- Neuroleptika gegen Verhaltensstörungen im Alter sind problematisch
Menschen mit Demenz (MmD) entwickeln oft Verhaltensstörungen, weil sie ohne Anleitung meist den Tag passiv verbringen und dann gegen Abend unruhig werden oder weil sie ungewohnt häufig Grundpflege durch ihnen fremde Personen über sich ergehen lassen müssen. Statt in dieser Situation die gefährlichen Neuroleptika zu verordnen, wäre es besser, sie täglich mit ermüdenden natürlichen Aktivitäten wie Tanzen oder Spazieren, angeleitet durch Angehörige oder Freiwillige, müde werden zu lassen und bei der Ablehnung der Grundpflege nicht auf pflegerischer Perfektion zu beharren. Wenn dennoch Neuroleptika notwendig sind, sollten diese nur mit Zustimmung der Entscheidungsberechtigten und für begrenzte Zeit in geringen Dosen verordnet werden.
Behavioral disturbances are common in persons with dementia. Frequent causes for these are inactivity during the day followed by agitation in the evening, called “sun downing” or opposition to basic nursing care when being touched in intimate areas by persons unfamiliar to them. Rather than to prescribe neuroleptics it is better to offer tiring physical activities such as dancing or walking together with relatives or volunteers. When basic nursing care is not accepted by patients it is better to do less. Better accept imperfect standards in such circumstances! If non pharmacological measures cannot be done or are not sufficient neuroleptics should only be prescribed for a limited time and in the lowest effective dose.
Key Words: Neuroleptika, Off-Label-Use, Demenz, Verhaltensstörungen, Bewegungstherapie
Neuroleptika sind ein grosser Segen zur Behandlung von Psychosen aller Art, insbesondere bei Schizophrenie oder Manie, aber auch bei organischen Psychosen verschiedener Genese. Wenn dann alte Menschen schwerwiegende Verhaltensstörungen entwickeln und die betreuenden Angehörigen, Spitexpersonen oder Pflegende im Heim deshalb drohen, an ihre Belastungsgrenzen zu kommen, liegt es nahe, Neuroleptika auch bei alten Menschen anzuwenden. Wie oft das bei häuslich betreuten Betagten geschieht, ist nicht bekannt.
Aus dem Bereich der Pflegeheime in der Deutschschweiz liegen genaue Zahlen vor (1): 37% aller Heimbewohnenden erhielten 2019 und 2020 in 619 Heimen ein Neuroleptikum, 85% davon sogar länger als 90 Tage. Im Vergleich dazu liegt dieser Wert bei 14,5% aller Bewohnenden von US Nursing Homes (2). Auch in Grossbritannien liegen diese Werte bei 14% (3).
Warum Neuroleptika in der Schweiz für Betagte so häufig verschrieben werden
Die meisten betagten Menschen mit Demenz (MmD) werden über längere Zeit zuhause lebend von ihren Hausärzten behandelt. Eine Befragung von Hausärzten, die 774 Patienten mit Demenz betreuten, ergab eine sehr grosse Verbreitung von Verhaltensstörungen bei MmD (4): Berichtet wurde (Abb. 1) am häufigsten von Agitiertheit (60,5%) und verändertem Schlaf-Wach-Rhythmus (40,3%), seltener von verbaler Aggression (29,2%), von Wahnideen (27,4%), Verweigerung der Grundpflege (18.9%) oder von tätlicher Aggression (15%).
Zum Umgang mit Verhaltensstörungen, oft behaviorale und psychiatrische Symptome der Demenz (BPSD) genannt, gibt es eigentlich auch in der Schweiz gute Beschreibungen über das indizierte stufenweise Vorgehen (z.B. 5, 6). Kernstück aller, auch der internationalen (7) Literatur ist die Empfehlung, bei BPSD primär pflegerisch-betreuerische Massnahmen anzuwenden, und erst wenn diese versagen, Neuroleptika zu verordnen. Wie gut die Evidenz für pflegerische Massnahmen ist, wurde u.a. im Faktenblatt von Curaviva zum Thema festgehalten (6). Weil betreuende Angehörige im häuslichen Bereich durch die BPSD oft an ihre Grenzen kommen und dies ihre weitere Betreuung gefährdet, verordnen Hausärzte deshalb nolens volens häufig Neuroleptika. In den Heimen sind die Pflegenden wegen des immer stärkeren Pflegebedarfs der Bewohnenden und wegen Personalknappheit ebenfalls oft nicht in der Lage, wirksame pflegerisch-betreuerische Massnahmen durchzuführen, so dass sich die Ärzteschaft gezwungen sieht, Neuroleptika verordnen zu müssen.
Warum sind Neuroleptika für betagte MmD problematisch?
Zwar zeigen die neueren sogenannten atypischen Neuroleptika weniger starke und weniger häufig extrapyramidale Nebenwirkungen im Sinne eines iatrogenen Parkinsonismus als die klassischen wie Haloperidol. Diese werden deshalb kaum mehr eingesetzt. Aber auch die Neuen bewirken gemäss Arzneimittelkompendium (8) noch immer eine starke Erhöhung des Mortalitäts- und Hirnschlagrisikos und ein um 40% erhöhtes Sturzrisiko (1). Deshalb schreibt das Arzneimittel Kompendium für alle anderen atypischen Neuroleptika ausser Risperdal, sie seien nicht geeignet für die Behandlung von BPSD. So gibt das Kompendium z.B. bei Quetiapin vor: «Quetiapin ist nicht für die Behandlung von psychotischen Symptomen oder Verhaltensstörungen bei Patienten mit Demenz zugelassen und wird daher nicht zur Anwendung in dieser Patientengruppe empfohlen» (8). Trotzdem ist es das am meisten gebrauchte Neuroleptikum in Pflegeheimen, obwohl es sich beim Einsatz zur Behandlung von BPSD um einen «Off-Label»-Gebrauch handelt.
Gemäss geltendem Arzneimittelrecht ist eine Off-Label-Verordnung zwar in der Schweiz erlaubt, aber es besteht dazu eine Informationspflicht der Verordnenden oder von ihnen dazu Beauftragten (z.B. Pflegefachpersonen) über die Risiken und warum und wie lange das Mittel trotz den Risiken im konkreten Fall eingesetzt werden soll. Die Verordnenden müssen auch die Off-Label-Behandlung regelmässig überprüfen und gegebenenfalls absetzen oder die Dosis anpassen (9). Leider passiert das nur in Ausnahmesituationen (1). Deshalb hat der Heimverband CURAVIVA ein Formular entwickelt, worin über das Risiko beim Off-Label-Gebrauch von atypischen Neuroleptika gut informiert wird und auf welchem die für den betroffenen MmD zuständige entscheidungsberechtigte Person die Zustimmung zum Einsatz schriftlich bestätigen kann. Das Formular kann heruntergeladen werden (10).
Besonders bedenklich aus ethischer Sicht ist eine spezielle Nebenwirkung aller Neuroleptika, die auf deren antidopaminergem Wirkungsprinzip beruht: Dopamin ist nämlich der wirksame Neurotransmitter im Nucleus Accumbens, dem zentralen Belohnungszentrum. Deshalb bewirken Neuroleptika dosisabhängig und abhängig von der Anwendungsdauer eine Hemmung des Belohnungszentrums. Dies hat zur Folge, dass die Behandelten oft kaum mehr Freude empfinden können, ihr Leben nur noch grau in grau ist und zum Dahinvegetieren mutiert.
Benzodiazepine und Z-Schlafmittel (Zolpidem, Zopiclon, Zaleplon) eignen sich nicht als Alternative zu Neuroleptika, denn sie wirken im Alter und bei Demenz häufig paradox und verursachen iatrogen agitierte, delirante Zustände.
Ein Fallbeispiel
Die 91-jährige Frau X lebte dement in einem Pflegeheim. Wegen nachmittäglicher und abendlicher Unruhe wurde sie mit Quetiapin 50 mg mittags und abends und zum Einschlafen mit Trittico® 50 mg behandelt. Damit war sie leicht zu betreuen und bei den regelmässigen Besuchen durch ihre Nachkommen tagsüber wach, kommunikativ und zeigte offensichtlich Freude an den Besuchen. Weil das Heim geschlossen werden musste, wurde sie in ein anderes Pflegeheim verlegt. Wegen trotz obiger Medikation anhaltender abendlichen und nächtlicher Unruhe wurde die Neuroleptikum-Dosis sukzessive erhöht auf 125 mg in 3 Dosen verteilt, zusammen mit einer Erhöhung der Trittico® Dosis auf täglich 150 mg und zusätzlich bis 4x täglich 1 mg eines kurzwirksamen Benzodiazepins. In der Folge passierten mehrere Stürze mit Weichteilverletzungen. Sie war jetzt meist stark sediert, konnte nicht mehr gehen, schlief tagsüber immer wieder ein und musste im Rollstuhl sitzend fixiert werden. Bei Besuchen war sie meist kaum weckbar und zeigte keine Reaktion auf Ansprechen durch ihre sie besuchenden Nachkommen. Diesen wurde erklärt, ihr Zustand sei bedingt durch die Progression der Demenz. Weil auch das zweite Heim geschlossen wurde wegen Umbau, wurde Frau X erneut verlegt. Der behandelnden neuen Ärztin fiel sie als massiv übersediert auf; sie stoppte die Neuroleptika und das Benzodiazepin schrittweise. Zum Schlafen erhielt sie weiterhin 150 mg Trittico. In der Folge erlebten die Angehörigen einen Lazarus-Effekt: Ihre Mutter war wieder wach tagsüber, konnte gehen und reagierte mit Freude auf ihre Besuche.
Empfehlungen
MmD zeigen agitierte Verhaltensstörungen am meisten am späteren Nachmittag und Abend, das sogenannte Sundowning und zusätzliche nächtliche Unruhe wegen der Schlafrhythmusstörung mit Umherirren nach nächtlichem Aufwachen und z.T. Stören der Mitbewohnenden. Deshalb sollten MmD am Nachmittag intensiv körperlich gefordert werden, am besten mit an ihre Kondition angepassten, ermüdenden Spaziergängen. Ohne sedierende Medikation tagsüber sind nämlich MmD meist gut zu Fuss mobil. Sie können aber wegen ihrer Vergesslichkeit und Raumsinnstörungen oft nicht mehr allein auf Spaziergänge gelassen werden wegen der Gefahr des Verlorengehens. Sie brauchen also Spazier-Begleitung. Oft liesse sich dies durch die Institution oder durch die Angehörigen organisieren. Dazu eignen sich auch Jugendliche, die dazu oft mit geringer Entlöhnung bereit wären, wenn sie von Angehörigen angefragt werden. Auch Asylsuchende ohne Arbeitserlaubnis oder Flüchtlinge mit Schutzstatus S und zeitlich auf die Abwesenheit ihrer Kinder in der Schule beschränkt und mit nur rudimentärsten Deutschkenntnissen würden sich durch Spesenentschädigungen (z.B. Abonnement des öffentlichen Regionalverkehrs, das sie auch privat nutzen dürfen) zu stundeweiser Tätigkeit als Spazierbegleitende motivieren lassen. Manche noch sprachlich gewandte MmD würden den Spazierbegleitenden auch gerne Wörter von Dingen, denen sie begegnen, beibringen und so eine sinnvolle Betätigung erleben können.
Ebenso wirksam und ermüdend und so einen gesunden Schlaf fördernd ist Tanzen. Beides, Tanzen und Spazieren, müsste aber intensiv und fast täglich erfolgen, um BPSD wirksam zu reduzieren. Ein «Thé-dansant» pro Woche ist diesbezüglich ohne Wirkung. Zu empfehlen ist das personalsparende nachmittägliche regelmässige Tanzen oder Spazieren in Gruppen, z.B. durch Freiwillige aus der Gemeinde oder Angehörige.
Nächtliches Aufstehen und Umherirren kann oft (wie im Beispiel oben) mittels eines sedierenden Antidepressivums wie z.B. Trittico® behandelt werden. Wenn der Schlaf über die Frühstückszeit hinaus verlängert wird, muss natürlich die Dosis reduziert werden. Keinesfalls sind Benzodiazepine oder Z-Schlafmittel bei MmD als Schlafmittel geeignet wegen ihrer oft paradoxen agitativen Wirkung.
Bei Widerstand gegen die meist täglich mehrfach und gründlich durchgeführte Grundpflege durch Pflegende, die den MmD nicht vertraut sind, empfiehlt sich entweder diese durch Pflegende erledigen zu lassen, die keine Abwehr provozieren, statt strikt nach Einteilung vorzugehen. Da Betagte oft seit ihrer Jugend an nur eine samstägliche Ganz-Körper Grundpflege (in der Badewanne oder sogar nur am Wasserhahn in der Küche) gewohnt sind, empfiehlt sich oft – in Absprache mit den Angehörigen – auch im Heim, Fünfe gerade sein zu lassen und auch einmal nicht perfekte Grundpflege zu akzeptieren, statt zu sedieren, bis die Betroffenen alles ohne Widerstand über sich ergehen lassen.
Vor einem Einsatz von Neuroleptika sollten auch oben nicht erwähnte verschiedene pflegerische Massnahmen bei BPSD durch das nichtärztliche Betreuungs- und Pflegeteam probiert werden (6). Bewährt hat sich z. B. der Einsatz von Musik, wenn diese den individuellen Musikgewohnheiten angepasst ist.
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ehem. Chefarzt Stadtärztlicher Dienst Zürich
Privatdozent für geriatrische Neurologie der UZH
Mitglied akademische Leitung Zentrum für Gerontologie UZH
Vorsitzender Fachkommission Zürich der
Unabhängigen Beschwerdestelle für das Alter UBA
Der Autor hat keine Interessenskonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.
- Neuroleptika erhöhen im Alter das Mortalitäts-, Hirnschlag- und Sturzrisiko markant und hemmen das Belohnungszentrum, sodass kaum mehr Freude an irgendetwas empfunden werden kann.
- Menschen mit Demenz sollten, statt mit Neuroleptika sediert zu werden, sich vor allem nachmittags intensiv bewegen mit Tanzen oder Spazieren in Begleitung, damit sie physiologisch ermüden und der Agitiertheit vorbeugen.
- Atypische Neuroleptika in Off-Label-Use sollten nur nach ausführlicher Information verordnet werden, mit Zustimmung der Entscheidungsberechtigten, nur für begrenzte Zeit von max. 90 Tagen und in möglichst niedriger Dosierung.
1. Giger M, Anliker M, Bartelt G: Polymedikation und Neuroleptika in Schweizer Pflegeheimen in den Jahren 2019 und 2020. Praxis 2022;111:612-617
2. Centers for Medicare & Medicaid Services. National Partnership to Improve Dementia Care in Nursing homes, Baltimore; CMS:2022. https://www.cms.gov/Medicare/Provider-Enrollment-and-Certification/SurveyCertificationGenInfo/National-Partnershop-to-Improve-Dementia-Care-in-Nursing-Homes; letzter Zugriff: 20.04.2022
3. Donegan K, Fox N, Black N, Livingston G, Banerjee S, Burns A. Trends in diagnosis and treatment for people with dementia in the UK from 2005 to 2025: a longitudinal retrospective cohort study. Lancet Public Health. 2017; e149-e156
4. Hock C, Wettstein A. et al (2000) Diagnose und Therapie von Verhaltensstörungen bei Demenz. Praxis,89:1907ff
5. Pieper M. et al (2011) The Implementation of the serial trial intervention for pain and challenging behavior in advanced dementia patients: a cluster randomized controlled trial. BMC Geriatrics 11:13
6. Wettstein A, Giger M (2019). Verhaltensstörungen bei Demenz im Heim mit weniger Neuroleptika behandeln. CURAVIVA Schweiz, Fachbereich Menschen im Alter, online CURAVIVA Schweiz, 2019: www.curaviva.ch
7. The American Psychiatric Association Practice Guideline on the Use of Antipsychotics to treat Agitation or Psychosis in Patients with Dementia (2016). htps://psychiatryonline.org/doi/full/10.5555/appi.books.9780890426807.ap00pre; letzter Zugriff: 04.02.2022
8. Arzneimittel Kompendium der Schweiz®(2023). Fachinformation Seroquel®. www.compendium.ch/seroquel. Letzter Zugriff 08.07.2023
9. Empfehlungen zum Off label use von Arzneimitteln – Kantonsapotheker https://www.kantonsapotheker.ch/fileadmin/docs/public/kav/2_Leitlinien___Positionspapiere/0007_anforderungen_an_den_off-label-use.pdf
10. CURAVIVA – Home. https://www.curaviva.ch/Home/NEUROLEPTIKA-Regelung-des-Off-Label-Use-im-institutionellen-Kontext sicherstellen/o0lF01tj/Pdsob/?lang=de&ID=394006F2-F97D-4D49-B6199F24F57136C2&method=render.news
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- Vol. 13
- Ausgabe 10
- Oktober 2023