- Erhöhen Antidepressiva (SSRIs) das Blutungsrisiko bei antikoagulierten Patienten?
Frage
Führt die Einnahme von SSRIs bei Patienten mit oralen Antikoagulantien bei Vorhofflimmern (VHF) zu mehr Blutungen?
Hintergrund
Die weltweite Verordnung von Antidepressiva steigt kontinuierlich. In den USA geben 19 % der über 60-Jährigen an, in den letzten 30 Tagen ein Antidepressivum genommen zu haben. Unter den Antidepressiva dominieren die selektiven Serotonin-Reuptake-Hemmer oder SSRI. Daten aus Beobachtungsstudien deuten darauf hin, dass es unter SSRIs zu vermehrten Blutungen kommt, verantwortlich dafür wird eine Thrombozytenaggregationshemmung der SSRIs gemacht.
Einschlusskriterien
Alle erwachsenen Personen (> 18 Jahren) mit Vorhofflimmern, diagnostiziert zwischen 1998 und 2021, die neu ein orales Antikoagulanz, OAK, in Form eines Vitamin-K-Antagonisten oder eines direkten oralen Antikoagulans, DOAK, erhielten.
Studiendesign und Methodik
Populationsbasierte Fallkontrollstudie (nested case-control study), auf der Basis der UK Clinical Practice Research Datalink, einer grossen Primary Care Datenbank, vergleichbar FIRE, die die Daten (Verschreibungen, Überweisungen etc.) von fast 60 Millionen Patienten aus 2000 Hausarztpraxen umfasst. Als SSRI-exponiert wurden alle Patienten definiert, die Citalopram, Escitalopram, Fluoxetine, Fluvoxamine, Paroxetine oder Sertraline einnahmen. Die Ergebnisse wurden für zahlreiche Faktoren korrigiert, unter anderem Rauchen, Alkoholkonsum, BMI, kardiovaskuläre Erkrankungen, Diabetes, Leber- und Nierenerkrankungen, Anämie und weiteren. Korrigiert wurde auch für zahlreiche Medikamente, insbesondere solche, die das Blutungsrisiko beeinflussen können (Thrombozytenaggregationshemmer etc.).
Outcome/Endpunkt
Als Endpunkt «Blutung» wurde eine Hospitalisation auf der Basis einer schweren Blutung (Hospitalisationsanlass) oder der Tod durch «major bleeding» gewertet. Antikoagulierte Patienten mit SSRI-Einnahme wurden dann mit antikoagulierten Patienten ohne SSRI-Einnahme verglichen.
Resultate
Insgesamt traten relevante Blutungsereignisse («major bleedings») bei 42 190 Patienten auf (mittleres Alter 74.2, SD [9.3] Jahre, 59.8 % Männer), die zu 1 156 641 Kontrollen gematched wurden. Die gleichzeitige Einnahme von SSRIs und OAKs führte zu einem 33 % höheren Blutungsrisiko als unter OAK alleine (Inzidenzverhältnis, inzidence rate ratio, IRR, 1.33; 95 % CI, 1.24–1.42). Die Risikoerhöhung im Vergleich zu den Kontrollen war mit 74 % zu Beginn der Therapie am höchsten (IRR, 1.74; 95 % CI, 1.37–2.22 für die ersten 30 Tage) und blieb für 6 Monate erhöht. Die Risikoerhöhung war unbeeinflusst durch Alter, Geschlecht, Blutungsanamnese, chronische Nierenerkrankung oder Potenz der SSRIs. Bei Vitamin-K-Antagonisten war die Risikoerhöhung (IRR, 1.36; 95 % CI, 1.25–1.47) ausgeprägter als bei DOAKs (IRR, 1.25; 95 % CI, 1.12–1.40).
Kommentar
• Diese sehr grosse populationsbasierte Studie bestätigt frühere kleinere Studien, die bereits zeigten, dass die gleichzeitige Einnahme von SSRIs und oralen Antikoagulantien zu einem erhöhten Blutungsrisiko führt.
• Das Risiko scheint insbesondere initial, nach Beginn einer Therapie mit oralen Antikoagulantien, erhöht.
• Patienten sollten für diese Risikoerhöhung sensibilisiert werden und ein engmaschiges Monitoring verfolgen.
• Die Studie belegt auch den hohen Nutzen von real-life- Daten aus hausärztlichen Datenbanken, wie sie mit FIRE auch in der Schweiz zur Verfügung steht.
Institut für Hausarztmedizin
Universitätsspital Zürich
Pestalozzistrasse 24
8091 Zürich
thomas.rosemann@usz.ch
Rahman AA, Platt RW, Beradid S, Boivin J, Rej S, Renoux C. Concomitant Use of Selective Serotonin Reuptake Inhibitors With Oral Anticoagulants and Risk of Major Bleeding. JAMA Netw Open. 2024;7(3):e243208. doi:10.1001/jamanetworkopen.2024.3208
PRAXIS
- Vol. 113
- Ausgabe 5
- Mai 2024