- Medizinische Leitlinien: Wissen ist nicht alles
Medline 47.232 neue Arbeiten zum Thema «internal medicine» dazu(!)gekommen. Dabei umfasst das Wissensgebiet der Hausärztin, respektive des Hausarztes bei weitem nicht nur die Innere Medizin. Allein die schieren Zahlen machen schon deutlich: die Fülle an medizinischem Wissen muss komprimiert werden, um noch bewältigbar zu bleiben. Diese Funktion erfüllen Leitlinien oder Guidelines. Sie fassen aber nicht nur zusammen, sie bewerten die einzelnen Studien auch hinsichtlich ihrer methodischen Qualität und damit hinsichtlich ihrer Bedeutung für die ärztliche Praxis. So relativiert sich mancher Mehrwert einer neuen Substanz oder Diagnostik bei kritischer Betrachtung.
Medizinische Evidenz ist aber nicht wie physikalische Gesetzmässigkeit, sie muss immer auch im Kontext des jeweiligen Gesundheitssystems betrachtet werden. In der Schweiz verfügen die Hausarztpraxen beispielsweise über ein Praxislabor, in Ländern wie Deutschland oder den Niederlanden ist dies nicht der Fall. Somit müssen – insbesondere im diagnostischen Bereich – Anpassungen an die lokalen Gegebenheiten erfolgen.
Leitlinien sind hier heute als Orientierungskorridor nicht mehr wegzudenken, umso wichtiger ist es, dass sie wirklich nur der Evidenz verpflichtet sind. Dabei können ungewollte Einflüsse nicht nur seitens der Industrie erfolgen, auch eine – grundsätzlich wünschenswerte Orientierung an den Kosten – darf den Blick auf das objektiv Gebotene nicht verstellen. Daher ist es Aufgabe unabhängiger Institutionen, diese Leitlinien zu erarbeiten, wie im Artikel von Rosemann et al. (Referenz 1 aus der aktuellen Praxis). dargelegt wird.
Bei aller Orientierung, die qualitativ hochwertige Leitlinien heute bieten können, ist es aber auch wichtig, sich vor Augen zu halten, dass die sogenannte «externe Evidenz» nur ein Element im Gesamtkonzept der evidenzbasierten Medizin von Sacket et al. ist (2,3). Die individuelle klinische Erfahrung der Ärztin oder des Arztes, aber auch Patientenbedürfnisse und -wünsche sind ein ebenso wichtiges Element und legitimieren ein Anpassen oder Abweichen von den Leitlinien. Leitlinien sind somit nicht nur für uns als Behandler wichtig, sie befähigen auch den Dialog auf Augenhöhe mit informierten Patientinnen und Patienten und ermöglichen erst ein wirkliches shared decision making.
Wissen ist nicht alles, aber ohne Wissen ist alles nichts.
Institut für Hausarztmedizin
Universitätsspital Zürich
Pestalozzistrasse 24
8091 Zürich
thomas.rosemann@usz.ch
PRAXIS
- Vol. 112
- Ausgabe 10
- August 2023