- Modernes Management von Keimzelltumoren des Hodens im Stadium II
Die häufigste maligne Erkrankung bei Männern im Alter von 20 bis 40 Jahren sind Hodentumore. Knapp 500 Männer erkranken pro Jahr an einem Hodentumor in der Schweiz, was ungefähr 1% aller malignen Erkrankungen entspricht (1). Keimzelltumoren des Hodens machen 95% aller Hodentumoren aus und werden in Seminome und Nicht-Seminome unterteilt. Weitere Histologen, wie Sertolizell-Tumoren oder Sarkome, machen weniger als 5% aus. Dieser Artikel gibt einen Überblick über die Behandlungsmöglichkeiten dieser Tumorarten.
The most common malignant disease in men aged 20 to 40 years is testicular tumor. Just under 500 men develop a testicular tumor each year in Switzerland, representing approximately 1% of all malignancies (1). Germ cell tumors of the testis account for 95% of all testicular tumors and are divided into seminomas and non-seminomas. Other histologic types, such as sertoli cell tumors or sarcomas, account for less than 5%. This article provides an overview of the treatment options for these tumor types.
Key Words: testicular tumor, germ cell tumors, seminomas, non-seminomas.
In der Schweiz werden etwa 80% der Seminome und 50% der Nicht-Seminome im Stadium I diagnostiziert, d.h. die Tumorerkrankung ist klinisch auf den Hoden begrenzt (2). Nach der Entfernung des Hodens werden je nach Risikoeinteilung entweder eine aktive Überwachung (active surveillance) oder eine adjuvante Chemotherapie empfohlen.
Bei Diagnosestellung liegt in etwa 10% der Seminome und 25% der Nicht-Seminome ein Stadium II mit Metastasen in Lymphknoten (LK) unterhalb des Zwerchfells vor, wobei am häufigsten das Retroperitoneum betroffen ist. Abhängig von der Grösse der LK Metastasen erfolgt eine Einteilung in Stadium IIA (≤2 cm), IIB (2-5 cm) oder IIC (>5 cm). Das Stadium II ist insofern sehr heterogen, als es ein grosses Spektrum beinhaltet, das von einer einzelnen LK Metastase von 1,1 cm bis zu mehreren grossen LK Metastasen reicht.
Mit der Zunahme der aktiven Überwachung im Stadium I wächst die Zahl der Patienten, die mit einem Rezidiv in der Nachsorge auffallen. Wenn dies früh diagnostiziert wird, entspricht es meist einem Stadium II. Diese Patienten mit einem Rezidiv werden genauso wie Patienten mit einem de-novo Stadium II behandelt.
Eine besondere Herausforderung stellt die korrekte Diagnose des Stadiums IIA dar. Kleine, unspezifisch reaktiv vergrösserte LK im Retroperitoneum können den falschen Eindruck einer Metastasierung erwecken und zu einer Übertherapie führen. Falls die Tumormarker negativ sind, sollte in dieser Situation keine Therapieentscheidung getroffen werden. Stattdessen wird eine Verlaufskontrolle mittels Bildgebung in etwa 8 Wochen empfohlen. Nur bei eindeutiger Progression kann von einem Stadium II gesprochen werden. Im Zweifelsfall ist eine Biopsie notwendig. Die Durchführung eines PET CT bringt keine zusätzlichen Erkenntnisse und sollte unterlassen werden. Neue Tumormarker für die korrekte Stadieneinteilung und Therapieüberwachung könnten zukünftig hilfreich sein. Am erfolgversprechendsten erscheint die MicroRNA-371a-3p (3). Dieser wird auch in der Schweiz in einer prospektiven Studie geprüft (SAG TCCS), ist aber für den klinischen Einsatz noch nicht bereit.
Seminom Stadium II
Patienten mit einem Stadium IIA/B Seminom können entweder mit einer paraaortalen und pelvinen Radiotherapie mit 30Gy (Stadium IIA) / 36 Gy (Stadium IIB) oder einer Polychemotherapie mit 3 Zyklen Cisplatin, Etoposid, Bleomycin (BEP) bzw. 4 Zyklen Cisplatin, Etoposid (EP) behandelt werden (4). Die Heilungsrate mit nur einer dieser Modalitäten liegt bei über 90%. Die Radiotherapie kommt eher im Stadium IIA zum Einsatz, die Chemotherapie wird im Stadium IIB präferiert. Die wenigen Rezidive zeigen sich nach Radiotherapie ausserhalb des bestrahlten Gebiets (mediastinal, Lunge) bzw. primär im Retroperitoneum nach Chemotherapie. Patienten mit einem Stadium IIC erhalten immer eine Polychemotherapie mit 3 x BEP oder 4 x EP, eine Radiotherapie ist aufgrund der hohen Gefahr von weiteren Fernmetastasen nicht zielführend.
Sollten nach erfolgter Therapie noch Restbefunde vorliegen, ist folgendes Vorgehen empfohlen: bei Restbefunden < 3 cm darf von alleiniger Nekrose ausgegangen werden und der Patient geht in die Nachsorge. Bei Restbefunden > 3 cm ist der Stellenwert der Fluor-18-Deoxyglucose Positronen-Emissions-Tomographie (FDG-PET) umstritten (5). Empfohlen werden primär bildgebende Kontrollen mittels CT. Bei Grössenkonstanz bzw. Regredienz der Befunde erfolgen weitere Verlaufskontrollen. Einzig bei Progress sollte eine weiterführende Therapie mit einem spezialisierten Zentrum besprochen werden.
In den letzten Jahren wurden verschiedene neue Ansätze zur Therapieoptimierung beim Seminom Stadium IIA und IIB unternommen. Ziel dabei war es, die Kurzzeit- und Langzeittoxizitäten der Standardtherapie zu minimieren bei unverändert gutem Outcome.
Eine primäre retroperitoneale Lymphadenektomie (RLA) zur Vermeidung jeglicher Strahlen- und Chemotherapie wurde in mehreren kleinen prospektiven Studien beim limitiert metastasierten Seminom (IIA und ausgewählt IIB bis ≤ 3 cm) untersucht (6). Technisch ist die RLA in erfahrenen Händen machbar und mit niedrigen Toxizitätsraten verbunden. Die Nachbeobachtungszeit der Studien ist bislang mit etwa 2 Jahren noch recht kurz, so dass keine Aussage zur Langzeiteffektivität getroffen werden kann. Die Rezidivrate liegt bei mindestens 20%, mit längerer Nachbeobachtung sogar bei 30% (7). Die Aufarbeitung der Resektate zeigte, dass bei bis zu 20% der Patienten gar kein Stadium II vorlag (pN0), was gewisse Zweifel bezüglich der Patientenselektion aufwirft und erneut die Wichtigkeit der Wiederholung der Bildgebung vor therapeutischen Entscheidungen unterstreicht (8). Ausserhalb von Studien wird die RLA nicht empfohlen.
Die französische SEMITEP-Studie hat eine Deeskalation der Chemotherapie basierend auf einem Zwischenstaging mit FDG-PET getestet (9). Patienten erhielten zunächst 2 x EP und wurden bei Ansprechen nur noch mit 1 Zyklus Carboplatin AUC7 behandelt. Bei fehlender Response erhielten sie die komplette Standard-Chemotherapie mit weiteren 2 x EP. In der Studie wurden Patienten mit einem Seminom im Stadium IIA-III, schwerpunktmässig IIB, eingeschlossen. Knapp 70% der Patienten hatten eine gute Response nach 2 x EP und wurden deeskaliert behandelt, die 3-Jahres-Rezidivrate lag bei ca. 10%. Aufgrund der knappen Nachbeobachtungszeit und der Studienmethodik hat dieses Vorgehen noch keinen Einzug in die Praxis gefunden. Die Strategie wird aktuell in der Nachfolgestudie EDEN (NCT05529251) weiterverfolgt.
Die schweizerisch-deutsche Studie SAKK 01/10 untersuchte die Kombination aus 1 Zyklus Carboplatin AUC7 und 30 Gy (IIA) oder 36 Gy (IIB) einer reduzierten «involved-node» Radiotherapie (10). Nach einer medianen Nachbeobachtungszeit von 4,5 Jahren lag die 3-Jahres-Rezidivrate bei 7%, Rezidive traten v.a. im Stadium IIB auf und konnten alle mit einer Standardchemotherapie erfolgreich behandelt werden. Die Verträglichkeit der Behandlung war exzellent; mehr als die Hälfte der Patienten entwickelten keinerlei Nebenwirkungen der Therapie und bislang sind auch keine Spätkomplikationen aufgetreten. Das Konzept wird in der aktuell laufenden Studie SAKK 01/18 (NCT03937843) weiterverfolgt.
Nicht-Seminom Stadium II
Bei den Nicht-Seminomen im Stadium II wird grundsätzlich eine Polychemotherapie basierend auf der Risikogruppeneinteilung gemäss IGCCCG empfohlen. Diskussionslos ist dies bei Patienten mit erhöhten und steigenden Tumormarkern der Fall, unabhängig von der Grösse der LK Metastasen. Die meisten Patienten sind dabei aufgrund der zumeist tiefen Tumormarkern in der «good prognosis group» und erhalten daher 3 x BEP oder 4 x EP. Die Heilungsrate beträgt > 95% (4).
Eine Besonderheit stellen Patienten mit negativen Tumormarkern nach Entfernung des Primärtumors und Vorliegen von möglichen LK-Metastasen dar. Entscheidend ist auch hier, dass bei Tumormarker-negativen Patienten mit gering vergrösserten retroperitonealen LK keine überstürzten Entscheidungen getroffen werden. Primär ist eine bildgebende Verlaufskontrolle in 8 Wochen vorzunehmen. Bei rascher Progression ist auch bei anhaltend normalen Tumormarkern primär eine Polychemotherapie analog den Marker-positiven Stadien empfohlen.
Für marker-negative Nichtseminome im Stadium II mit geringer Dynamik soll eine primäre RLA erwogen werden, da in bis zu 20% ein reifzelliges Teratom vorliegen könnte. Die RLA sollte in einem erfahrenen Zentrum vorgenommen werden. Falls die histologische Aufarbeitung den Nachweis von nichtseminomatösem Keimzelltumor ergibt, sollte eine adjuvante Chemotherapie mit 1-2 Zyklen BEP erfolgen.
Anders als beim Seminom müssen beim Nicht-Seminom sämtliche Restbefunde mit einer Grösse von > 1 cm nach Abschluss der Chemotherapie reseziert werden. Dabei finden sich in etwa 50-60% nur Nekrose, jedoch in 30-40% Teratom und in weniger als 10% noch vitale nicht-seminomatöse Tumoranteile. In diesem Fall sollte das Prozedere mit einem spezialisierten Zentrum besprochen werden.
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Die Autoren haben keinen Interessenskonflikt
in Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.
◆ Bei den Keimzelltumoren des Hodens im Stadium II handelt es sich um eine meist kurativ behandelbare Erkrankung.
◆ Es ist entscheidend, die Fallstricke zu kennen, um einerseits unnötige Übertherapie mit entsprechender Morbidität zu vermeiden und andererseits Untertherapie mit der Gefahr der erhöhten Mortalität zu verhindern.
◆ Bei unklaren Situationen empfiehlt sich immer die Kontaktaufnahme mit einer Spezialistin oder einem Spezialisten zur Besprechung des weiteren Prozederes.
1. Bundesamt für Statistik. (2022). Krebs, Neuerkrankungen und Sterbefälle: Anzahl, Raten, Medianalter und Risiko pro Krebslokalisation. https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/gesundheit/gesundheitszustand/krankheiten/krebs/spezifische.assetdetail.23566677.html
2. Rothermundt, C., Thurneysen, C., Cathomas, R., Müller, B., Mingrone, W., Hirschi-Blickenstorfer, A., Wehrhahn, T., Ruf, C., Rothschild, S., Seifert, B., Terbuch, A., Grassmugg, T., Woelky, R., Fankhauser, C., Kunit, T., Fischer, N., Inauen, R., Kamradt, J., Ziegler, K., … Gillessen, S. (2018). Baseline characteristics and patterns of care in testicular cancer patients: first data from the Swiss Austrian German Testicular Cancer Cohort Study (SAG TCCS). Swiss Medical Weekly, 148(July), w14640. https://doi.org/10.4414/smw.2018.14640
3. Dieckmann, K. P., Radtke, A., Geczi, L., Matthies, C., Anheuser, P., Eckardt, U., Sommer, J., Zengerling, F., Trenti, E., Pichler, R., Belz, H., Zastrow, S., Winter, A., Melchior, S., Hammel, J., Kranz, J., Bolten, M., Krege, S., Haben, B., … Belge, G. (2019). Serum Levels of MicroRNA-371a-3p (M371 Test) as a new biomarker of testicular germ cell tumors: Results of a prospective multicentric study. Journal of Clinical Oncology, 37(16), 1412–1423. https://doi.org/10.1200/JCO.18.01480
4. Honecker, F., Aparicio, J., Berney, D., Beyer, J., Bokemeyer, C., Cathomas, R., Clarke, N., Cohn-Cedermark, G., Daugaard, G., Dieckmann, K.-P., Fizazi, K., Fosså, S., Germa-Lluch, J. R., Giannatempo, P., Gietema, J. A., Gillessen, S., Haugnes, H. S., Heidenreich, A., Hemminki, K., Horwich, A. (2018). ESMO Consensus Conference on testicular germ cell cancer: diagnosis, treatment and follow-up. Annals of Oncology : Official Journal of the European Society for Medical Oncology, 29(8), 1658–1686. https://doi.org/10.1093/annonc/mdy217
5. Cathomas, R., Klingbiel, D., Bernard, B., Lorch, A., Garcia Del Muro, X., Morelli, F., De Giorgi, U., Fedyanin, M., Oing, C., Haugnes, H. S., Hentrich, M., Fankhauser, C., Gillessen, S., & Beyer, J. (2018). Questioning the Value of Fluorodeoxyglucose Positron Emission Tomography for Residual Lesions After Chemotherapy for Metastatic Seminoma: Results of an International Global Germ Cell Cancer Group Registry. Journal of Clinical Oncology : Official Journal of the American Society of Clinical Oncology, JCO1800210. https://doi.org/10.1200/JCO.18.00210
6. Alsyouf, M., & Daneshmand, S. (2023). Retroperitoneal Lymph Node Dissection Should Be a Standard-of-Care Treatment Option For Stage II Seminoma. European Urology Open Science, 49, 67–68. https://doi.org/10.1016/j.euros.2022.10.021
7. Albers, P., Lusch, A., Che, Y., Arsov, C., Niegisch, G., & Hiester, A. (2022). The PRIMETEST trial: Prospective phase II trial of primary retroperitoneal lymph node dissection (RPLND) in stage II A/B patients with seminoma. Journal of Clinical Oncology, 40(6_suppl), 420. https://doi.org/10.1200/JCO.2022.40.6_suppl.420
8. Daneshmand, S., Cary, C., Masterson, T. A., Einhorn, L., Boorjian, S. A., Kollmannsberger, C. K., Schuckman, A. K., So, A., Black, P. C., Bagrodia, A., Skinner, E. C., Alemozaffar, M., Brand, T. C., Eggener, S. E., Pierorazio, P. M., Stratton, K. L., Nappi, L., Nichols, C. R., & Hu, B. (2021). SEMS trial: Result of a prospective, multi-institutional phase II clinical trial of surgery in early metastatic seminoma. Journal of Clinical Oncology, 39(6_suppl), 375. https://doi.org/10.1200/JCO.2021.39.6_suppl.375
9. Loriot, Y., Texier, M., Culine, S., Fléchon, A., Thiery-Vuillemin, A., Gravis, G., Geoffrois, L., Chevreau, C., Gross-Goupil, M., Barthelemy, P., Bompas, E., Mahammedi, H., Laguerre, B., Lacourtoisie, S. A., Helissey, C., Ladoire, S., Abraham, C., Massard, C., Grimaldi, S., & Fizazi, K. (2022). The GETUG SEMITEP Trial: De-escalating Chemotherapy in Good-prognosis Seminoma Based on Fluorodeoxyglucose Positron Emission Tomography/Computed Tomography. European Urology, xxxx, 1–8. https://doi.org/10.1016/j.eururo.2022.04.031
10. Papachristofilou, A., Bedke, J., Hayoz, S., Schratzenstaller, U., Pless, M., Hentrich, M., Krege, S., Lorch, A., Aebersold, D. M., Putora, P. M., Berthold, D. R., Zihler, D., Zengerling, F., Dieing, A., Mueller, A. C., Schaer, C., Biaggi, C., Gillessen, S., & Cathomas, R. (2022). Single-dose carboplatin followed by involved-node radiotherapy for stage IIA and stage IIB seminoma (SAKK 01/10): a single-arm, multicentre, phase 2 trial. The Lancet Oncology, 23(11), 1441–1450. https://doi.org/10.1016/S1470-2045(22)00564-2
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- Vol. 13
- Ausgabe 4
- Juli 2023