Fortbidlung

Erleichterter Zugang zu Cannabisarzneimitteln

Was bedeutet das für Verschreibende und Medizinfachpersonen?

Seit August 2022 können Cannabisarzneimittel von Ärztinnen und Ärzten ohne Ausnahmebewilligung des Bundesamts für Gesundheit (BAG) verschrieben werden. Allerdings ist neben nötigem Fachwissen die Kostenübernahme nach wie vor eines der Hauptprobleme, woran die neue Gesetzgebung leider kaum etwas zu ändern vermag. Der vereinfachte Zugang zu Medizinalcannabis lässt eine höhere Anzahl an Patientinnen und Patienten erwarten, welche diese Therapieoption in Anspruch nehmen möchten. Verschreibende und Pflegefachpersonen sollten auf die Gesetzesänderung durch gezielten Wissenstransfer, Fortbildungen und interprofessionellen Austausch vorbereitet werden.



Since August 2022, cannabis medicinal products can be prescribed by doctors without an exceptional authorisation from the Federal Office of Public Health (FOPH). However, apart from the necessary expertise, the assumption of costs is still one of the main problems, which the new legislation will unfortunately hardly be able to change. This simplified access to medicinal cannabis leads us to expect a higher number of patients who would like to make use of this therapeutic option. Prescribers and caregivers should be prepared for this change through targeted knowledge transfer, training and interprofessional exchange.
Key Words: medicinal cannabis, legislation, therapeutic option, interprofessional

Was führte zur Gesetzesänderung?

Die Motion Kessler, (nach Margrit Kessler, einer St. Galler Intensivpflegefachfrau und ehemaligen Nationalrätin) ebnete den Weg für das neue Medizinalcannabis Gesetz. Bis August 2022 zählte Cannabis gemäss Betäubungsmittelgesetz zu den verbotenen Substanzen. Cannabis durfte für medizinische Zwecke von Ärztinnen und Ärzten mit einer Ausnahmebewilligung des BAG verschrieben werden (i.d.R als Formula Magistralis). Vor etwa 5 Jahren gab es gem. BAG ca. 3000 solcher Ausnahmebewilligungen mit steigender Tendenz. Bei 12’000 Sonderbewilligungen im Jahre 2021 konnte man kaum noch von Ausnahmebewilligungen ausgehen und eine Gesetzes­änderung drängte sich auf, um der Realität besser zu entsprechen.

Deshalb wurde ein interprofessionelles Fachgremium eingesetzt, welches durch eine grossangelegte Stakeholderbefragung im Auftrag des BAG einen Handlungsbedarf belegen konnte, dem diese Gesetzesänderung nun auch grösstenteils Rechnung trägt.
Ärztinnen und Ärzte können neu Cannabisarzneimittel mit einem Betäubungsmittelrezept verschreiben, ohne zusätzlichen Antrag beim BAG – das bedeutet, Entscheidungsfreiheit (keine limitierten Indikationen mehr) und Therapieregime liegen nun vollständig in den Händen der Ärzteschaft. Die zuständige regulierende Behörde ist neu Swissmedic. Diese hat eine obligatorische Meldepflicht zur verordneten Therapie und zum Therapieverlauf über das im BAG verortete, digitale Meldesystem MeCanna eingeführt. Man erhofft sich prospektiv Daten generieren zu können, welche langfristig für Forschungsfragen und für etwaige Gesetzesanpassungen wertvoll sein können.

Cannabinoide und ihr Potential

Durch die bahnbrechende Entdeckung des Endocannabinoid-Systems (ECS, Abb. 1) in den 1990er Jahren war es erstmals möglich, Einblick in die Wirkweise des Cannabis, besonders des Hauptwirkstoffes THC (Tetrahydrocannabinol) zu bekommen. Dem folgte ein regelrechter, immer noch anhaltender Forschungsboom. Fankhauser und Eigenmann beschreiben das Endocannabinoidsystem als «ein hochkomplexes körpereigenes Regulationssystem, das im Nervensystem und in vielen weiteren Organen wichtige biologische Funktionen ausübt (Fankhauser und Eigenmann, S. 67). Das ECS ist daran beteiligt, das Gleichgewicht (Homöostase) des Organismus aufrecht zu erhalten. Es wird bei Bedarf (zum Beispiel bei Stress) aktiviert:

  • um zu entspannen
  • um zu ruhen
  • um sich anzupassen und zu vergessen (Erholung von internem und externem Stress)
  • um zu schützen (Reduktion von Entzündungen und übermässiger Aktivität von Neuronen)
  • um zu essen (Erhöhung von Hunger, Essen, Energiespeicher)

Die Aktivierung des ECS erfolgt durch die Aktivierung von Cannabinoid-Rezeptoren (CB, Abb. 2 und 3) durch körpereigene Substanzen (sogenannte Endocannabinoide), durch von aussen zugeführte Cannabinoide wie THC oder Cannabinoid-Mimetika.

Vincenzo die Marzo (Forschungsdirektor am Institute of Biomolecular Chemistry of the National Research Council (ICB-CNR) Pozzuoli, Neapel) fasst es so zusammen: «Das ECS ist lebenswichtig, es vernetzt Prozesse, die steuern, wie wir ausruhen, essen, vergessen und uns schützen.»

Das ECS ist also ein körpereigenes System, welches reguliert, stabilisiert und das Gleichgewicht erhält.
Die bekanntesten der über 140 Cannabinoide, wissenschaftlich untersucht und in der Praxis eingesetzt, sind THC und CBD (Tab. 1). THC und CBD können zur symptomatischen Therapie einer Vielzahl von Erkrankungen eingesetzt werden. Die wissenschaftliche Evidenz ist sehr unterschiedlich (siehe dazu Therapieempfehlungen aus der und für die Praxis auf der Webseite der SGCM sowie unter «Medikamente» eine (nicht vollständige) Auswahl an Magistralrezepturen, THC/CBD, THC only und CBD only)

Die Wirkung von Cannabispräparaten ist sehr individuell und dosisabhängig. Die Non-Responder-Rate für THC-haltige Cannabispräparate beträgt ca. 30%. Gemäss aktuellem Wissensstand resp. der vorhandenen Literatur kann eine Cannabismedikation nicht als First-Line Behandlung empfohlen werden. Jede Anwendung ist zum aktuellen Zeitpunkt als ein individueller Therapieversuch zu betrachten, wenn die Guideline-konforme Behandlung nicht wirksam ist oder aufgrund von Nebenwirkungen nicht toleriert wird.

Kontraindikationen

Als absolute Kontraindikationen für medizinische Cannabispräparate gelten eine Allergie oder Überempfindlichkeit auf Cannabis, THC bzw. CBD oder herstellungsbedingte Begleitstoffe (z.B. Erdnussöl bei Sativaöl 1%, Sesamöl bei Epidyolex®).
Bei THC ist zudem eine strenge Indikationsstellung angebracht bei:

  • schwerwiegenden kardiovaskulären Erkrankungen
  • (manifeste koronare Herzkrankheiten, Herzrhythmusstörungen, Angina pectoris, Herzinfarkt, u.a.)
  • schwerwiegenden psychiatrischen Erkrankungen
    (v. a. Psychosen und Panikattacken, auch in der Anamnese)
  • manifeste oder ehemalige Suchterkrankung
  • Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren

Von einer Anwendung von THC oder CBD in der Schwangerschaft und Stillzeit wird abgeraten. Die medizinische Fachinformation ist bezüglich Kontraindikationen, Nebenwirkungen etc. zwingend zu konsultieren bei registrierten Präparaten.

Applikationsformen und Eindosierungsregime

Bei der oralen Applikationsform trägt der first-pass-Effekt dazu bei, dass dies die kostspieligste Option ist, da ein grosser Teil der Wirksubstanz durch die Leber abfiltriert und inaktiviert wird. Besonders aus Kostengründen und schnellerem Wirkungseintritt wird aktuell tendiert, Cannabislösungen sublingual zu verabreichen. Die Erfahrungen damit sind sehr gut und interessanterweise zeigt sich in der Praxis, v.a. bei Hochaltrigen oder moribunden Patienten, dass Microdosing (tgl. 1-3mg THC pro Tag) schon effektiv sein können.

Die Behandlung mit medizinischen Blüten, welche in einigen Ländern bereits zugelassen ist, birgt etliche Fragen und Stolpersteine. Häufig wissen Patienten nicht richtig, wie sie die Cannabisblüten anwenden sollen (Einnahme als Tee oder in Form von Keksen, Einatmen als Dampf wie beim Rauchen oder «Basteln eines Öles»). Dies und der mangelnde Wirkeffekt führen oft dazu, dass ihre behandelnden Ärztinnen und Ärzte diese Option als nutzlos einstufen und davon abraten. Die Option «Blüten verdampfen» kann für eine bestimmte Patientengruppe sehr effizient sein, ist aber meist für ältere Menschen wegen des schnellen Wirkungseintrittes eher mit Nebenwirkungen behaftet. Wichtig zu wissen bei Verdampfen:

  • Wirkungseintritt innert weniger Minuten
  • Max. Wirkung innerhalb 5 Min. (gut bei einschiessender Spastik u/o Muskelkrämpfen, wenn eine Dauertherapie mit Lösungen nicht gewünscht wird oder nicht finanzierbar ist)
  • Schneller Wirkungsabfall nach 2-3 h
  • Beim Rauchen (Kiffen): Inhalation von toxischen Verbrennungsstoffen – Cellulose verbrennt bei ca. 240 Grad
  • Beim Inhalieren: keine Verbrennungsstoffe freigesetzt, da nur verdampft – bei ca. 200 Grad (Lösungstemperatur für Cannabinoide)
  • Es können auch andere Pflanzen «inhaliert» werden (sofern Verdampfungstemperatur bekannt ist)
  • kontrollierte Therapie erschwert – schnelles Anfluten der Cannabinoide, kein konstanter Wirkspiegel, nach 2-3 Std. Wirkung am Abklingen
  • Handling aufwändig
  • kleiner Inhalator oder (medizinisch zugelassener) Volcano oder Mighty nötig, Kosten ca. 200.- bis 500.-

Bei der Eindosierung von medizinischen Cannabislösungen gilt «start low, go slow, stay low», das heisst, täglich in kleinen Schritten aufdosieren, bis die individuell wirksame Dosis erreicht ist. Es kann auch nach 2-3 Monaten eine «Therapiepause» gemacht werden und danach, falls nötig, wieder wie zu Beginn eindosiert werden. Oft kann dann eine geringere Dosis schon genügen.

Interaktionen

Wichtig sind in der Medizinalcannabis Anwendung eine strenge Indikationsstellung, eine Monitorisierung und der Einbezug der Patienten mit ihren Angehörigen, damit diese gut beobachten können wegen möglicher Interaktionen.

Wichtig zu wissen:

  • Wirkungsverstärkung von Opiaten, sedierenden Substanzen, Antidepressiva, Alkohol
  • Betablocker können Herzfrequenzsteigerung durch THC blockieren
  • THC kann antiepileptische Wirkung der Benzodiazepine verstärken
  • kann augeninnendrucksenkende Medikamente verstärken
  • kann antipsychotische Wirkung von Neuroleptika reduzieren, ev. bessere Ansprechbarkeit durch besseren Wachheitszustand
  • Suchtentwicklung bei medizinisch indizierter Anwendung: vernachlässigbar!

Vorsicht:

  • NSAR und Aspirin können THC-Wirkung beeinträchtigen
  • in Kombination mit Amphetaminen, Adrenalin, Kokain, Atropin → Pulsanstieg möglich
  • INR kann schwerer einstellbar sein unter CBD

Der Einsatz von Medizinalcannabis kann, wie eine Arbeit aus den USA zeigt, dazu beitragen nebenwirkungsbehaftete Medikamente und eventuell deren Abusus zu reduzieren (Abb. 4).

Nebenwirkungen

Nebenwirkungen sind dosisabhängig und individuell verschieden. International werden Benommenheit und Schwindel als häufigste Nebenwirkung angegeben. Daneben werden Mundtrockenheit, Übelkeit, Kopfweh, Herzrasen, Zunahme des Appetits, gesteigerte Sinnesempfindungen bis Halluzinationen (individuell variabel), reduzierter oder erhöhter Antrieb, Einschränkung der Fahrtüchtigkeit (bei Cannabis gilt ein formelles Fahrverbot), Euphorie oder Dysphorie, Angst und Panik bei stärkerer Überdosierung als Nebenwirkungen genannt.

Was kann getan werden: bei gleicher Dosierung bleiben, 1-2 Tage mehr ausruhen, ausreichend essen und trinken, wodurch die Nebenwirkungen verschwinden können. Wenn nicht, kann die Tagesdosis um 1mg THC reduziert werden.

Wildwest, Goldgräberstimmung und Gefahren im Cannabismarkt Schweiz

Das Potenzial von Cannabisarzneimitteln, die Lebensqualität vor allem im Kontext chronischer Erkrankungen massiv zu verbessern, haben Patientinnen und Patienten schon vor längerer Zeit entdeckt und Hunderte von Foren zeigen den regen Austausch der verschiedenen Gruppen untereinander. Der bislang erschwerte Zugang sowie die exorbitant hohen Kosten von Medizinalcannabis (Magistralrezepturen) führten allerdings dazu, dass sich Pa­tientinnen und Patienten oftmals notgedrungen illegal mit Cannabis versorgten und in vielen Fällen immer noch versorgen müssen. Die gesundheitlichen Konsequenzen daraus können gravierend sein. In den vergangenen Jahren führte der Bezug über Illegalität/Schwarzmarkt die Patientinnen und Patienten zu Produkten, die oft verunreinigt waren (Pestizide, Fungizide, Herbizide, Schwermetalle) und bei denen es nicht immer möglich war, genau dosieren zu können, da entsprechende Angaben zu Qualität, Inhaltsstoffen und Konzentration medizinisch wirksamer Bestandteile fehlten. Dies weil cannabishaltige Tinkturen unter dem Chemikaliengesetz (günstig) hergestellt wurden und somit nicht für den medizinischen Gebrauch zugelassen waren. Die nötigen Anforderungen für die medizinische Inverkehrssetzung wurden also gar nicht erfüllt und oft konnte man auf den diversen Produktverpackungen auch «Nicht einnehmen» lesen. Ganz davon abgesehen gab es viele Hersteller, welche die schweizerische Limite von 1% THC (relevant für BtM) geringfügig unterschritten und so Tinkturen verkauften, welche bis zu 0.9% THC enthielten und es gerade bei uninformierter Anwendung in etlichen Fällen zu gesundheitlichen Schäden kam. Es durfte auch nicht informiert werden, da es untersagt war, unter dem Chemikaliengesetz hergestellte Cannabislösungen als Heilmittel/Medikament zu verkaufen und eine Beratung anzubieten. In der Realität geschah genau das, in grossem Stil durch Hunderte von neuen CBD-Firmen und CBD-Shops im Pseudo-Apotheken Outfit. Dies zeigte sich v.a. bei älteren Personen in schwindelbedingten Stürzen mit Oberschenkelfrakturen/Schädelverletzungen, Kopfschmerzen, Übelkeit etc., da sie nicht realisierten (nicht realisieren konnten, da nur deklariert war THC <1%), dass ihr «Schlaf- oder Schmerzöl» THC enthielt und dies bei falscher Dosierung Nebenwirkungen mit Folgen haben könnte.

Diese Gesetzeslücke wurde ebenfalls angegangen, da die unter dem Chemikaliengesetz hergestellten cannabishaltigen Lösungen nun neu vergällt werden müssen – um sie so für den medizinischen Gebrauch ungeniessbar zu machen, was aber nicht bedeutet, dass diese Lösungen nicht wirksam sein können. Sie erfüllen einfach die gesetzliche qualitative und sicherheitstechnische Voraussetzung (GACP, GMP, GDP, genaue Inhaltsangaben) für den medizinischen Einsatz nicht.

Patientinnen und Patienten haben sich organisiert

Der wachsende Wissensstand durch regen Austausch unter Patientinnen und Patienten im Bereich Cannabis als Medizin, gepaart mit der eingeschränkten Verfügbarkeit bedingt durch die hohen Kosten von Medizinalcannabis als Therapieoption und hohem Leidensdruck, führte zur Gründung des Medical Cannabis Vereins Schweiz (MEDCAN). Dieser von Patientinnen und Patienten initiierte und geführte Verein hat zum Ziel, den Austausch zwischen Betroffenen zu fördern, den Zugang und die Anwendung von Cannabisarzneimitteln zu erleichtern, sowie für das Thema gesellschaftlich und politisch zu sensibilisieren und es voranzubringen. Zudem fordert der Verein, dass Gesundheitsfachpersonen umfassend zum Thema Cannabis als Arzneimittel aus- und weitergebildet werden. Der Verein Medcan ist deshalb auch aktiv im Vorstand der SGCM vertreten.

Wer geht zu MEDCAN?

(Quelle: Interview mit Felix Iten, Vorstand MEDCAN Patientenorganisation in ZH, März 2022)
Verzweifelte, hoffnungslose P

  • Verzweifelte, hoffnungslose Patienten, die sich allein gelassen fühlen, mit enormem Leidensdruck, welchen gesagt wurde «man kann Ihnen nichts mehr bieten», «austherapiert, Sie müssen damit leben …»
  • letzte Option, um Hilfe zu bekommen bei der Patientenvereinigung, da «sonst niemand Bescheid weiss»
  • Positive Fallbeispiele der Wirksamkeit von Cannabis bei vielen Beschwerden und auch kausale Erfolge bei verschiedenen Krebsarten, «inoffizielle» Informationen wie zum Beispiel «hochdosiert THC als Rektalapplikation bei Prostata Carcinom half», Austausch und Hilfe in Forumsdiskussionen, Tipps aus Familie/Bekanntenkreis
  • Grosses Knowhow/Vernetzung/Solidarität vorhanden, meistens Nicht-Medizinalpersonen, welche teilweise erstaunlich wirksame Präparate (illegal) herstellen
  • «leichterer» Zugang zu Cannabis als Medizin mit entsprechenden Risiken (fragliche Qualität, keine Standardisierung, etc.)

Welche Schnittmengen gibt es mit der Onkologie?

Es gibt valide Gründe, die für den Einsatz von Medizinalcannabis bei onkologischen Patienten als Add-on-Therapie sprechen. Bei Chemotherapie kann es symptomatisch/adjuvant eingesetzt werden bei Übelkeit, Brechreiz, Appetitlosigkeit, Schmerzen, Abmagerung, Diarrhoe und Kopfschmerzen. Bei Tumor- oder Durchbruchschmerzen setzt der österreichische Arzt Dr. Kurt Blaas Medizinalcannabis ein. In der Praxis zeigte sich bei Nervenschädigungen und -schmerzen nach Chemotherapie, wie beim «burning hand and feet»-Syndrom, Medizinalcannabis (Tagesdosis 3-6mg THC) als eine der erfolgversprechendsten Optionen. Dies praktisch ohne Nebenwirkungen, was man bei vielen neurologischen Analgetika weniger sagen kann.

Der Einsatz von Medizinalcannabis kann die Lebensqualität vor, während und nach der Chemotherapie/Bestrahlung verbessern helfen. Es kann die Verarbeitung und Bewältigung der Situation erleichtern, durch innere Distanzierung und rationaleren Zugang (THC bedingt), den Schlaf besser initialisieren und die Schlafdauer und -tiefe verbessern, die Muskelentspannung fördern, den Appetit steigern, Übelkeit und Angst reduzieren. Im Vergleich zum potentiellen Benefit ist die Toxizität gering, das Nebenwirkungsprofil günstig und somit ein Therapieversuch gerechtfertigt.

Dr. Ethan B. Russo sieht cannabisbasierte Medikamente sogar als «First Line Treatment» in der Behandlung von Spastik und Chemotherapie-assoziierter Übelkeit und Erbrechen und erwartet, dass Cannabis schnell an Bedeutung in der Behandlung von therapieresistenter Epilepsie gewinnen wird (Fankhauser und Eigenmann, S. 201).

Bei therapiebedingten Hautproblemen (schmerzende Stellen, Rötungen) durch Bestrahlung kann zum Beispiel eine CBD-Creme 20% helfen Schmerzen oder Entzündungen zu reduzieren – dies war am diesjährigen Cannabis-Kongress in Basel zu erfahren.

Auch im Sterbeprozess kann Medizinalcannabis, rechtzeitig eingesetzt, Leiden reduzieren, so etwa bei Muskelkrämpfen, Spastik, Atemnot, Schlaflosigkeit, Angst. Am Basler Kongress beschrieb eine Pädiaterin das hilfreiche Potential von Medizinalcannabis bei sterbenden Kindern. Erfahrungen aus Spanien zeigten, dass der kausale Einsatz (als Add-on) von CBD bei Brusttumoren durch Hemmung von Frühmetastasierung bei bestimmtem Mamma Ca und bei bestimmten Hirntumoren erfolgversprechende Resultate in Pilotstudien präsentierten, welche Anlass zur Hoffnung geben.

Was in der Medizinalcannabis Beratung von onkologischen Patienten oft geäussert wird, ist die Angst, darüber mit den Onkologen zu sprechen. Betroffene verschweigen die Einnahme von Cannabis gegenüber den Onkologen aus Angst keine Therapie mehr zu bekommen bzw. nicht mehr betreut zu werden, weil ihre Behandelnden dagegen sind oder äussern, dass sie nur etwas einsetzen, das sie kennen. Ganz davon abgesehen kann die Einnahme von Cannabis ein Ausschluss-Kriterium für onkologische Studien sein, worauf die Betroffenen ihre ganze Hoffnung setzen. Es gibt in der Literatur jedoch Hinweise, dass Cannabis einen Einfluss auf die Wirksamkeit von Therapeutika haben kann im Sinne einer Wirkungsverstärkung oder aber, je nach Rezeptormechanismus des Tumors, auch kontraindiziert sein kann. In jedem Fall lohnt es sich, einen erfahrenen Cannabis-Pharmazeuten beizuziehen, um eine seriöse Abklärung vorzunehmen, wie die Praxis zeigt. Dies ergibt eine grössere Therapiesicherheit und beruhigt Betroffene.

Cannabisforschung

Obwohl die Anzahl der medizinischen Cannabis Publikationen in den letzten Jahren explodiert ist, gibt es immer noch enormen Forschungsbedarf. Eine der grossen Herausforderungen ist, dass Forschungsfragen anders gedacht werden müssen. Mechanistisches, binäres Denken führt, wie in der Vergangenheit gesehen, kaum zum Erfolg. Daneben ist das Interesse, in die Cannabisforschung zu investieren, eher gering, begründet auch durch die minime Chance auf einen potentiellen Blockbuster. Forschungsarbeiten zeigen zudem unpassende Designs, nicht standardisierte Lösungen, inhomogene oder zu kleine Populationen, unterschiedliche Applikationsformen und nicht angepasste Dosierungen. Dies führt zu einer Nichtvergleichbarkeit der Daten und steht oft in krassem Gegensatz zu den wachsenden, häufig vielversprechenden «real World Data», welche bisher aber nicht systematisch erfasst wurden. Diese Situation soll sich nun mit dem MeCanna-Erfassungstool des BAG zumindest datentechnisch verbessern.

Die Rolle der Pflegefachpersonen

Pflegefachpersonen waren bislang in ihrer klinischen Praxis unregelmässig mit der Anwendung von Cannabisarzneimitteln konfrontiert. Es kommt zwar je nach Setting immer wieder zu Betreuungssituationen, in denen sich Patientinnen und Patienten mit chronischen Erkrankungen mit Cannabis «selbst» therapieren, im Behandlungsplan wird dies aber oftmals ausgeklammert. Ein Grund dafür ist, dass auch Ärztinnen und Ärzte häufig über wenig Wissen zum Anwendungsgebiet sowie zur Indikation und Dosierung von Cannabisarzneimittel verfügen. Zudem finden sich bei Gesundheitsfachpersonen häufig Vorbehalte zur Anwendung der Substanz. Mit der eingangs erwähnten Gesetzesänderung und der verstärkten Forderung von Patientenseite ist davon auszugehen, dass die Verschreibungsrate von Cannabisarzneimitteln in den nächsten Jahren bedeutend zunehmen wird. Die Rolle der Pflegefachpersonen wird in diesem Kontext zunehmend wichtiger – vor allem in der Beratung von Patientinnen und Patienten und ihren Angehörigen können sie eine Schlüsselposition einnehmen. Aspekte der pflegerischen Beratung können u.a. Fragen rund um die Indikation, Dosierung und Einnahmeform von Cannabisarzneimitteln sein. Ferner können Pflegefachpersonen Verantwortung im Zuge des Monitorings der Cannabistherapie übernehmen, um beispielsweise unerwünschte Arzneimittelwirkungen zu erfassen und frühzeitig entgegen treten zu können. Eine strukturierte interprofessionelle Abstimmung ist hier unerlässlich, sodass das Potenzial der Therapie ausgeschöpft werden kann und gleichzeitig auch die Verschreibenden entlastet werden könnten. Grundlage dafür ist allerdings eine fundierte Fortbildung. Vorstandsmitglieder der Schweizerischen Gesellschaft für Cannabis in der Medizin haben gemeinsam mit Vertreterinnen des Departements Gesundheit der OST-Ostschweizer Fachhochschule eine interprofessionelle Fortbildung entwickelt, die gezieltes Wissen zum Thema Cannabis als Arzneimittel vermittelt: Das Kompetenzzentrum OnkOs der Ostschweizer Fachhochschule bietet in regelmässigen Abständen gemeinsam mit Vorstandsmitgliedern der SGCM-SSCM die Online-Fortbildung: Cannabis als Arzneimittel «From plant to patient» an.

Die Fortbildung besteht aus zwölf Videolektionen sowie einem interaktiven Live-Online-Tag. Der Inhalt wird regelmässig auf den aktuellen Stand adaptiert und hat auch zum Ziel eine Schweizer Unité de Doctrine im Bereich Anwendung von Medizinalcannabis und ein landesweites Netzwerk zu fördern. Zum Zielpublikum gehören Ärztinnen und Ärzte, Apothekerinnen und Apotheker sowie Fachpersonen aus den Bereichen Pflege, Physiotherapie und Psychologie. Die Weiterbildung ist von zahlreichen Fachgesellschaften akkreditiert.

Fazit

Die Therapie mit Cannabisarzneimitteln ist vielversprechend. Bei zahlreichen Erkrankungen und Symptomen konnte bereits eine Wirksamkeit zur Linderung nachgewiesen werden. Zu berücksichtigen ist, dass es sich um kein «Wundermittel» handelt, das bei jeder Patientin und jedem Patienten hilft. Durch die Änderung der Gesetzeslage sowie die zunehmende Forderung von Patientenseite wird die Therapie mit Cannabisarzneimitteln in den nächsten Jahren markant zunehmen. Vertieftes Wissen aller beteiligten Gesundheitsfachpersonen ist daher notwendig.

Danksagung: für die freundliche Überlassung von Informationen und Grafiken von Dr. Simon Nicolussi, Cannabisspezialisierter Pharmazeut, ic-cure.ch, simon.nicolussi@ic-cure.ch, Inputs von Prof. Andrea Kobleder, FH OST, andrea.kobleder@ost.ch

Copyright bei Aerzteverlag medinfo AG

Bea Goldman

MSc, Medical Cannabis Nurse, RN Intensive Care,
ALS Care Expertin
Gründungs-/Vorstandsmitglied SGCM
Ifangweg 5
9423 Altenrhein

goldman@caregiver-center.ch

Die Autorin hat keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

◆ Interprofessionalität ist wichtig
◆ gute Patienteninformation (auch an Angehörige), Angstreduktion
◆ Suchtpotential vernachlässigbar
◆ Therapietreue einfordern und Monitorisierung
◆ Frühzeitiges Abklären bzgl. Indikationen/Interaktionen
◆ Dosierungsregime: «Start low, go slow, stay low»
◆ Cannabis hat im Vergleich zur geringen Toxizität enormes Benefit Potential – auch zur Verbesserung der Lebensqualität der verbleibenden Zeit – und noch weiter zu entdeckendes kausales Potential

 

– Franjo Grotenhermen: Endogene Cannabinoide und das Endocannabinoidsystem. In: von Heyden M., Jungaberle H., Majić T. (eds) Handbuch Psychoaktive Substanzen. Springer Reference Psychologie. Springer, Berlin, Heidelberg, 2018, pp 411-420, doi:10.1007/978-3-642-55125-3_39, ISBN 978-3-642-55125-3
– E. B. Russo: Beyond Cannabis: Plants and the Endocannabinoid System.
In: Trends in pharmacological sciences. Band 37, Nummer 7, Juli 2016,
S. 594–605, doi:10.1016/j.tips.2016.04.005, PMID 27179600 (Review).
– T. T. Lee, B. B. Gorzalka: Evidence for a Role of Adolescent Endocannabinoid Signaling in Regulating HPA Axis Stress Responsivity and Emotional Behavior Development. In: International review of neurobiology. Band 125, 2015,
S. 49–84, doi:10.1016/bs.irn.2015.09.002, PMID 26638764.
– Raphael Mechoulam, Linda A. Parker: The Endocannabinoid System and the Brain. In: Annual Review of Psychology. 64, 2013, S. 21–47,doi:10.1146/annurev-psych-113011-143739
– Franjo Grotenhermen, Kirsten Müller-Vahl: Das therapeutische Potenzial von Cannabis und Cannabinoiden. In: Dtsch Arztebl Int 2012, 109(29-30),
S. 495–501, doi:10.3238/arztebl.2012.0495.
– Cannabis in der Medizin, Geschichte, Praxis, Perspektiven, Fankhauser & Eigenmann, 2020, Nachtschatten Verlag
– Handbook of Cannabis , R. Pertwee , 2014
– Cannabis – Was man weiss und was man wissen sollte, P. Cremer Schaeffer
– Online aktuell: in Überarbeitung, Handbuch Cannabismedizin www.praxis suchtmedizin.ch

info@onco-suisse

  • Vol. 13
  • Ausgabe 2
  • März 2023