Journal Watch

RETO KRAPFs Medical Voice



Frisch ab Presse:

Welche orale Antikoagulation bei über 80-Jährigen mit venösen Thromboembolien?

In vielen Gebieten der Medizin sind ältere Individuen in klinischen Wirksamkeits- und Sicherheitsstudien untervertreten, so auch bei der Therapie venöser Thromboembolien. Diese Gruppe von Individuen weist ein hohes Risiko auf für rezidivierende Thromboembolien, Mortalität, aber auch Blutungsnebenwirkungen, deshalb sind Informationen über die wirksamste und sicherste Antikoagulation wichtig. In einer kanadisch-deutschen Untersuchung mit mehr als 6700 durchschnittlich knapp 85-jährigen Patientinnen und Patienten und venöser Thromboembolie, waren die direkt wirkenden oralen Antikoagulantien in Bezug auf die genannten Endpunkte gleich wirksam und sicher wie die traditionelleren Vitamin-K-Antagonisten (Nachbeobachtung knapp 6 Monate), aber auch nicht besser. Rivaroxaban (60%) und Apixaban (gut 30%) waren die am häufigsten verwendeten direkt wirkenden Antikoagulantien. Beide Gruppen waren in Bezug auf Komorbiditäten (inkl. Neoplasien) und vorbestehende Medikationen ziemlich gut vergleichbar. Sie und Ihre Patientinnen und Patienten haben also die Wahl! Aus Konvenienzgründen dürften (auch) bei dieser Gruppe die direkt wirkenden Antikoagulatien oft bevorzugt werden.

Am J Medicine 2022, doi.org/10.1016/j.amjmed.2022.08.033

Vollkommen ist nur das Mass

Optimales Training zur Gesundheitsförderung

Ausdauertraining ist gemäss bisherigen Untersuchungen dosis-abhängig assoziiert mit reduziertem Risiko eine kardiovaskuläre Erkrankung zu erleiden oder gar zu sterben. Beobachtungen im Alltag können alle von uns allerdings leicht davon überzeugen, dass es deutlich zunehmend, und auch ältere, Menschen gibt, die immer mehr und intensiver trainieren und sich damit sogar einem Suchtpotential aussetzen. Unklar ist, ob das alles so bedenkenlos ist. Das hochsensitive Troponin steigt jedenfalls nach starken Ausdauerbelastungen an und wird in anderem Zusammenhang als spezifisch für einen myokardialen Schaden gesehen. Dabei kann auch eine akute rechtsventrikuläre Überlastung auftreten. Längerfristige Assoziationen mit stärkeren körperlichen Trainings bestehen für Vorhofflimmern, myokardialer Fibrose, Dilatationen der Aorta ascendens und eine Erhöhung des koronare Kalziumscores, dem sog. CAC. Dies sind Assoziationen, also keine kausalen Beziehungen. Die Langzeiteffekte von höheren Trainingsbelastungen sind es aber wert, im Auge behalten zu werden. Vielleicht kann ein optimales Training zur Gesundheitsförderung auch überschritten werden, zum Nachteil des betroffenen Individuums. Bei den verkalkten Koronarplaques von Sportlern, scheint deren Stabilität durch den Verkalkungsprozess verbessert. Also mehr Plaques, aber dafür stabilere: Beruhigend?

NEJM Evidence 2022, doi.org/10.1056/EVIDra2200175

Welche Diagnose würden Sie stellen?

Müde und reizbar mit Gewichtszunahme

Eine 21 jährige Nichtraucherin mit wirksamer Antikonzeption und mit gut behandelter Hypothyreose, beklagt Müdigkeit, Reizbarkeit, fast täglich dumpfe, somit menstruationsunabhängige Bauchschmerzen und eine Gewichtszunahme von gut 4 kg über die letzten 4 Monate. Sie ist normotensiv, und im klinischen Untersuch und «Routinelabor» unauffällig. Die bildgebenden Untersuchungen zeigen einen Nebennierentumor rechts mit mehr als 4 cm Durchmesser. Die 24h Urin-Cortisol-Ausscheidung ist normal wie auch die Katecholamine und Renin sowie das Aldosteron und die adrenalen Androgene. Das ACTH (Corticotropin) im Blut ist vermindert. Nach peroraler Gabe von 1 mg Dexamethason um 2300h ist der Cortisolspiegel im Blut am Folgemorgen nicht total supprimiert, was im Normalfall so sein sollte.
Ich vermute am ehesten (mehr als eine Antwort kann richtig sein):

1  Eine Metastase eines Lungentumors

2  Ein subklinisches Cushing Syndrom

3  Ein Nebennierenadenom («Inzidentalom»)

4  Eine Nebennierenrindenkarzinom

Antworten: Ein metastasierendes Lungenkarzinom ist in diesem Alter trotz metastatischer Prädilektion der Nebennierenrinden bei fehlendem Hauptrisikofaktor sehr selten. Eine so grosse Tumormasse ist verdächtig auf ein (per se auch seltenes) Nebennierenkarzinom. Ein supprimiertes ACTH bei fehlenden Zeichen eines Hypercortisolismus (normale 24h Cortisol Ausscheidung) ist mit einem subklinischen Cushing Syndrom vereinbar. Die fehlende Suppression des endogenen Plasmacortisols nach Gabe des exogenen synthetischen Glukokortikoides Dexamethason beweist dies. Die Konstellation ist also vergleichbar mit dem Ihnen wahrscheinlich vertrauteren subklinischen Hyperthyreoidismus (TSH supprimiert, T3/T4 – noch – normal bis nur leicht erhöht). Leider bewahrheitete sich die Diagnose eines Nebennierenkarzinoms mit subklinischem Cushing-Syndrom. Richtig sind also Antworten 2 und 4.

NEJM 2022, doi:10.1056/NEJMcpc2201250

Grenzgebiete zur Medizin

Vorteile der Menopause

Die meisten Säugetiere durchgehen keine Menopause im engeren Sinne. Neben dem Menschen bilden die Orcas («Schwertwale») und teilweise auch Elefanten bemerkenswerte Ausnahmen. Beide Spezies sind durch einen sehr langsam heranwachsenden Nachwuchs, der viele Jahre auf die Mütter angewiesen ist, charakterisiert. Der Preis, sozusagen, für das Kinderkriegen ist also für Menschen- und Orca-Mütter ziemlich hoch. Eine plausible Interpretation verschiedener Beobachtungen ist, dass bei diesen Spezies die weiblichen Mitglieder durch Sistieren der Fertilität vom Kinderkriegen und der eigenen Aufzucht der Kinder befreit werden, was ihren Erfahrungsschatz, ihre Intelligenz und, ja, auch ihre Führungsrolle nicht mehr nur auf die eigenen Kinder konzentriert, sondern auf eine ganze Gruppe ausdehnen hilft. Dies ist für die Weiterentwicklung, die Lernfähigkeiten der Gruppe/Familie, das Weitergeben alten Wissens und das Überleben der Spezies mutmasslich von grosser Bedeutung.

Lucy Cooke «Bitch. A revolutionary guide to sex, evolution and the female animal», Penguin Random House UK, 2022

Was kommt auf uns zu?

Neue Omikron-Varianten mit Immunevasion

Im Moment findet man in fast allen Journalen einen 2022 Rückblick mit den wichtigsten medizinischen Informationen dieses Jahres, aber eine Vorausschau auf 2023 würde sich lohnen. Infektiologisch sind Sie in der Praxis wahrscheinlich primär durch Influenza A Fälle und weiter mit RSV Fällen beschäftigt. Aber SARS-CoV-2 könnte uns bald wieder vermehrt auf Trab halten: Nach wie vor ist die Omikron Variante BA.5 dominant, aber verschiedene weitere Varianten haben sich daraus weiterentwickelt (sind weiter mutiert). Salopp sprechen die SARS-CoV-2 Forscher nun von einer Omikron «Variantensuppe». 2 der Varianten sind speziell ungemütlich, denn Geimpfte und früher einmal Erkrankte, weisen gegen diese extrem niedrige Antikörperspiegel auf und gegen Omikron wirksame monoklonale Antikörper scheinen gegen diese Varianten (genannt BQ und XBB) wirkungslos.

Cell 2022, doi.org/10.1016/j.cell.2022.12.018

In weniger als einer halben Minute….

Was ist eine «Flüssigbiopsie»?

Eine «Flüssigbiopsie» (liquid biopsy) ist der molekularbiologische Nachweis von im Blut zirkulierender, von einem Tumor stammender DNA (circulating tumor DNA, ctDNA, siehe Figur 2). Es gibt auch zirkulierende, nicht-tumorale DNA, sozusagen benigne zirkulierende DNA, bei einer Reihe von Organschäden, zum Beispiel myokardiale DNA nach einem Herzinfarkt. Immer präzisere Nachweismethoden und enorm ausgedehnte, schnelle DNA-Sequenzierungsmethoden («next generation sequencing», NGS) zum Nachweis der Tumor-DNA Mutationen haben in der Onkologie mit Fug ein neues diagnostisches und therapeutisches Kapitel aufgeschlagen (1).

In Figur 3 werden ein paar Möglichkeiten der ctDNA Methodik aufgezeigt, namentlich die Dokumentation einer kompletten oder nur partiellen Remission und – so die Hoffnung – einer früheren Diagnose eines Tumorrezidivs mit konsekutiv verbesserter Prognose. Bei gewissen Stadien des kolorektalen Karzinoms konnte gezeigt werden, dass den Patienten ohne postoperativen Nachweis von ctDNA die adjuvante Chemotherapie erspart werden kann, und zwar ohne Nachteil für die Prognose im Vergleich zur Kontrollgruppe mit positivem ctDNA Nachweis und folglich mit adjuvanter Chemotherapie (2). Der ctDNA Nachweis ist u.a. auch bei schwieriger oder gefährlicher Tumorbiopsie zu erwägen und sie kann dieser gegenüber auch andere diagnostische Vorteile aufweisen: So entstehen weniger Probleme mit sog. sampling errors, d.h. wenn die Biopsie nicht für den ganzen Tumor repräsentativ ist. Obwohl die erwähnten Technologiesprünge die Wahrscheinlichkeit falsch negativer ctDNA Nachweise reduziert haben, gibt es fraglos weiterhin solche und die Rate falsch negativer Nachweise muss für jede Methode und jeden Tumortyp beurteilt werden. Neben ctDNA sind auch vom Tumor stammende, zirkulierende RNA, zirkulierende Tumorzellen selbst und zirkulierende Tumorzell-Membranen (Extrazelluläre Tumorvesikel) in klinischer Evaluation als Biomarker.

1. Nature Medicine 2022 doi.org/10.1038/s41591-022-02068-8,
2. NEJM 2022, DOI: 10.1056/NEJMoa2200075

Prof. Dr. med. Reto Krapf

krapf@medinfo-verlag.ch

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  • Vol. 13
  • Ausgabe 1
  • Januar 2023