Editorial

Demenz und Autonomie



Neben akuten gesundheitlichen Problemen äussern Patienten häufig in die Zukunft gerichtete Ängste, den Verlust der Mobilität oder die Abnahme der kognitiven Fähigkeiten. In einem Gespräch rund um die Patientenverfügung können diese Ängste gut aufgegriffen und die individuelle Perspektive in Bezug auf Lebensqualität analysiert werden. Es ist jedes Mal spannend und wertvoll zu erfahren, wie verschieden die Blickwinkel z.B. in Bezug auf eine Demenz-Krankheit sind.

Eine ehemalige NZZ-Auslandskorrespondentin mit einer bemerkenswerten Lebensgeschichte äussert: «Demenz ist für mich kein Problem, wenn ich niemanden mehr erkenne und keinen Satz gerade formulieren kann, das ist nicht schlimm. Solange ich mit meinen Sinnen das Leben geniesse, singe und tanze und mich über die Blumen freuen kann, solange möchte ich leben». Im Gegensatz dazu, wünscht ein ehemaliger Oberrichter festgehalten zu wissen: «Sobald ich einer Diskussion nicht mehr differenziert begegnen kann, verliere ich meine Würde und so möchte ich nicht mehr leben. Beim ersten Anzeichen von Demenz bitte ich, mein Leben mit Exit abzuschliessen».

Die Krankheitslast des Symptomkomplexes Demenz mit kontinuierlichem Abbau von kognitiven, emotionalen und sozialen Fähigkeiten wird nicht von allen gleich schwer beurteilt. Trotzdem dürfte es für die Mehrheit als Schreckensgespenst in den Köpfen spuken und wir müssen uns mit dem juristisch-medizin­ethischen Spannungsfeld Urteilsfähigkeit, fortschreitende Demenz, Autonomiewunsch und Berechtigung zum assistierten Suizid auseinandersetzen.

In der im Mai 2022 von der FMH verabschiedeten SAMW-Richtlinien zu «Sterben und Tod» sind die Leitplanken für einen assistierten Suizid formuliert. Mit dem Fallbeispiel des Oberrichters versuche ich den Handlungsspielraum auszuloten. Die Bedingung, dass medizinisch fassbare Krankheitssymptome und Funktionseinschränkungen vorliegen müssen, lässt sich durch die testbasierte Diagnose einer Demenz einfach erfüllen. Auch das Argument des dauerhaften, unabhängig von Dritten, entstandenen Sterbewunsches lässt sich durch kontinuierliche Gespräche erbringen. Meiner Meinung nach ist aber das zeitgleiche Vorliegen eines für Dritte nachvollziehbaren subjektiv erlebten unerträglichen Leidens im Rahmen einer Demenz und einer uneingeschränkten Urteilsfähigkeit in Bezug auf Suizid eine sehr schwierige Gratwanderung. Anders formuliert: Solange eine uneingeschränkte Selbstreflexion in Bezug auf Suizid möglich ist, kann eine Demenz vermutlich nur schwer als unerträgliches Leiden eingestuft werden. Nicht die Krankheit, sondern die Angst, was kommen könnte, ist für den Patienten unerträglich. Vielleicht ist es nicht unmöglich, Patienten in einer solchen Situation mit dem Wunsch eines assistierten Suizids zu begleiten. Ganz sicher muss aber der Zeitpunkt einer Suizidhilfe bei dementen Patienten sehr sorgfältig, schrittweise und unter Abstimmung mit weiteren Fachärzten koordiniert werden, damit das vage juristisch-medizinethische Eis nicht unter unseren Füssen wegbricht.

Trotz meiner liberalen Haltung der Suizidhilfe gegenüber und Engagement für die Autonomie der Patienten, ist der Sterbewunsch bei einer Diagnose Demenz zwar nachvollziehbar, aber gesellschaftlich auch problematisch. Ich denke es ist wichtig, dass die juristisch-medizinethischen Hürden unbedingt hoch gesteckt bleiben. Es könnte ansonsten ein gesellschaftlicher Druck entstehen, so dass sich Patienten zunehmend als Belastung für ihr Umfeld und die Gesellschaft wahrnehmen, und sich zu einer solchen radikalen Option gedrängt fühlen. Der Gedanke der Autonomie muss daher auch in diesem gesellschaftlichen Kontext gedacht werden.

Dr. med. Vera Stucki-Häusler

Dr. med.Vera Stucki-Häusler

Aerzteverlag medinfo AG
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  • Vol. 13
  • Ausgabe 5
  • Mai 2023