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SGAIM Frühjahrskongress in Basel



Künstliche Intelligenz im Diabetes-Management

Braucht es uns Diabetologen und Diabetologinnen noch? Diese Frage stellte Frau Prof. Dr. med. et phil. Lia Bally, Bern, eingangs ihres Referats in den Raum. Die künstliche Intelligenz ist eine computergestützte menschenähnliche Entscheidungsfindung. Künstliche Intelligenz als Medizinprodukt für Diagnose und Screening, Prognose, Behandlungsunterstützung und Entscheidungsfindung.

Die Referentin stellte künstliche Intelligenz/Maschinenlernen den physiologischen/mechanistischen Modellen bei komplexen Problemen wie Voraussage, Klassifizierung gegenüber. Neuronale Netzwerke/Deep Learning kann Probleme mit mehreren räumlichen und zeitlichen Skalen angehen und erfordert grosse Datensätze (1000e von Probanden). Die physiologischen/mechanistischen Modelle beschreiben einen physiologischen Prozess, können kleine Datensätze verarbeiten, brauchen Zeitreihendaten. Als Beispiele nannte die Referentin die Glukose-Insulin Rückkoppelungsschleife und das künstliche Pankreas. Sie stellte das kontinuierliche subkutane Glukose-Monitoring mit den entsprechenden Schwankungen innerhalb der Zielzone und das künstliche Pankreas (Closed loop/automated insulin delivery system) vor. Es existiert derzeit eine erhebliche Menge an automatisierten Insulinverabreichungssystemen auf dem Markt (Medtronic 670G und 780G, Tandem Control IQ, CamAPS FX, DBLG1, Omnipod 5, Tidepool Loop, Inreda (nicht kommerziell), Beta Bionic iLET).

Nutzen der automatisierten Insulinabgabe (AID) bei Typ 1 Diabetes

Zunahme der Time in Range ca. 9-16% (>2h/Tag), Abnahme der Time below Range (Nacht > Tag). Abnahme HbA1c 0.3-0.5% (am grössten bei denjenigen mit höherem basalem HbA1c). Lebensqualität/Benutzerfreundlichkeit: Abnahme der Belastung durch das Diabetes-Selbstmanagement, Zunahme der Freiheit und der Schlafqualität, Verminderung der Angst vor Hypoglykämie. Potenziale für Verbesserungen sind Gerätelast, Materialschlacht, Hautprobleme, Probleme der gemeinsamen Nutzung von Daten / Interoperabilität zwischen Geräten, vertragliche Abhängigkeiten, Probleme in der Lieferkette.

Diabetesmanagement im Spital

Etwa eines aus fünf Krankenhausbetten wird von einer Person mit Diabetes belegt. Dazu kommt der Pflegekräftemangel und seine Auswirkungen auf die Patientenpflege. Die automatisierte Insulinabgabe wird auch im Spital für das Diabetesmanagement angewandt. In der medizinisch/chirurgisch nicht kritischen Pflege ergab die vollautomatische Closed Loop Insulinabgabe (FC)L vs. Kontrolle 24 Prozentpunkte mehr Zeit mit Glukose im Zielbereich im Vergleich zur üblichen Versorgung (66% vs. 42%), jeweils täglich 6 zusätzliche Stunden. Bei der parenteralen und/oder enteralen Ernährungsunterstützung ergab die FCL 32 Prozentpunkte mehr Glukose im Zielbereich im Vergleich zur Standardpflege (68% vs. 36%), täglich 8 zusätzliche Stunden. Bei hospitalisierten Dialysepatienten wurden 38 Prozentpunkte mehr Zeit mit Glukose im Zielbereich gegenüber der Kontrolle täglich gemessen, 9 zusätzliche Stunden. gemessen (69% vs. 32%). In der perioperativen Pflege (gemischte elektive Chirurgie) ergab die FCL vs. Kontrolle 22 Prozentpunkte mehr Zeit mit Glukose im Zielbereich im Vergleich zur üblichen Pflege. (77% vs. 55%), täglich 5.5 zusätzliche Stunden.

Patientenbeispiel totale Pankreatektomie

Der 65jährige Patient litt an T2DM. Er erhielt Insulin Degludec 70-0-0. Dapagliflozin 10mg 1-0-0. Metformin 1-0-1. HbA1c 8.0%, BMI 28.8kg/m2. Die Zeitpunkte der Operation waren 1225h Induktion der Anaesthesie, 1340h Inzision, Start der Operation, 2014h Naht, Ende der Operation. Die intraoperativ verabreichten Medikamente waren 1250h 8mg DXM, 1330h 0.2mg Octreotid, 1910h 0.2mg Octreotid. Die Glukosekonzentration war während der gesamten Operationszeit im Zielbereich (5-10mmol/l), meist um 7 mmol/l.

Dies vollständig geschlossene Insulinabgabe entlastet das Krankenhauspersonal. Die Zeitersparnis bei Diabetespatienten über alle Behandlungsperioden beträgt 2.1 bis 4.5Stunden.

Smart Pens

Digitale Dosiserfassung, Echtzeit-Konnektivität (App, Glucose-Sensor), Integration mit personalisierter Entscheidungshilfe für die Dosierung.) Etablierte Produkte sind NovoPen 6/ Echo (CE mark 2019), Medtronic InPen (CE-mark 2021). Da die Smart Insulin Pens auf dem Weg der digitalen Transformation weiter voranschreiten, können weitere Vorteile erwartet werden: iterativ verbesserte Software, maschinelles Lernen und fortschrittliche Entscheidungsunterstützung.

Das Management von Diabetes ist aber mehr als Glukosekontrolle: Screening auf diabetische Retinopathie: automatische Bildanalyse mit Deep-Learning Algorithmen, behördliche Zulassung der ersten Anwendungen (IDx-DR device. Digitale Diagnostik), Herausforderungen bei der Umsetzung sind regulatorische Herausforderungen, Interoperabilität, Heterogenität der nationalen Screeningprogramme.

Lebensstil (Diät und Bewegung)

Das fehlende Teil sind Änderungen des Lebensstils. Eine Studie, die im Rahmen der routinemässigen Primärversorgung untersuchte, ob intensives Gewichtsmanagement zu einer Remission des Typ2 Diabetes führt, zeigte, dass nach 12 Monaten die Hälfte der Patienten eine Remission zu einem Non-Diabetes-Status ohne antidiabetische Medikamente führte (Lean MEJ et al. Lancet 2018). Die Remission von Typ2 Diabetes ist ein praktisches Ziel für die Grundversorgung.

Künstliche Intelligenz und maschinelles Lernen wurde auch bei der automatisierten Nahrungsanalyse eingesetzt: Lebensmittelnachweis, Segmentierung von Lebensmitteln und 3D Rekonstruktion, Schätzung von Volumen/Gewicht von Lebensmitteln, Analyse der Nährstoffe in Lebensmitteln.

DIe Referentin erwähnt ferner die tragbaren und digitalen Geräte zur Überwachung und Behandlung von Stoffwechselkrankheiten und OVIVA, die personalisierte Ernährungsberatung für Versicherte der Helsana, CSS, Swica und über 50 weitere Versicherungen.

Der digitale Zwilling

Das Daten gesteuerte virtuelle Abbild eines Patienten kann verwendet werden, um individuelle Risiken und deren Veränderung durch spezifische Interventionen zu zeigen. Dies führt zur Verbesserung des Verständnisses der Patienten dafür, wie sich verschiedene Gesundheits- und Lebensstilfaktoren und -änderungen auf ihre kardiometabolischen Risiken auswirken. Umsetzung der Ernährungsempfehlungen in die Praxis, natürliche Sprachverarbeitung von Ernährungs- und Rezeptdatenbanken, der Rezeptorgenerator mit künstlicher Intelligenz.

ChatGPT

Kann ChatGPT unseren Diabetesberatern eine gewisse Last abnehmen? Die Referentin warnte vor mit künstlicher Intelligenz generiertem Inhalt (z.B. ChatGPT): Trainiert vor 2021, keine Quellenangabe, nicht auf dem gesamten Werk biomedizinischer Daten erstellt, wie Volltext-Artikel hinter der Paywall von grossen Verlagen und auch nicht von medizinischen Experten getestet. Neigung zu Halluzinationen (ungenaue Informationen, die sprachlich flüssig präsentiert werden). Viele Bedenken hinsichtlich Copyrights, Plagiarismus etc. Hauptbedenken ist die Patientensicherheit, ChatGPT sollte nicht ohne fachkundige menschliche Aufsicht verwendet werden.

Fazit

  • Rasche Entwicklung von Wearables und digitalen Gesundheitstechnologien
  • Automatisierte Insulinabgabe hat die Pflege von Personen mit Typ 1 Diabetes revolutioniert
  • Künstliche Intelligenz/Maschinenlernen (KI/ML) sind vielversprechend
  • Risiko von «Black Box» Ansätzen
  • Herausforderungen in Bezug auf Datenschutz, Datenzugang, Haftung und Ethik
  • Es gibt nur wenige KI/ML-fähige Geräte mit behördlicher Genehmigung
  • Mehr Forschung und Schulung des medizinischen Personals sind erforderlich
  • Synergie zwischen Mensch und KI
Prof. em. Dr. Dr. h.c. Walter F. Riesen

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  • Vol. 13
  • Ausgabe 7
  • Juli 2023