- Neue Lipidsenker – ob und wann?

Erhöhte Blutfette sind ein wichtiger, modifizierbarer Risikofaktor für Atherosklerotische Herz-Kreislauf-Erkrankungen (ASCVD). Unter neun modifizierbaren Risikofaktoren, die für mehr als 90% aller Erst-Myokardinfarkte verantwortlich sind, stehen die Blutfette mit 50% der an der Bevölkerung zurechenbaren Risiken an erster Stelle, stellte Dr. Konstantinos Koskinas, Bern, eingangs fest. LDL-Cholesterin spielt eine kausale Rolle in der Atherosklerose, wie mit klinischen pharmakologischen Studien, Beobachtungsstudien und Mendel’schen Randomisierungsstudien gezeigt werden konnte. Diese Studien haben auch eindrücklich gezeigt, dass je tiefer das LDL-Cholesterin ist, desto niedriger das Risiko für ein kardiovaskuläres Ereignis ist, und dass es kein unteres Limit für die Sicherheit gibt.
Diese Evidenz stammt vor allem aus Studien mit Statinen, der Referent zeigte aber, dass sie auch für Nicht-Statin-Medikationen gilt, z.B. für Ezetimibe. Gemäss den Lipid-Guidelines von 2019 richtet sich der Zielwert für LDL-Cholesterin nach dem kardiovaskulären Risiko des Patienten: für tiefes Risiko wird ein LDL-Zielwert von 3.0mmol<7l empfohlen, für moderates Risiko ein Zielwert von 2.6mmol<7l, für hohes Risiko ein solcher von 1.8mmol/l und für sehr hohes Risiko einen Wert von 1.4mmol<7l und jeweils ein mindestens fünfzigprozentige Senkung des LDL-Cholesterins. Die Evidenz dazu stammt aus der CTT-Meta-Analyse, hochintensive Therapie vs. Standardtherapie (LDL-C 1.71vs. 1.32, HR 0.71), der IMPROVE-IT Studie, Ezetimibe + Statin vs. Statin (LDL-C 1.8 vs. 1.4mmol<7l, HR 0.94), der FOURIER- Studie, Evolocumab+ Statin vs. Statin (LDL-C 2.37 vs. 0.78, HR 0.85) und ODYSSEY OUTCOMES, Alirocumab + Statin vs. Statin (LDL-C 2.37 vs. 1.37, HR 0.85).
Es gibt aber noch unerfüllte Bedürfnisse in Bezug auf die LDL-Senkung: im EURASPIRE-IV Survey wiesen 80.7% der Patienten nach einem Herzinfarkt einen LDL-C-Wert >1.8mmol/l auf, im EUROASPIRE V Survey waren es immer noch 71% und in der SWISS SPUM Kohorte 62.5%. Gründe dafür sind neben der fehlenden Adhärenz der Patienten, die therapeutische Trägheit der Ärzte. Der Referent konnte in einer Studie zeigen, dass nur 50% der Patienten eine hochintensive Statintherapie bei Spitalentlassung und nach einem Jahr erhalten.
Risikomanagement: Welcher Score für welche Patienten?
Bei einer nationalen Umfrage in den USA wurde festgestellt, dass die Ärzte den Risikoalgorithmus kennen, aber nur eine Minderheit ihn in der Praxis nutzt, stellte Prof. Dr. David Nanchen, Lausanne, eingangs fest. Ärzte verwenden Risikoalgorithmen auch selten zur Verschreibung von Statinen, wie eine Untersuchung in England zeigte: ein QRISK2-Score wurde bei 80% aller Konsultationen aufgenommen, Statintherapie wurde bei 25% aller Konsultationen verschreiben und 7.5% aller Konsultationen hatten sowohl einen QRISK2-Score und ein folgender Statinbeginn.
Prof. Nanchen präsentierte die Fallvignette einer 59jährigen Frau. Sie hatte keine vorbestehende kardiovaskuläre Krankheit, einen BMI von 27kg/m2, Bewegungsmangel, der systolische Blutdruck war 130mmHg in 2021 und 134mmHg Ende 2022. Sie ist Raucherin und hat keine beitragende Familienanamnese. LDL-Cholesterin war 4.8mmol/l in 2021 und 4.7mmol/l Ende 2022, HDL-c 1.4 bzw. 1.5mmol/l, Triglyceride 1.5 bzw. 1.7mmol/l, die eGFR betrug 75ml/min. Der Referent stellte die Frage nach dem koronaren Risiko in den nächsten 10 Jahren. 44% der Teilnehmer sprachen sich für 11% aus, 33% für 6% und 11% für 17% und ebenfalls 11% für ein Risiko von 22%. Das richtige Resultat war ein 6% Risiko. Die nächste Frage galt der Statintherapie. 50% antworteten mit eher ja, nach Teilung der Entscheidung mit der Patientin, 33% eher nein, nicht unmittelbar, aber nach Überprüfung und 17% antworteten mit nein, nicht vor der nächsten Kontrolle in einem Jahr.
Der Nutzen der Behandlung hängt vom kardiovaskulären Risiko ab
Der Referent zeigte das Beispiel einer Intervention, die das relative Risiko um 25% senkt. Das absolute Risiko beträgt 40% vor der Behandlung und 30% danach. Die Differenz des absoluten Risikos beträgt 10% = 0.1. Die Number Needed to Treat = 1/absolute Risikodifferenz, d.h. 10. Bei 5% absolutem Risiko und gleicher Senkung von 25% kommt man auf ein absolutes Risiko von 4%. die absolute Risikodifferenz beträgt in diesem Fall 1% = 0.01 und die NNT entsprechend 1/absolute Risikodifferenz = 100. 60% der kardiovaskulären Todesfälle sind über 75jährig.
Das kardiovaskuläre Risiko nimmt mit dem Alter zu. Das Risiko nimmt aber auch entsprechend der präexistierenden Krankheiten zu. Sehr hohes Risiko: Vorgeschichte für Herz-Kreislaufkrankheiten → Sekundärprävention (Atherosklerose mit Blutgerinnsel), Diabetes mit Organschäden oder chronische Niereninsuffizienz (CCl <30ml/min) →Kardiovaskuläre Risiko-Äquivalente. (Atherosklerose?) Hohes Risiko: Familiäre Hypercholesterinämie Diabetes (ohne Organschaden), Niereninsuffizienz (CCl <60ml/min) → Primärprävention (Atherosklerose? normale Koronararterien?).
Kardiovaskuläre Risiko-Scores
Mittel zur Abschätzung des Risikos für kardiovaskuläre Krankheit über 10 Jahre.
Traditionelle Risikofaktoren, historisches: 1998 Framingham Score, 2002 PROCAM Score, 2003 SCORE Algorithmus, 2007 QRISK in UK, 2013 Pooled Cohort Equation (PCE): AHA/ACC Guidelines, 2019 Life CVD, ESC Guidelines, 2021 SCORE2, SCORE OP.
Nach dem AGLA Risikorechner (www.agla.ch), der auf dem PROCAM Score beruht, weist die Patientin in der Fallvignette ein Risiko von 6.8% auf (niedriges Risiko). In der Abschätzung nach ESC SCORE2-OP wären es 6.2%.
Der Referent trat anschliessend auf die Begriffe Sensitivität, Spezifität und Diskriminierung ein (Wahrscheinlichkeit, dass die Scores Personen mit höherem Risiko unterscheiden). Ein Vergleich verschiedener Scores in einer Sensitivitäts-Spezifitätsanalyse zeigte für den FRS-CHD 0.69, den FRS CVD 0.71, ATPII-FRS-CHD 0.71, RRS 0.70 und AHA/ACC 0.71 an, also alle Socres mit ungefähr der gleichen Diskriminationspower. Niedrige Sensitivität bedeutet, dass ein Patient, der einen Herzinfarkt erleiden wird, nicht erkannt wird. Hohe falsch negative Rate. Eine niedrige Spezifität bedeutet, dass derjenige, der identifiziert wird, kein kardiovaskuläres Ereignis in den nächsten 10 Jahren erleiden wird. Die hohe falsch positive Rate führt zu Überbehandlung, Nebenwirkungen und finanzieller Last. Ein Vergleich der Scores von AGLA/PROCAM, ESC/SCORE und AHA/ASCVD ergab 35%, 20% und 28%. Ungefähr 30% der Patienten mit akutem Koronarsyndrom hätten für eine niedrige Präventionskategorie qualifiziert (niedrige Sensitivität). Eine Untersuchung aus dem Jahre 2015 (DeFilippis et al. Ann Intern Med 2015; 164:266-275) verglich die Guidelines der AHA/ACC und drei ältere Framingham-basierte Risikowerte. Es zeigte sich, dass diese Richtlinien kardiovaskuläre Ereignisse um 37% bis 154% bei Männern und 8% bis 67% bei Frauen überschätzten.
Ein Vergleich von SCORE1 und SCORE2 in der CoLaus-Studie zeigte, dass die vorhergesagten 10 Jahres-Risiken mit SCORE 1 bei Frauen und Männern mit hohem Risiko doppelt so hoch wie die beobachteten waren. Mit SCORE2 berechnete, vorhergesagte Risiken waren bei Frauen etwas höher als die beobachteten, bei Männern gab es mit SCORE2 eine recht gute Übereinstimmung.
Zurückkommend auf die Patientenvignette ergibt sich nach den AGLA Guidelines ein niedriges Risiko und ein LDL-C <2.6mmol/l kann in Betracht gezogen werden. Die Risikostratifizierung gemäss dem Alter würde bei unter 50jährigen ein Risiko von 2.5 bis <7.5%, bei 50-69jährigen (unser Fall , LDL-c 4.7mmol/l) 6% (5-10%) ergeben. Bei ≥70jährigen würde das Risiko 7.5% bis <15% betragen. Dies bedeutet hohes Risiko und eine Behandlung des Risikofaktors sollte unter Berücksichtigung der Risiko Modifier, des lebenslangen Risikos, des Behandlungsnutzens und der Präferenzen der Patientin in Betracht gezogen werden (Klasse IIa).
Der Referent präsentierte anschliessend Entscheidungshilfen für die Statintherapie in der Primärprävention (Nanchen D et al Revue Médicale Suisse 2016): Unter der Annahme, dass die Patienten keine Medikamente einnehmen, hätten sie beispielsweise ein Risiko von 8%, d.h. 8 Personen von 100 würden einen Herzinfarkt erleiden. Bei Behandlung mit einem Statin mittlerer Dosierung würden 6 Personen einen Herzinfarkt erleiden, 92 Personen hätten keinen Herzinfarkt und 2 Personen würden einen Herzinfarkt dank des Medikaments vermeiden, so der Referent.
Schlussfolgerungen
Primärprävention der kardiovaskulären Krankheit in der Schweiz:
- SCORE2 und SCORE2-OP scheinen gut kalibriert zu sein.
- Im Vergleich zu AGLA, erhöhen die ESC-Guidelines von 2021 die Wählbarkeit vo Patienten für Statine nicht.
- Die 2021 ESC-Guidelines erhöhen jedoch die Intensität der in der Primärprävention eingesetzten lipidsenkenden
Medikamente.
Quelle: AGLA Update Meeting, online, 1. November, 2022
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