chronifizierte Krebserkrankung sein Leben zunehmend beherrschte und wie er in den verschiedenen sehr beschwerlichen Phasen der Krankheit mit meist bewundernswerter Ruhe reagierte bis zur ersehnten Erlösung mittels aktiver Sterbehilfe. In der palliativen Onkologie ist die Krankengeschichte von Freud eine ergiebige historische Quelle durch seine sehr präzisen persönlichen Zeugnisse wie sich ein solcher Krankheitsverlauf auf das Leben und die Lebensqualität, den Beruf und die Familie auswirkt und wie sie auch das Denken und die Sicht auf das Leben und die Gesellschaft prägt.
Eine Epikrise aus heutiger Sicht muss die Ursache der Krankheit zuallererst erwähnen: der massive, Jahrzehnte andauernde Zigarrenkonsum vom Arzt Sigmund Freud. Wegen seiner schon im jungen Alter vorbestehenden Herz- sowie Asthenie-Beschwerden, den Migräneattacken und chronischen Infekten (Sinusitiden) wurde ihm früh von seinen behandelnden Ärzten vom Rauchen abgeraten. Damals war die ausgeprägte Karzinogenität des Rauchens allerdings noch nicht allgemein bekannt. Es wurde vielmehr in Reklamen propagiert, dass das Rauchen für die Atemwege gesund sei, weil der Rauch eine desinfizierende Wirkung ausüben sollte. Freud hatte dieses Argument gelegentlich herangezogen, um seinen weiteren Zigarrenkonsum im langen und von dauernden Infekten begleiteten Krankheitsverlauf zu rechtfertigen. Erst in den 1940er Jahren wurden die ersten epidemiologischen Studien publiziert, welche die massive Zunahme der Lungenkrebs Inzidenz und Mortalität bei starken Rauchern dokumentierten. Beobachtungen und Diskussionen zur Schädlichkeit des Rauchens gab es aber schon wesentlich früher. Freud war sich bewusst, dass er abhängig vom Zigarrenrauchen war und den (Nikotin)-Stimulus für seine Arbeit suchte, bis ans Lebensende. Aus der Krankengeschichte von Freud geht hervor, dass aus den präkanzerösen Leukoplakien (1917) sich über die Jahre ein gut differenziertes Plattenepithelkarzinom (1923) am Gaumen entwickelte. Ob es sich um eine Untervariante eines sog. verrukösen Karzinoms auf Grund des sehr langen Krankheitsverlaufs handelt, kann nicht mehr geklärt werden. Klar ist jedoch, dass er den ersten Eingriff bei einem Arzt machen liess, welcher einen Kardinalfehler beging und in einem von massiven Blutungen begleiteten ambulanten Eingriff den Tumor nur teilweise entfernen konnte. Von da an war ein kuratives Resultat nicht mehr realistisch. Warum Freud, der zu den weltbekannten Koryphäen der damals weltweit führenden Wiener Medizin problemlos Zugang hatte, sich von einem niedergelassenen, für Krebsoperationen nicht bekannten Kollegen operieren liess, bleibt ein Rätsel. Nur eine primär radikale im gesunden Gewebe erfolgte in toto Resektion hätte damals eine kurative Chance gehabt. Dabei muss allerdings vermerkt werden, dass bei starken Rauchern multiple syn- oder metachrone Karzinome nicht ungewöhnlich sind, insbesondere wenn der intensive Tabakkonsum weithin anhält, wie dies bei Freud ja der Fall war. So sind Rezidive auch in seinem Fall nicht für alle >30 weiteren Eingriffe gesichert, da es sich zumindest vereinzelt auch um neue Karzinome gehandelt haben könnte. Bemerkenswert ist, dass Freud sich bei seiner Krebsdiagnose die Frage stellt, ob es besser ist die Diagnose zu wissen oder eben nicht. Er schwankte in diese Frage. Bereits 1923 äusserte er gegenüber seinem Freund, Schüler und Leibarzt Felix Deutsch, ihm im Ernstfall zu helfen, «mit Anstand von dieser Welt zu verschwinden». Er hat eine schwere Leidenszeit erahnt und es hat ihm vielleicht geholfen so lange durchzuhalten, weil er ein selbstbestimmtes Ende von Anfang an in Betracht zog.
Heute wäre ein solches verpfuschtes primäroperatives Vorgehen bei Verdacht auf Karzinom mit makroskopisch subtotaler Resektion klar fahrlässig und würde wohl haftrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen. Eine Biopsie des Gaumentumors müsste heute als allererstes erfolgen zusammen mit einem endoskopischen, bildgebenden und laborergänzten Staging zur Sicherung des Tumorstadiums. Dann würde in einer kurativen Situation nach interdisziplinärer Tumorboard Vorstellung das empfohlene weitere Prozedere dokumentiert. Das Ergebnis müsste mit dem Patienten/Familie eingehend erläutert werden mit allen Konsequenzen an Risiken und Chancen und allfälligen weiteren Optionen.
Wir kennen das initiale Stadium nicht sicher, und es war damals auch keine den heute etablierten Stadien-Einteilungen analoge Vorgehensweise vorhanden. Doch auf Grund der damaligen Beschreibung und auch des sehr protrahierten Verlaufs über 16 Jahre ist es wahrscheinlich, dass es sich um ein noch limitiertes Stadium eines gut differenzierten Plattenepithelkarzinoms mit kurativer Chance gehandelt haben dürfte.
Für die Therapie lokoregionärer Karzinome steht heute neben der radikalen OP auch die alleinige Strahlentherapie, oder die Kombination mit systemischer Therapie, als kurative Option zur Verfügung. In den frühen Tumorstadien T1–2, N0, M0 kann die OP oder Strahlentherapie als alleinige Modalität zur Anwendung kommen. Hier müssen die Vor- und Nachteile der jeweiligen Therapieverfahren in der individuellen Situation berücksichtigt werden. Cobalt Bestrahlungen kommen bei uns heute nicht mehr zur Anwendung. Die dreidimensionale konformale Planung der Bestrahlungsfelder ist heute Voraussetzung einer kurativ intendierten Strahlentherapie. Durch die Anwendung der Intensitätsmodulierten Strahlentherapie (IMRT) oder die „imaging guided“ Strahlentherapie (IGRT) wird die Morbidität der Bestrahlung weiter reduziert. Für das primär chirurgische Vorgehen kommen heute Verfahren mit klassischen Kryoinstrumenten, mit Laserchirurgie und der transorale robotische Chirurgie zum Einsatz. Abhängig vom zu erwartenden Gewebsdefekt und funktionellen Störungen erfolgt eine rekonstruktive Chirurgie mit regionalen Lappenplastiken oder freier Lappenplastik. Standard der chirurgischen Behandlung der Halsweichteile ist heute die Neck Dissektion in entsprechenden Risikosituationen. Die Ausdehnung und Radikalität der kurativ intendierten Operation richtet sich nach der Histologie und dem T- und N-Stadium. Eine Salvage-Chirurgie kann bei Tumorprogression unter/nach primärer Radio(Chemo)therapie oder bei resektablen Rezidiv Tumoren in speziellen Situationen indiziert sein.
In den nun folgenden 16 Jahren folgten für den mit andauernden Komplikationen kämpfenden Sigmund Freud weitere 32 palliative Eingriffe, teils operativ teils mittels Cobalt-Bestrahlungen. Auch Gaumenprothesen wurden immer wieder neu angepasst und bereiteten ihm immer wieder grosse Probleme für das Sprechen und die immer schwierigere Ernährungssituation. Sie waren auch Ursache von Infektionen, Blutungen und weiteren Beschwerden wie Schmerzen und Dislokationen.
Damals standen noch keine onkologischen Systemtherapien zur Verfügung. Heute würde wohl auch die palliative Chemo und je nach Expressionsmuster des Karzinoms auch die Immuntherapie zur Palliation zumindest erwogen werden. Doch darf festgehalten werden, dass es sich vorwiegend um einen langsamen loko regionären Verlauf gehandelt haben muss, denn in einem bereits überregionär fortgeschrittenen Stadium wäre die Lebenserwartung wohl nur sehr kurz gewesen, median 1 bis maximal 2 Jahre. Gegen Ende des langen Verlaufs trotz aller Eingriffe durchbrach der Tumor immer mehr die Wange, es bildete sich ein Loch und der Tumor drohte in die Augenhöhle einzuwachsen. Qualvolle Schmerzen, eine zunehmende Kachexie, Atembeschwerden, Asthenie und Depressionen begleiteten diesen aussergewöhnlich langen Verlauf. Wegen nicht mehr beherrschbaren Infektionen mit Fäulnisbakterien war der Verlauf durch einen unausstehlichen Gestank begleitet, der sogar seinen Hund von seinem Krankenbett fernhielt.
Schliesslich wurde Sigmund Freud auf seinen ausdrücklichen Wunsch hin durch aktive Sterbehilfe erlöst. Er wurde mit 2 Morphininjektionen durch seinen befreundeten Arzt Max Schur von diesen unerträglichen Qualen am 23. September 1939 in London von seinem langen Krebsleiden befreit. Am 1. September hat Hitler mit dem Überfall Polens den Zweiten Weltkrieg ausgelöst. Das ganze Grauen des Krieges zumindest ist ihm als exiliertem Juden erspart geblieben.
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