Editorial

Das Ende des «Medico-Ökozän»?



«Die Verschlechterung des Gesundheitswesens ist krass» (Basler Zeitung 2023); «Wir stehen am Rande des Zusammenbruchs» (Sonntagszeitung 2023); «Bis das System irgendwann kollabiert» (NZZ 2022) …

Solche oder ähnliche Schlagzeilen ist man seit Jahren gewohnt und sie entlocken der Leserin und dem Leser vielleicht noch ein Kopfnicken und einen beiläufigen Kommentar. Nun wird aber ein neues Szenario angemahnt: «Unterversorgung mit Ansage» (SaeZ Nr.7.2023). In ihrem Leitartikel analysiert die FMH-Präsidentin Yvonne Gilli präzis die Versorgungssicherheit im Gesundheitswesen und kommt zum Schluss: die Aussichten sind düster, eine schnelle Lösung der Probleme ist nicht realistisch. Nur, ganz so neu ist diese Erkenntnis nicht. Schon 2014 hat die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) in ihrem Positionspapier: «Medizin und Ökonomie – wie weiter?» in fast prophetischer Weise auf die Gefahren hingewiesen, welche durch eine fehlgeleitete Ökonomisierung und zunehmende Kommerzialisierung der Medizin entstehen. So sind etwa Qualitätseinbussen durch fehlgeleitete Effizienzsteigerung oder Interessenkonflikte, in denen sich Ärztinnen und Ärzte gegenüber den medizinischen Institutionen befinden, Folgen dieses Systems. Eine andere, nicht weniger üble Auswirkung ist die Unterwanderung der Beziehung zwischen Ärztin/Arzt und Patientin/Patient. Diese wirkungsvolle und therapeutisch wertvolle Verbindung wird durch betriebswirtschaftliche Prozesse, standardisierte und maximierte Arbeitsabläufe zunehmend erodiert. Die Zeit, welche für die ärztliche Konsultation zur Verfügung steht, wird vermehrt reglementiert, reduziert, kontrolliert und «optimiert». Die Patientinnen und Patienten reklamieren zu Recht, dass die Ärztin/der Arzt sich immer weniger Zeit für sie nehmen können. So werden die Patientinnen und Patienten ihrer Persönlichkeit beraubt, sie sind zu Leistungsempfängern degradiert worden und ihre Krankheit verkommt im Gesundheitsmarkt zur Ware.

Der Arztberuf als freier Berufsstand, mit seinem Berufsethos, dem «medical professionalism» als eigentlichem Nucleus, welcher die sinngebende ärztliche Tätigkeit induziert, hat einen schweren Stand und fristet innerhalb der «ökonomisierten Medizin» ein Schattendasein. Als Ausdruck der Geringschätzung des «medical professionalism» in diesem System sei an die Semantik von Ärztin/Arzt zu Leistungserbringern erinnert, welche vor mehr als 20 Jahren den Paradigmenwechsel einleitete. Zudem wird der Beruf der Ärztin/des Arztes «deprofessionalisiert»: die ärztliche Zuständigkeit und die Selbständigkeit nehmen ab, das ärztliche Handeln hängt immer mehr von anderen Mitspielern wie beispielsweise den Juristen, den Versicherern, den Ethikern und Managern ab. Aber auch innerhalb der Medizin besteht die Gefahr, dass die vermehrte Spezialisierung und Fragmentierung selbst zu Abhängigkeiten führt, da sich nicht mehr alle an die Richtlinien des eigenen Berufsethos halten. Das Berufsbild erodiert und verliert so an Attraktivität.

Scheint sich langsam die Epoche der fehlgeleiteten Ökonomisierung, das «Medico-Ökozän», wie man es nennen könnte, selbst zu erledigen?

Wäre es nicht an der Zeit, dass sich die Stakeholder des Gesundheitswesens einmal ihre eigenen Positionen und Standpunkte überdenken?

Ist es so falsch, als ersten Schritt der notwendigen Kulturänderung das Genuine der ärztlichen Tätigkeit – die Arzt-Patientenbeziehung – ins Zentrum der Diskussion zu setzen?

Ist es so falsch, dafür den Patientinnen und Patienten (nicht den Leistungsempfängerinnen und Leistungsempfängern) und den Ärztinnen und Ärzten die notwendige Zeit zur Verfügung zu stellen? Zeit, die nicht kleinkrämerisch tarifiert und rationiert wird, sondern so, dass sie effektiv zur Genesung der Kranken beitragen kann?

Bewahren uns nicht ein aufmerksames Zuhören, eine zielgerichtete Anamnese, eine professionell durchgeführte klinische Untersuchung und ein vertrauliches ärztliches Gespräch vor unnötigen medizinischen Untersuchungen und Prozeduren, welche um einiges kostenintensiver sind?

«Der Standpunkt einer Kultur ist immer der Standpunkt ihrer Mitmenschlichkeit» (Adalbert Stifter).
Die Ärzte dürfen nicht in der Rolle der Betroffenen verharren. Als Partner im Gesundheitswesen ist ihre Rolle als Akteure gefragt!

Dr. med. Christian Häuptle

Dr. med. Christian Häuptle

Gossau

haeuptle@hin.ch

der informierte @rzt

  • Vol. 13
  • Ausgabe 3
  • März 2023