RETO KRAPFs Medical Voice



Frisch ab Presse:

U-förmige Beziehung zwischen kardiovaskulären Ereignissen und der HDL-Konzentration

Seit den 70er Jahren (v.a. nach der berühmten Framingham-Studie) wird im Allgemeinen angenommen, dass zwischen der Wahrscheinlichkeit eines kardiovaskulären Ereignisses und der HDL-Konzentration eine inverse Beziehung besteht. Allerdings waren Interventionen zur Anhebung des HDL (Niacin, Fibrate u.a.) wie auch der Alkoholkonsum (siehe unten!) der einen Subtyp des HDL erhöht von keiner signifikanten Wirkung auf die Ereignisrate. Eine systematische Analyse der publizierten Studien bestätigt, dass tiefe HDL-Werte mit einer erhöhten kardiovaskulär bedingten Mortalität assoziiert sind, dass aber auch hohe Werte (>80 mg/dl bei Männern und >100 mg/dl bei Frauen) kontraintuitiv mit einer erhöhten Mortalität assoziiert sind. Es gibt eine Reihe von Hypothesen für den negativen Effekt sehr hoher HDL-Werte aber noch keine definitive Erklärung. Müssen nun die vielen Risikokalkulatoren für kardiovaskuläre Ereignisse und Mortalität revidiert werden?
JCEM 2024, doi.org/10.1210/clinem/dgad406, verfasst am 27.01.2024

Erhöht Testosteron-Substitution die Frakturrate?

Diese vielleicht unerwartete Frage erhebt sich angesichts einer neuen Studie, welche in einer Population von mehr als 5000, durchschnittlich 64-jährigen Männern mit Testosteronwerten unter 10 nmol/L (aber nicht weiter abgeklärten Ursachen) den Effekt einer transdermalen Testosteronsubstitution auf die Frakturrate evaluierte. Die Männer waren adipös (durchschnittlicher BMI bei 35), und fast ¾ waren Diabetiker. Nach einer Nachbeobachtung von mehr als 3 Jahren betrug die Frakturrate unter Testosteron 3,5%, unter Plazebo 2,5%. Die Gründe für diese kontra-intuitive Beobachtung sind unklar, könnten aber auch banal sein: Testosteron verbessert die körperliche Aktivität und Belastbarkeit, somit die Unternehmungslust, was zu erhöhter Frakturgefährdung führen könnte, wenn auch in dieser Studie keine erhöhte Sturzinzidenz gefunden wurde. Eine Geschichte wohl mit Fortsetzung also.
NEJM 2024, DOI: 10.1056/NEJMoa2308836, verfasst am 26.01.2024

Welches ist die Ursache der blutigen Tränen (Hämolakrie)?

Blutige Tränen zu weinen, gilt in religiösem Zusammenhang als Wunder. Sie werden aber auch Graf Dracula zur illustrativen Steigerung seiner Blutrünstigkeit zugeschrieben. Ein 52-jähriger Patient kommt wegen unstillbarer Epistaxis und Nasenschmerzen auf die Notfallstation, wo ihm eine vordere Tamponade angelegt wird. Später entwickelte er während einer Stunde blutige Tränen im rechten Auge, die aus dem oberen und unteren Tränenwinkel kamen. Die CT des Kopfes und der Orbitae schloss Frakturen aus.
Die wahrscheinlichste Ursache ist:
A. Ein viraler Infekt der oberen Luftwege und der Tränendrüsen
B. Ein Sjögren Syndrom
C. Eine traumatische Schädigung der Tränendrüsen
D. Eine durch die Tamponade ausgelöste venöse Stase
Antwort: Bakterielle und virale Infekte und auch Autoimmunkrankheiten können bei Einbezug der Tränendrüsen zur Hämolakrie führen. In der Tat war der Mann aber ein paar Stunden zuvor auf der Strasse in eine Schlägerei verwickelt gewesen. Die augenärztliche Untersuchung zeigte indes keine traumatischen Läsionen. Die Hämolakrie lässt sich hier durch einen retrograden Fluss venösen Blutes bei (wahrscheinlich sehr satt liegender) Nasentamponade erklären. Nach Revision derselben und Applikation topischen Adrenalins sistierte die Hämolakrie. Richtig ist also Ursache D dieser seltenen Komplikation. Falls Sie die Ursache C angekreuzt haben, bekommen Sie mindestens einen halben Punkt, denn das Trauma war ja das «primum movens», sozusagen.
NEJM 2024, DOI: 10.1056/NEJMicm2307811, verfasst am 28.01.2024

Stringentere Anforderungen an «statisch signifikante» Resultate sind nötig!

Im Sinne einer Selbstdeklaration möchten wir jenes Niveau von statistischer Stringenz angeben, von dem wir uns – neben anderen Kriterien – bei der Auswahl der für Sie vorgestellten Studien leiten lassen. Wir wurden von der Anwendung dieser Regeln nur selten enttäuscht, weder dass etwas unsere Praxis veränderndes verpasst noch eine Innovation zu optimistisch eingeschätzt worden wäre. Wir beschränken uns hier auf die zwei für die praktische Medizin wichtigsten Studientypen, nämlich einerseits auf kontrollierte Studien, bei denen ein P-Wert von < 0.05 als statistisch signifikant akzeptiert wird. Andererseits auf epidemiologische Studien, die – typischerweise nach vielen Korrekturen – eine Assoziation, z.B. zwischen einer Krankheit und einem exogenen oder endogenen Faktor im Sinne einer Risikoveränderung angeben, diese Krankheit zu erleiden oder zu vermeiden.

Wir folgen der Forderung einer grossen Gruppe von Biostatistikerinnen und Biostatistikern, die für klinische Studien ein zehnfach stringenteres P, d.h. ein solches von < 0.005, verlangen. Bei Anwendung eines P von nur <0.05 droht anscheinend in der Hälfte bis zu 2/3 der Fälle, dass die Studien nicht reproduziert werden können oder durch gegenteilige Evidenz in Frage gestellt werden (1).

Bei epidemiologischen Studien hätten wir sehr gerne Resultate, die eine Risikoverminderung auf einen Viertel (0.25 und kleiner) oder eine Risikoerhöhung um einen Faktor 4 zeigen (2, 3). Bei geringeren Risikoveränderungen kann anscheinend später nur in einer von 4 Studien auch eine gewisse Kausalität gefunden werden.

Wenn wir einmal Studien vorstellen, die diesen strengen Kriterien nicht entsprechen, handelt es sich um begründete Fragezeichen, ob z.B. eine «negative» Studie aus einer Reihe von Gründen nicht doch klinisch relevant sein oder es werden könnte.

Wir geben zu: Die angewandten Kriterien sind rigoros und vereinfachend! Sie sind aber doch zumindest in guten Teilen geeignet, unsere kostbare Lektürezeit für Publikationen mit hoher Wahrscheinlichkeit eines langfristigen Überlebens ihrer Schlussfolgerungen zu priorisieren.
1. JAMA 2018, doi:10.1001/jama.2018.1536, 2. Science 1995, DOI: 10.1126/science.7618077 3. Science Advances 2022, DOI: 10.1126/sciadv.abn3328, verfasst am 16.01.2024

Grenzgebiete der Medizin

Der gesunde Menschenverstand

In medizinisch-fachlichen Diskussionen, aber auch im Rahmen von Instruktionen an die Patientinnen und Patienten appellieren wir nicht selten an den gesunden Menschenverstand. Wenn wir das tun, geben wir vor zu wissen, was das, der gesunde Menschenverstand, ist und stellen den Anspruch, ihn selber auch zu haben. Gibt es ihn aber wirklich und kann man ihn nachweisen, wenn nicht gar messen? Wahrscheinlich schon. Aber was in der Bevölkerung darunter verstanden wird, ist erstaunlich heterogen und nicht abhängig von Alter und Geschlecht. Mehr als 2000 Individuen beurteilten 50 zufällig ausgesuchte Aussagen des gesunden Menschenverstandes. Dabei handelte es sich um Aussagen wie «Jeder Effekt hat eine Ursache» oder «Das Ganze ist grösser als seine Teile». Interessant, aber intuitiv zu vermuten, erfreuten sich Aussagen über gesunden Menschenverstand bei technologischen und naturwissenschaftlichen Themen der grössten Übereinstimmung, während diese bei psychologischen oder sozialwissenschaftlichen Themen am geringsten ausfiel. Bei Gebrauch des Ausdruckes «gesunder Menschenverstand» ist also Vorsicht walten zu lassen, da das Gegenüber mit einer ansehnlichen Wahrscheinlichkeit dies nicht so sieht wie Sie oder es anders interpretiert.
PNAS 2024, doi.org/10.1073/pnas.230953512, verfasst am 28.01.2024

Prof. Dr. med. Reto Krapf

krapf@medinfo-verlag.ch

der informierte @rzt

  • Vol. 14
  • Ausgabe 2
  • Februar 2024