Originalartikel

Expert Opinion Statement im Auftrag der Schweizerischen Gesellschaft fĆ¼r Gastroenterologie und Hepatologie

FamiliƤres Auftreten von Darmkrebs: Vorsorge, Nachsorge und humangenetische Beratung

  • FamiliƤres Auftreten von Darmkrebs: Vorsorge, Nachsorge und humangenetische Beratung

Das kolorektale Karzinom (KRK) ist in der Schweiz hinsichtlich jƤhrlicher Neuerkrankungen und KrebstodesfƤllen die dritthƤufigste Karzinomart. Da die meisten Kantone ein organisiertes Vorsorgeprogramm durchfĆ¼hren, werden vermehrt Personen mit einer positiven Familienanamnese fĆ¼r das KRK erfasst. In der Mehrheit liegt die sog. familiƤre Form des KRK vor, eine erbliche Form im engeren Sinne ist viel weniger hƤufig. Verwandte von Patienten mit einem KRK sind bezĆ¼glich Risiko, an einem KRK zu erkranken, eine heterogene Gruppe. Eine mƶglichst gute EinschƤtzung des Erkrankungsrisikos kann das Nutzen-Risiko-VerhƤltnis einer intensivierten Vorsorge optimieren. Diese Empfehlungen (Ā«Expert Opinion StatementĀ») sollen im klinischen Alltag als Grundlage dienen fĆ¼r die Planung der Vorsorge, Ɯberwachung und humangenetischen Beratung bei Vorliegen einer fĆ¼r das KRK positiven Familienanamnese.

SchlĆ¼sselwƶrter: familiƤres Kolorektalkarzinom, erbliches Kolorektalkarzinom, Lynch-Syndrom, familiƤre adenomatƶse Polypose, MUTYH-Ā­assoziierte Polypose, Serratiertes Polypose-Syndrom



Einleitung

Das kolorektale Karzinom (KRK) ist in der Schweiz bei beiden Geschlechtern sowohl hinsichtlich jƤhrlicher Neuerkrankungen wie KrebstodesfƤllen die dritthƤufigste Karzinomart (1). Im Laufe des Lebens erkranken rund 3.7ā€‰% der Frauen und 5.2ā€‰% der MƤnner an einem KRK. Die Inzidenzraten blieben in der Schweiz in den letzten 30 Jahren weitgehend stabil, wƤhrend die MortalitƤtsraten rĆ¼cklƤufig sind: aktuell liegt die 5-Jahres-Ɯberlebensrate bei beiden Geschlechtern zwischen 65 und 70ā€‰%.

Ƅtiologisch kann zwischen dem sporadischen (sKRK), dem familiƤren (fKRK) und dem erblichen (eKRK) im engeren Sinne unterschieden werden mit je etwa 75ā€‰%, 20ā€‰% bzw. 5ā€‰% aller Neuerkrankungen (2). Der wichtigste Risikofaktor des sKRK ist das Alter, allerdings tritt diese Form in den letzten Dekaden immer hƤufiger schon vor dem 50. Lebensjahr auf, die Ursachen hierfĆ¼r sind nur unvollstƤndig verstanden (3). Zahlreiche Beobachtungsstudien dokumentieren ein erhƶhtes Erkrankungsrisiko fĆ¼r das KRK bei einer positiven Familienanamnese (4, 5). In der Mehrheit dieser FƤlle liegt die familiƤre Form des KRK (fKRK) vor, bei der keine pathogene Keimbahnmutation in einem definierten Gen nachweisbar ist. Dem fKRK liegen vermutlich mono-, poly- sowie epigenetische Ursachen und VerƤnderungen im Mikrobiom zugrunde, deren Risiko, wie bei den anderen Formen, durch Umwelt- und Lebensstilfaktoren wie ErnƤhrung, Rauchen, Alkoholkonsum, kƶrperliche AktivitƤt und Gewicht etc. moduliert wird (6). Eine erbliche Form des KRK liegt bei einer positiven Familienanamnese nur selten vor, Angehƶrige betroffener Familien haben ein hohes Erkrankungsrisiko (2). Zu den erblichen (hereditƤren) Formen zƤhlen insbesondere das eKRK ohne Polypose (Ā«nonpolyposis colorectal cancerĀ», HNPCC, heute Lynch-Syndrom [LS] genannt) und verschiedene Polypose-Syndrome (siehe unten).

In der Schweiz ist die Darmkrebsvorsorge fĆ¼r Erwachsene zwischen dem 50. und 69. Lebensjahr mit normalem Erkrankungsrisiko mittels Koloskopie alle 10 Jahre oder durch quantitativen immunologischen Nachweis von okkultem Blut im Stuhl (FIT Test) alle zwei im Krankenversicherungsgesetz anerkannt. Die meisten Kantone fĆ¼hren ein organisiertes Screening-Programm durch. Dadurch werden vermehrt Personen erfasst und untersucht, welche Ć¼ber eine positive Familienanamnese fĆ¼r das KRK berichten. Diverse Fachgesellschaften empfehlen fĆ¼r Angehƶrige betroffener Familien eine intensivierte Vorsorge (7, 8, 9, 10). FĆ¼r die Teilnahme an der Vorsorge mĆ¼ssen individuelle Vor- und Nachteile, aber auch gesellschaftliche Faktoren wie Kosten, limitierte personelle Ressourcen etc. berĆ¼cksichtigt werden. Eine mƶglichst gute EinschƤtzung des Erkrankungsrisikos kann das Nutzen-Risiko-VerhƤltnis der ggf. intensivierten Vorsorge optimieren (11).
Es handelt sich hier um Empfehlungen im Sinne eines sog. Expert Opinion Statement. Diese ersten Schweizer Empfehlungen fĆ¼r das Vorgehen bei einer fĆ¼r das KRK positiven Familienanamnese sollen im klinischen Alltag als pragmatische Grundlage fĆ¼r die Planung der Vorsorge und Ɯberwachung sowie der humangenetischen Beratung dienen. Im Rahmen eines mehrstufigen interdisziplinƤren Prozesses wurde dieses Ā«Expert Opinion StatementĀ» im Auftrag der Schweizerischen Gesellschaft fĆ¼r Gastroenterologie und Hepatologie durch die von den beteiligten Fachgesellschaften benannten Fachleute erarbeitet und reprƤsentiert eine schweizerische Perspektive. Deren Anwendbarkeit soll im Einzelfall geprĆ¼ft und der individuellen Situation der Patientinnen und Patienten unter BerĆ¼cksichtigung der gesamten klinischen Situation angepasst werden. Daten aus randomisierten kontrollierten Studien gibt es kaum, d.h., die verfĆ¼gbare Evidenz fĆ¼r diese Empfehlungen ist von moderater, teilweise auch nur niedriger Evidenz.

FamiliƤrer Darmkrebs

Allgemein

Rund 20ā€“30ā€‰% aller Patienten mit einem KRK haben Verwandte mit dem gleichen Tumorleiden, wobei in rund der HƤlfte ein Familienmitglied ersten Grades (Eltern, Geschwister, Kinder) betroffen ist (2). Beim fKRK finden sich oft mehrere, manchmal auch vor dem 50. Lebensjahr erkrankte Angehƶrige. Exom-Sequenzierungen bei mehr als 3000 Patienten mit einem fKRK konnten in ca. 16ā€‰% eine pathogene Keimbahnvariante in einem der bislang bekannten PrƤdispositionsgene identifizieren (12).

Das fKRK ist eine heterogene Gruppe, deren relative Risikoerhƶhung durch den Verwandtschaftsgrad, die Anzahl betroffener Familienmitglieder und deren Erkrankungsalter beeinflusst wird (13, 14). GemƤss Beobachtungsstudien ist das Erkrankungsrisiko fĆ¼r Personen betroffener Familien etwa 2ā€“6-fach erhƶht im Vergleich zur Allgemeinbevƶlkerung (4). Beim Entscheid fĆ¼r das Screening soll auch das absolute Erkrankungsrisiko berĆ¼cksichtigt werden (14, 15). Anhand der oben erwƤhnten Zahlen fĆ¼r die Schweiz ergibt sich ein Lebenszeitrisiko etwa zwischen 8 und 20ā€‰%. Am hƶchsten ist das Risiko, wenn Familienmitglieder mit Verwandtschaft im 1. Grad eine KRK-Diagnose hatten und die Erkrankung vor dem 50. Lebensjahr aufgetreten ist (13, 14).

Die mƶglichst gute AbschƤtzung der Risikoerhƶhung durch eine detaillierte Erhebung der Familienanamnese ist demnach fĆ¼r die weitere Planung einer sinnvollen und ggf. intensivierten Vorsorgestrategie (welche Methode ab welchem Alter, HƤufigkeit der Testung) der gesunden Familienmitglieder wichtig. Allerdings ist die Familienanamnese fĆ¼r das KRK und Polypen nur beschrƤnkt zuverlƤssig, da diese den Angehƶrigen oft nicht oder nur unvollstƤndig bekannt ist (16). Hinzu kommt, dass Familien heutzutage immer kleiner werden, was die Erkennung eines hereditƤren Syndroms erschweren kann. Die Familienanamnese verƤndert sich mit der Zeit, daher soll diese periodisch neu erhoben werden.

Vorsorge

Die bestehenden Richtlinien basieren auf der aktuell verfĆ¼gbaren Literatur. Evidenz aus prospektiven randomisierten Studien gibt es nicht, die zugrunde liegenden Daten stammen aus Beobachtungsstudien, deren QualitƤt hƶchstens moderat ist und Spielraum fĆ¼r unterschiedliche Interpretationen zulƤsst. Grundlage fĆ¼r die Anwendung einer fKRK-Screening-Strategie ist, dass eine erbliche Form eines KRK weitgehend ausgeschlossen oder sehr unwahrscheinlich ist (siehe Kapitel: Erblicher Darmkrebs). Wie erwƤhnt, ist das Erkrankungsrisiko beim fKRK sehr variabel. Da Familienangehƶrige im Verwandtschaftsgrad 2 (Enkel/-in, Grosseltern, Onkel/Tante) kaum und weiter entfernte Verwandte kein erhƶhtes Erkrankungsrisiko haben, empfehlen die meisten Fachgesellschaften bei dieser Konstellation keine intensivierte Vorsorge, sondern die Teilnahme an den lokalen Screening-Programmen fĆ¼r Personen mit Durchschnittsrisiko. Da hingegen Personen im Verwandtschaftsgrad 1 ein im Vergleich zur Allgemeinbevƶlkerung erhƶhtes Darmkrebsrisiko haben, erscheint fĆ¼r diese Personen eine intensivierte Vorsorge gerechtfertigt, auch wenn der protektive Effekt der Screening-Koloskopie in dieser Gruppe nur durch wenige Beobachtungsstudien untermauert ist (17, 18).

Je jĆ¼nger die betroffene Person bei der Darmkrebsdiagnose war, umso hƶher ist das Risiko fĆ¼r Angehƶrige im Verwandtschaftsgrad 1 (14). Die Kriterien fĆ¼r die Klassifikation eines gegenĆ¼ber der Allgemeinbevƶlkerung erhƶhten KRK-Risikos sind bei den verschiedenen Fachgesellschaften sehr unterschiedlich. Historisch von Bedeutung waren die Amsterdam-Kriterien I (1991) bzw. II (1999), die zur Identifikation der dem Lynch-Syndrom (LS) zugrunde liegenden Gene bzw. der Erfassung von LS-Patient/-innen entwickelt wurden, sowie die revidierten Bethesda-Guidelines (2004), die mittels Untersuchung der MikrosatelliteninstabilitƤt im Tumor die SensitivitƤt weiter erhƶht haben (fĆ¼r eine Kriterienzusammenstellung s.ā€‰a. Jasperson et al., 2010) (2). Die Guidelines der Ā«U.S. Multi-Society Task Force on Colorectal CancerĀ» (USMSTF) empfehlen eine intensivierte Vorsorge generell, wenn eine Person mit Verwandtschaftsgrad 1 ein KRK hatte, d.h. unabhƤngig vom Erkrankungsalter (7). Die Ā«European Society of Gastrointestinal EndoscopyĀ» (ESGE) und die Ā«British Society of GastroenterologyĀ» (BSG) empfehlen eine intensivierte Vorsorge bei nur einer betroffenen Person im Verwandtschaftsgrad 1, wenn deren Erkrankung vor dem 50. Lebensjahr auftrat, das Ā«Cancer Council AustraliaĀ» (CCA) bei Manifestation des KRK vor dem 60. Lebensjahr (Tab.ā€‰1) (8, 9, 10). Sind hingegen zwei Personen im Verwandtschaftsgrad 1 an einem KRK erkrankt, dann schlagen die meisten Fachgesellschaften eine intensivierte Vorsorge unabhƤngig von deren Erkrankungsalter vor.

Es bestehen zwischen den verschiedenen Fachgesellschaften nicht nur verschiedene Definitionen zur Rechtfertigung der intensivierten Vorsorge, sondern auch unterschiedliche Vorgehensweisen, ab welchem Alter und mit welcher HƤufigkeit die Vorsorge erfolgen soll (7, 8, 9, 10). Wie in Tab.ā€‰1 dargestellt, variiert der Beginn der Vorsorge bei fKRK je nach Fachgesellschaft zwischen 40 und 55 Jahren. Wenn eine intensivierte Vorsorge empfohlen ist, dann soll diese mittels Koloskopie erfolgen (10). Wenn die Koloskopie abgelehnt wird oder nicht durchfĆ¼hrbar ist, dann kann alternativ die Vorsorge mit FIT Test erfolgen, vorzugsweise jƤhrlich (19). Das weitere Vorgehen richtet sich nach der Konstellation der Familienanamnese (Tab.ā€‰1), dem Befund der Erstkoloskopie bzw. nach endoskopischer Entfernung von Polypen entsprechend den Richtlinien der verschiedenen Fachgesellschaften zur Nachsorge nach Polypektomie (20). Eine kĆ¼rzlich publizierte Ɯbersichtsarbeit fasst die Guidelines dieser und weiterer Fachgesellschaften zusammen und stellt die Divergenzen dar (21).

Nur wenige Studien haben untersucht, ob nach endoskopischer Polypektomie das Risiko fĆ¼r metachrone Polypen hƶher ist bei positiver KRK-Familienanamnese im Vergleich zu unauffƤlliger Familiengeschichte. FĆ¼r die Entwicklung von adenomatƶsen Polypen (AP) konnte dies gezeigt werden, dabei war die Risikoerhƶhung etwa gleich hoch fĆ¼r metachrone fortgeschrittene wie nicht fortgeschrittene AP. Die Risikoerhƶhung war grƶsser fĆ¼r jĆ¼ngere (< 50) im Vergleich mit Ƥlteren Personen und wenn mindestens zwei erstgradig Verwandte ein KRK hatten (22, 23). Die ESGE und BSG empfehlen dennoch die gleichen Ɯberwachungsintervalle nach endoskopischer Polypenentfernung fĆ¼r Personen mit positiver KRK-Familienanamnese wie fĆ¼r Personen mit Durchschnittsrisiko.

Empfehlungen

Anhand der aktuellen Datenlage und der Guidelines anderer Fachgesellschaften empfehlen wir das intensivierte Screening mittels Koloskopie alle 5 Jahre ab Alter 40 fĆ¼r Personen, bei denen ein Familienangehƶriger im Verwandtschaftsgrad 1 vor dem 60. Lebensjahr an einem KRK erkrankt ist, fĆ¼r Personen mit zwei oder mehr betroffenen Angehƶrigen derselben Familienseite im Verwandtschaftsgrad 1, unabhƤngig von deren Erkrankungsalter, sowie fĆ¼r Personen, bei denen ein Familienangehƶriger im Verwandtschaftsgrad 1 und zusƤtzlich mindestens zwei Angehƶrige mit Verwandtschaftsgrad 2 betroffen sind. Die Nachsorge nach koloskopischer Polypektomie kann entsprechend den revidierten schweizerischen Konsensusempfehlungen erfolgen bzw. im Einzelfall, mƶglicherweise bei jĆ¼ngeren Betroffenen, verkĆ¼rzt werden (20).

Nebst dem mƶglichst sicheren Ausschluss einer erblichen Form eines KRK beim Indexpatienten ist die hohe QualitƤt der Erstkoloskopie Voraussetzung fĆ¼r die Anwendung dieser Empfehlungen. Die Koloskopie soll mit High-definition-Auflƶsung erfolgen, hingegen gibt es keine Evidenz fĆ¼r den Nutzen der generellen Anwendung der Chromoendoskopie (8). Letztlich sei erwƤhnt, dass Angehƶrige von Familien mit irgendeiner Form des familiƤren Auftretens eines KRK auf die Relevanz der PrimƤrprƤvention hingewiesen werden sollen (normaler BMI, nicht rauchen, regelmƤssige kƶrperliche AktivitƤt, moderater Konsum von rotem und prozessiertem Fleisch sowie Alkohol) (24).

Verwandte von Patienten mit Ā­kolorektalen Polypen

Nur wenige Fachgesellschaften haben Guidelines zur Gestaltung der Vorsorge bei Familienangehƶrigen von Personen mit gutartigen kolorektalen Polypen publiziert. Die verfĆ¼gbare Datenlage hierzu ist kontrovers (25, 26). Die Risikoerhƶhung fĆ¼r das Auftreten eines KRK scheint abhƤngig vom Alter des betroffenen Familienmitgliedes zu sein und ob bei diesem nicht fortgeschrittene oder fortgeschrittene Polypen vorgelegen haben. Eine intensivierte Vorsorge wird nur empfohlen, wenn bei einem Verwandten im Verwandtschaftsgrad 1 fortgeschrittene AP abgetragen wurden (fortgeschrittene AP: ā‰„ 10ā€‰mm oder Nachweis von hochgradiger Dysplasie oder ā‰„ 5 AP unabhƤngig von Grƶsse und Dysplasiegrad; fortgeschrittene serratierte Polypen (SP): ā‰„ 10ā€‰mm oder Nachweis irgendeiner Dysplasie oder ā‰„ 5 SP unabhƤngig von Grƶsse und Dysplasie, traditionell serratierte Adenome unabhƤngig von Grƶsse und Dysplasie). Ist die Histologie der entfernten Polypen nicht bekannt, dann wird von einem nicht fortgeschrittenen Polypen ausgegangen und keine intensivierte Vorsorge empfohlen. Weitgehend unklar ist die Datenlage nach Abtragung von fortgeschrittenen SP: hier empfiehlt die USMSTF das gleiche Vorgehen wie bei fortgeschrittenen AP, wƤhrend mehrere andere Fachgesellschaften hierzu keine spezifischen Empfehlungen abgeben (7, 8, 9, 10). DemgegenĆ¼ber ergab eine grosse schwedische Studie ein erhƶhtes KRK-Risiko fĆ¼r erstgradige Verwandte von Familienmitgliedern mit kolorektalen Polypen, und zwar unabhƤngig von deren Histologie (27). Dabei zeigte sich vor allem ein zunehmendes Risiko fĆ¼r das Auftreten eines KRK vor dem 50. Lebensjahr, wenn mehrere Familienmitglieder Polypen hatten und je jĆ¼nger deren Manifestationsalter war. Sollten sich diese Daten bestƤtigen, dann wird mƶglicherweise in Zukunft eine intensivierte Vorsorge bei einer positiven Familienanamnese fĆ¼r Polypen empfohlen, sofern mindestens zwei Familienangehƶrige im Verwandtschaftsgrad 1 Polypen vor dem 50. Lebensjahr hatten, unabhƤngig von deren Histologie, welche oft nicht verfĆ¼gbar ist.

Empfehlungen

Anhand der derzeit verfĆ¼gbaren Datenlage und den Guidelines anderer Fachgesellschaften empfehlen wir das Screening mittels Koloskopie alle 5ā€“10 Jahre ab Alter 40 fĆ¼r Personen mit einem Familienangehƶrigen im Verwandtschaftsgrad 1, bei dem vor dem 50. Lebensjahr ein dokumentierter fortgeschrittener Polyp (AP oder SP) abgetragen wurde. Anhand der derzeitigen Datenlage kƶnnen keine Empfehlungen gemacht werden bei einer anderweitig positiven Familienanamnese fĆ¼r kolorektale Polypen.

Serratiertes Polypose-Syndrom

Das serratierte Polypose-Syndrom (SPS) ist das hƤufigste kolorektale Polypose-Syndrom mit einer PrƤvalenz von etwa 1:240 (28). Eine 2022 publizierte Metaanalyse berichtete Ć¼ber ein KRK-Risiko fĆ¼r SPS-Patienten von 20ā€‰% (29). Die Mehrheit der Karzinome wurde zum Zeitpunkt der SPS-Diagnose gestellt, das Karzinomrisiko wƤhrend der Ɯberwachung lag bei knapp 3ā€‰%. Die dem SPS zugrunde liegenden molekularen Mechanismen sind weitgehend unbekannt, das SPS ist daher klinisch definiert: (i) ā‰„ 5 serratierte Polypen (SP) proximal des Rektums, alle ā‰„ 5ā€‰mm, zwei dieser Polypen mĆ¼ssen ā‰„ 10ā€‰mm sein; (ii) > 20 serratierte Polypen unabhƤngig von deren Grƶsse, ā‰„ 5 dieser Polypen mĆ¼ssen proximal des Rektums sein. Die Anzahl Polypen wird kumulativ Ć¼ber mehrere Koloskopien berechnet und umfasst alle SP-Subtypen (29). Auch wenn kein erbliches Syndrom im engeren Sinne vorliegt, haben erstgradige Verwandte von Patienten mit SPS ein etwa 5-fach erhƶhtes KRK-Risiko (30).

Die Ɯberwachung von SPS-Patienten mittels Koloskopie kann alle 1ā€“2 Jahre erfolgen (9). Einige Fachgesellschaften empfehlen zunƤchst eine Clearing-Phase mit Entfernung aller Polypen (ausser HP < 5ā€‰mm), gefolgt von jƤhrlicher Ɯberwachung bei mindestens einem fortgeschrittenen Polypen (Adenom oder serratierter Polyp) oder ā‰„ 5 nicht fortgeschrittenen Polypen bzw. 2-jƤhrlicher Ɯberwachung ohne Nachweis einer solchen Konstellation (31, 32). FĆ¼r Verwandte im ersten Verwandtschaftsgrad von SPS-Patienten kann eine koloskopische Ɯberwachung alle 5 Jahre ab Alter 40ā€“45 (oder SPS-Manifestationsalter des erstgradig Verwandten oder 10 Jahre frĆ¼her als dessen Erkrankungsalter) erfolgen (9, 33).

Empfehlung

Anhand der derzeit verfĆ¼gbaren Datenlage schlagen wir das genannte PhƤnotyp-abhƤngige Vorgehen mit einer Clearing-Phase gefolgt von 2-jƤhrlichen Koloskopien vor, sofern keine fortgeschrittenen und weniger als 5 Polypen vorliegen (grƶssenunabhƤngig, alle Subtypen). Falls dies jedoch der Fall ist, dann soll die koloskopische Kontrolle jƤhrlich erfolgen.

FamiliƤres Kolorektales Karzinom Typ X

Diese EntitƤt umfasst die rund 40ā€‰% Patienten mit klinischem Verdacht auf das Vorliegen eines LS (3 Verwandte im Verwandtschaftsgrad 1 mit KRK, 2 Generationen betroffen), ohne dass eine MMR-Defizienz oder Mutation in einem der MMR-Gene nachweisbar ist. Das Karzinomrisiko in dieser Gruppe beschrƤnkt sich auf das Kolorektum und ist kleiner als beim LS und Lynch-like Syndrom (LLS) (34), sodass meist eine Koloskopie alle 3ā€“5 Jahre ab Alter 40 (oder 10 Jahre frĆ¼her als das jĆ¼ngste Manifestationsalter innerhalb der Familie) vorgeschlagen wird (9, 35).

Empfehlung

Anhand der aktuellen Datenlage und der Guidelines anderer Fachgesellschaften schlagen wir folgendes Screening vor: Koloskopie alle 3ā€“5 Jahre ab Alter 40 oder 10 Jahre frĆ¼her als das Erkrankungsalter des jĆ¼ngsten betroffenen Familienmitgliedes.

Erblicher Darmkrebs

Beim erblichen KRK kann zwischen Darmkrebs ohne vorbestehende Kolon-Polypose (Ā«nonpolyposis colorectal cancerĀ») und den Polypose-Erkrankungen unterschieden werden (Tab.ā€‰2), bei letzteren zudem nach der vorherrschenden Polypenart. Wie aus Tab.ā€‰2 ersichtlich, beschrƤnkt sich die erhƶhte TumoranfƤlligkeit meist nicht nur auf ein einzelnes Organsystem wie das Kolorektum. Oft zeigen sich sowohl inter- wie intrafamiliƤr phƤnotypische Unterschiede, denen wohl komplexe Interaktionen zwischen genspezifischen Unterschieden sowie Umwelt- und Lifestyle-Faktoren zugrunde liegen (36).

Lynch-Syndrom

Mit einer PrƤvalenz von ca. 1 auf 279 Personen stellt das autosomal-dominant erbliche LS die weltweit hƤufigste Tumorveranlagung dar (37). Rund 3ā€‰% aller KRK entstehen auf dem Boden einer LS-Veranlagung, bei der pathogene Keimbahnvarianten in den MMR-Genen MLH1, MSH2/EPCAM, MSH6 und PMS2 zugrunde liegen. Die daraus resultierende MMR-Defizienz lƤsst sich im Tumorgewebe indirekt in Form einer MikrosatelliteninstabilitƤt (MSI) bzw. dem Verlust der MMR-Proteinexpression nachweisen.

Prospektive Studien konnten ausgeprƤgte genspezifische Unterschiede fĆ¼r Tumorerkrankungen bei Personen mit nachgewiesener LS-Veranlagung aufzeigen: So betrƤgt das Lebenszeitrisiko fĆ¼r das KRK bei MLH1- und MSH2-TrƤger/-innen ca. 42ā€“53ā€‰% und wird im Mittel um das 44. Lebensjahr diagnostiziert; MSH6- und PMS2-TrƤger/-innen entwickeln Ā«lediglichĀ» in ca. 3ā€“20ā€‰% ein KRK erst mit 42ā€“69 (MSH6) bzw. 61ā€“66 Jahren (PMS2) (38, 39). Ƅhnlich verhƤlt es sich mit anderen LS-assoziierten, extrakolonischen Tumorerkrankungen wie Endometrium- (MSH2, MSH6, MLH1: ca. 35ā€“46ā€‰%; PMS2: ca. 13ā€‰%), Ovarial- (MSH2, MLH1, MSH6: ca. 11ā€“17ā€‰%; PMS2: ca. 3ā€‰%) und Magen-/DĆ¼nndarmkarzinom (MSH2, MLH1: ca. 8ā€“16ā€‰%; MSH6, PMS2: ca. 2ā€“4ā€‰%) (40). Aufgrund dieser Unterschiede haben mehrere Fachgesellschaften ihre Empfehlungen fĆ¼r gynƤkologische und gastroenterologische Vorsorgeuntersuchungen genspezifisch angepasst (Tab.ā€‰3) (41).

Bei Darmkrebspatienten und zur Vorsorgekoloskopie erscheinenden Personen mit positiver Familienanamnese fĆ¼r das KRK soll bei folgenden klinischen Konstellationen an ein LS gedacht werden: Darmkrebsdiagnose vor dem 50. Lebensjahr, syn- oder metachrone LS-assoziierte Tumoren unabhƤngig vom Erkrankungsalter, ein Angehƶriger 1. oder 2. Grades mit vor dem 50. Lebensjahr diagnostiziertem, LS-assoziiertem Tumor bzw. 2 oder mehr Angehƶrige mit LS-assoziierten Tumoren unabhƤngig vom Erkrankungsalter. Weiter sollte eine genetische AbklƤrung bei Vorliegen einer auffƤlligen Familienanamnese, wie oben erwƤhnt, oder am Tumorgewebe nachgewiesener MMR-Defizienz oder somatischen MMR-Genalterationen in Betracht gezogen werden (37). Auch bei Vorliegen einer Lynch-Syndrom verdƤchtigen Klinik und im Tumor erhaltener MMR-Funktion sollte eine AbklƤrung der MMR-Gene in der Keimbahn diskutiert werden, da die diagnostische SensitivitƤt der erwƤhnten indirekten Methoden nur bei ca. 90ā€‰% liegt (42).
Immuncheckpoint-Inhibitoren werden heutzutage oft in der Behandlung von MMR-defizienten soliden Tumoren eingesetzt und daher alle neu diagnostizierten KRK (und zunehmend auch weitere Krebsarten) auf ihre MMR-Funktion Ć¼berprĆ¼ft. Dies ist nicht nur von grosser Bedeutung fĆ¼r die bessere Erfassung von LS-Patient/-innen, sondern erƶffnet zudem neue Therapieoptionen bei ca. 10ā€“15ā€‰% der Patient/-innen mit sporadischem MMR-defizientem KRK (43).

Die KRK-Vorsorge wird von verschiedenen Fachgesellschaften fĆ¼r TrƤger/-innen einer MLH1- oder MSH2-Mutation ab Alter 25 und bei MSH6- oder PMS2-Mutation ab Alter 35 empfohlen (Tab.ā€‰3). Die Vorsorge wird generell mittels Koloskopie und bei MLH1- oder MSH2-TrƤgerschaft alle 1ā€“3 Jahre empfohlen, bei Mutation im MSH6-Gen alle 2ā€“3 Jahre und bei einer Mutation im PMS2-Gen alle 5 Jahre. Prospektive erhobene Daten einer europƤischen Studie zeigten hinsichtlich Inzidenz und Tumorstadium keinen Benefit bei jƤhrlicher Koloskopie gegenĆ¼ber einem weniger strikten Ɯberwachungsprotokoll (44). Trotz Ɯberwachung erreichte in dieser Studie die kumulative KRK-10-Jahresinzidenz bis zu 18ā€‰%. Dies bedeutet, dass durch die koloskopische Surveillance mit Polypektomie das KRK nicht immer verhindert, aber oft frĆ¼her erkannt werden kann, mit entsprechend besserer Prognose. Die GrĆ¼nde hierfĆ¼r sind noch nicht vollstƤndig geklƤrt (45). Gute Evidenz fĆ¼r den Nutzen einer regelmƤssigen Ɯberwachung zur Senkung der Inzidenz und MortalitƤt von Karzinomen des Magens, DĆ¼nndarmes und Pankreas gibt es nicht.

Dementsprechend wird die Ɯberwachung des oberen Gastrointestinaltraktes von den meisten Fachgesellschaften nicht routinemƤssig, sondern nur bei Vorliegen weiterer Risikofaktoren (familiƤres Auftreten von Magenkarzinomen, Regionen mit hoher Inzidenz fĆ¼r Magenkrebs) empfohlen, meist ab Alter 30. Vorsorgeuntersuchungen fĆ¼r den DĆ¼nndarm und das Pankreas werden ebenso nicht generell, sondern nur auf individueller Basis empfohlen, bspw. bei (mehrfachem) familiƤrem Auftreten von Karzinomen in den entsprechenden Organen.

Empfehlungen

Anhand der aktuellen Datenlage und der Guidelines anderer Fachgesellschaften schlagen wir folgendes Screening vor (Tab.ā€‰3): Koloskopische Ɯberwachung geschlechtsunabhƤngig alle 2 Jahre bei MLH1- oder MSH2-Mutation ab Alter 25, bei MSH6 ab Alter 35 alle 2ā€“3 Jahre und bei PMS2-Ā­Mutation ab Alter 35 alle 5 Jahre. Beginn der Ɯberwachung in allen FƤllen wenigstens 5 Jahre frĆ¼her als das Erkrankungsalter des jĆ¼ngsten betroffenen Familienmitgliedes. Anpassung der Ɯberwachung an den kolorektalen PhƤnotyp (Nachweis fortgeschrittener Polypen), zudem vorzeitige Untersuchung bei Auftreten von Symptomen. Obere Panendoskopie in AbhƤngigkeit des familiƤren PhƤnotyps (positive Familienanamnese fĆ¼r das Magenkarzinom). Wir empfehlen eine Helicobacter-Pylori-Diagnostik mit ggf. EraĀ­dikation. Den Patient/-innen soll ein gesunder Lebensstil empfohlen werden (wie die Vermeidung von Ɯbergewicht, regelmƤssige Bewegung und eine ausgewogene ErnƤhrung) (46).

Fortschritte in der Labordiagnostik und die Fortsetzung der prospektiven Datenerhebung in internationalen Konsortien wie der Prospective Lynch Syndrome Database (PLSD) (47) werden zu weiteren, klinisch relevanten Genotyp-PhƤnotyp-Korrelationen fĆ¼hren, welche Anpassungen des Screenings gastrointestinaler und anderer Organe erfordern. Daher sind in Tab.ā€‰2 diverse Webadressen aufgelistet, um sich nach den aktuellsten Vorsorgeuntersuchungen zu informieren. Der VollstƤndigkeit halber sei noch das autosomal-rezessiv erbliche, konstitutionelle Mismatch-Reparatur-Defizienz-Syndrom (CMMRD) erwƤhnt, eine seltene Krebsveranlagung des Kindesalters, die v.ā€‰a. mit malignen hƤmatologischen, gastrointestinalen und ZNS-Tumoren einhergeht (40).

Lynch-like Syndrom

Das LLS beschreibt Personen mit MMR-defizientem KRK oder anderen LS-assoziierten Tumoren, ohne dass eine Keimbahnmutation in einem MMR-Gen nachweisbar ist (48). Da die Mehrheit aller KRK mit MSI nicht im Rahmen eines LS, sondern sporadisch als Folge einer Hypermethylierung im MLH1-Promoter auftreten, soll diese molekulare Aberration ausgeschlossen werden. Ist dies der Fall, dann ist in 50ā€“70ā€‰% der FƤlle die MMR-Defizienz durch (sporadisch aufgetretene) biallelische somatische MMR-Genmutationen erklƤrt. Um Betroffene und deren Verwandte nicht durch unnƶtige Ɯberwachungen zu belasten, soll daher auch diese Konstellation im Labor ausgeschlossen werden (49, 50). Das KRK-Risiko in betroffenen Familien scheint kleiner als bei nachgewiesenem LS, aber hƶher als beim fKRK zu sein (34, 51). Die Datenlage zum wenig verstandenen LLS ist dĆ¼rftig, vorgeschlagen wird beispielsweise die Ɯberwachung mittels Koloskopie alle 2ā€“3 Jahre fĆ¼r Betroffene und deren Verwandte im Verwandtschaftsgrad 1 ab Alter 25 bzw. in AbhƤngigkeit von der Familienanamnese (9, 52).

Empfehlung

Anhand der limitierten Evidenz kƶnnen keine Empfehlungen gegeben werden. Die Ɯberwachung soll individuell unter BerĆ¼cksichtigung der Familienanamnese und des PhƤnotyps des/der betroffenen Patient/-in festgelegt werden.

Adenomatƶse Polyposen

Die im Vergleich zum Lynch-Syndrom deutlich selteneren adenomatƶsen Polyposen-Syndrome sind fĆ¼r ca. 1ā€‰% der KRK insgesamt bzw. ca. 2ā€‰% aller vor dem 50. Lebensjahr diagnostizierten KRK verantwortlich. Diagnostisch unproblematisch ist die Ā«klassischeĀ» AusprƤgung mit Hunderten bis hin zu Tausenden von gastrointestinalen Adenomen (53). In bis zu einem Drittel liegt beim klassischen PhƤnotyp keine positive Familienanamnese vor, sodass von einer Neumutation ausgegangen wird. Liegen weniger als 100 Adenome vor, handelt es sich um eine attenuierte Polypose-Form, die genetisch heterogen ist und sowohl dem autosomal-dominanten (APC, POLD1, POLE) als auch dem autosomal-rezessiven Erbgang (MUTYH, NTHL1, MSH3, MBD4 u.ā€‰a.) folgen kann.

Eine genetische AbklƤrung ist zu diskutieren, wenn bei einer Person kumulativ mindestens 10ā€“20 Adenome nachgewiesen wurden. Wie Terlouw et al. gezeigt haben, liegt die Detektionswahrscheinlichkeit fĆ¼r pathogene APC- oder MUTYH-Varianten Ć¼ber 10ā€‰%, wenn bei einer Person vor dem 60. Lebensjahr kumulativ mehr als 10 bzw. vor dem 70. Lebensjahr mehr als 20 adenomatƶse Polypen gefunden wurden (54). Weiter kƶnnen das Vorliegen extrakolonischer Tumormanifestationen, wie z.B. Desmoid-Tumoren, multiple Osteome u.ā€‰a., und eine auffƤllige Familiengeschichte (Angehƶriger 1. Grades mit >ā€‰10 Adenomen) zusƤtzliche Hinweise auf eine hereditƤre Polypose liefern. Das Risiko fĆ¼r die Entwicklung eines KRK nimmt bei der klassischen APC-bedingten familiƤren adenomatƶsen Polypose (FAP) bereits anfangs der zweiten Lebensdekade zu und erreicht ein Lebenszeitrisiko von beinahe 100ā€‰%. Bei Vorliegen der attenuierten Form (AFAP) treten Neoplasien etwas spƤter und vor allem im rechten Hemikolon auf, das KRK-Risiko betrƤgt ca. 70ā€‰% (55, 56). Bei beiden Formen treten auch gehƤuft Karzinome im oberen Gastrointestinaltrakt auf, im Bereich von Duodenum/Papilla Vateri in ca. 4ā€“12ā€‰% und im Magen in ca. 1ā€‰%.

Die meisten Fachgesellschaften empfehlen bei nachgewiesener TrƤgerschaft einer autosomal-dominant erblichen APC-bedingten Kolonpolypose die 1ā€“2-jƤhrliche koloskopische Ɯberwachung bei der klassischen Form ab dem Beginn und bei der attenuierten FAP (AFAP) ab dem Ende der zweiten Lebensdekade.

Bei den meisten Patienten mit APC-bedingter Polypose, besonders der klassischen Form (bis 90ā€‰%), finden sich im Magen zahlreiche DrĆ¼senkƶrperzysten, Adenome sind weniger hƤufig, scheinen aber klinisch relevanter zu sein wegen des Risikos einer malignen Transformation. Die Strategien zur Ɯberwachung im oberen Gastrointestinaltrakt bei FAP bzw. AFAP sind heterogen. Bei der klassischen Form wird eine obere Endoskopie mit Darstellung der Papilla Vateri ab dem 20.ā€“25. Lebensjahr vorgeschlagen mit befundabhƤngiger (Spigelman-Klassifikation, PhƤnotyp im Magen) Wiederholung alle 6 Monate bis 5 Jahre. Da TrƤger/-innen einer pathogenen APC-Variante, die hinter APC-Kodon 1395 liegt, ein erhƶhtes Lebenszeitrisiko (ca. 10ā€“24ā€‰%) fĆ¼r Desmoid-Tumoren aufweisen, sollten bei diesen Personen mehrstufige Operationen vermieden und klinisch ein besonderes Augenmerk auf entsprechende abdominale Symptome gelegt werden, mit ggf. bildgebender AbklƤrung mittels MRI oder CT.

Bei der autosomal-rezessiven MUTYH-bedingten attenuierten Form der adenomatƶsen Polypose (MAP) liegt das Lebenszeitrisiko fĆ¼r ein KRK bei ca. 80ā€‰%, fĆ¼r ein Karzinom im Duodenum bei ca. 4ā€‰% und im Magen bei ca. 1ā€‰%. Wie bei der APC-assoziierten Form der attenuierten Polypose steigt das KRK-Risiko erst gegen Ende der zweiten Lebensdekade an, und auch die MAP manifestiert sich vor allem im rechten Hemikolon, dabei kƶnnen nebst AP auch SP vorliegen. Dementsprechend empfehlen die meisten internationalen Fachgesellschaften fĆ¼r die Ɯberwachung des Kolorektums bei MAP (nachgewiesene biallelische MUTYH-TrƤger/-innen), sofern die persƶnliche bzw. die Familienanamnese nicht auf einen besonderen PhƤnotyp hinweist, 1ā€“2-jƤhrliche Koloskopien ab dem 18.ā€“20. Lebensjahr. Eine obere Endoskopie mit Darstellung der Papilla Vateri wird ab der 3. Dekade vorgeschlagen, wiederum befundabhƤngig alle 6 Monate bis 5 Jahre. Kontrovers wird derzeit diskutiert, ob monoallelische (heterozygote) MUTYH-TrƤger/-innen ein (etwa 2-fach) erhƶhtes KRK-Risiko tragen. Teilweise wird empfohlen, ab dem 40. Lebensjahr etwa alle 5 Jahre eine Koloskopie durchzufĆ¼hren, insbesondere wenn in der Familie ein erstgradig Verwandter an einem KRK erkrankte.

Empfehlungen

Anhand der aktuellen Datenlage und der Guidelines anderer Fachgesellschaften schlagen wir folgendes Screening vor (Tab.ā€‰3): Koloskopie alle 1ā€“2 Jahre ab Alter 12ā€“14 bei klassischer FAP, bei AFAP und MAP ab Alter 18ā€“20. Gastroskopie mit Darstellung der Papilla Vateri alle 1ā€“5 Jahre ab Alter 25. Anpassung der endoskopischen Ɯberwachung des oberen und unteren Gastrointestinaltraktes an den PhƤnotyp und bei Auftreten von Symptomen. Bei Status nach Operation soll das Restrektum oder der Pouch ca. alle 6ā€“12 Monate endoskopisch kontrolliert werden. In den letzten 20 Jahren wurden weitere, sehr seltene Non- bzw. Polypose-Formen entdeckt, die mit einem erhƶhtem Risiko fĆ¼r das KRK und oft auch fĆ¼r extrakolonische Tumore einhergehen (Tab. 2). Aufgrund der Seltenheit wird in dieser Arbeit nicht nƤher auf diese eingegangen.

Genetische Beratung und AbklƤrung

Bei ca. 13ā€‰% (9ā€‰%ā€“26ā€‰%) der KRK-Patient/-innen, deren Erkrankung vor dem 50. Lebensjahr diagnostiziert wurde, lƤsst sich eine pathogene Keimbahnvariante in einem der 17 bislang bekannten Gene identifizieren (57), was von klinischer Relevanz sein kann. Das frĆ¼hzeitige Erkennen einer erblichen Darmkrebserkrankung hat dabei nicht nur Konsequenzen fĆ¼r das chirurgisch-onkologische Vorgehen und die Gestaltung der Nach- bzw. Vorsorge beim Betroffenen, sondern ist auch von essenzieller Bedeutung fĆ¼r dessen gesunde Familienangehƶrige. So ermƶglicht dies in der Folge auch den Angehƶrigen (u.ā€‰a. Eltern, Geschwister, Kinder meist erst ab 18. Lebensjahr), sich nach entsprechender genetischer Beratung und angemessener Bedenkzeit prƤdiktiv auf TrƤgerschaft testen zu lassen (TrƤgerwahrscheinlichkeit bei Verwandten 1. Grades: 25 % bzw. 50ā€‰%) und so fĆ¼r sich die Notwendigkeit regelmƤssiger Krebsvorsorgeuntersuchungen zu klƤren.

Die Kosten einer molekulargenetischen AbklƤrung von 1ā€“10 Genen belaufen sich auf ca. CHF 3 000 ā€“ 4 000.ā€“ und sind als Pflichtleistungen in der Analysenliste (Anhang 3 der Krankenpflege-Leistungsverordnung) entweder spezifisch (Lynch-Syndrom, APC-bedingte Polypose) oder in genereller Form als Ā«Seltene erbliche TumorkrankheitenĀ» aufgefĆ¼hrt. FĆ¼r Letztere sollte zur Sicherung der Kostenbeteiligung vorgƤngig ein sog. Orphan Disease-Antrag beim vertrauensƤrztlichen Dienst des Krankenversicherers eingereicht werden (Antragsformular: https://sgmg.ch/de/fachthemen#fachthemen-dokumente).

Vor Veranlassung einer diagnostischen genetischen AbklƤrung bedarf es, wie im Bundesgesetz Ć¼ber genetische Untersuchungen beim Menschen (GUMG) festgehalten, einer hinreichenden AufklƤrung, die der/die auftraggebende Arzt/Ƅrztin entweder selbst durchfĆ¼hrt oder eine genetische Beratung veranlasst, sowie der Zustimmung des Patienten bzw. der Patientin.
Vor und nach einer prƤsymptomatischen (prƤdiktiven) genetischen Testung ist eine fachkundige genetische Beratung gesetzlich vorgeschrieben, in der nicht nur auf Aussagekraft, Grenzen und medizinische Konsequenzen einer Tragertestung bzw. dem Verzicht darauf eingegangen wird, sondern auch psychosoziale und (versicherungs)rechtliche Aspekte diskutiert werden. Die TrƤgertestung belƤuft sich auf ca. CHF 400.ā€“ und stellt, mit Ausnahme von Lynch-Syndrom und APC-bedingter Polypose, keine Pflichtleistung der Krankenversicherer dar.

ChemoprƤvention

In diversen Labor- und klinischen Studien konnte ein protektiver Effekt diverser Substanzen (NSAR, Statine, Vitamine etc.) auf die Entstehung und Progression kolorektaler Neoplasien nachgewiesen werden (58). So zeigte sich fĆ¼r die am besten untersuchte Medikamentengruppe, NSAR inkl. Aspirin, dass bei FAP-Patienten die Anzahl und Grƶsse von Polypen und bei Patienten mit Lynch-Syndrom das KRK-Risiko gesenkt werden kann. In der CAPP-2-Studie wurde das KRK-Risiko nach rund 10 Jahren durch die Einnahme von 600 mg Aspirin tƤglich im Vergleich zu Placebo um rund 35ā€‰% gesenkt (59). Verschiedene Aspekte wie die optimale Dosierung und Dauer der ChemoprƤvention mit Aspirin sind aber noch ungenĆ¼gend geklƤrt. Dementsprechend unterstĆ¼tzen einige Fachgesellschaften die prophylaktische Aspirin-Einnahme bei LS, wƤhrend andere keine Stellungnahme abgeben. Risiko und Benefit mĆ¼ssen daher individuell abgeschƤtzt und auch im Rahmen allfƤlliger KomorbiditƤten und des Alters beurteilt werden.



AbkĆ¼rzungen
AFAPĀ  Attenuierte familiƤre adenomatƶse Polypose
APĀ  Adenomatƶser Polyp
BSGĀ  British Society of Gastroenterology
CCAĀ  Cancer Council Australia
eKRKĀ  Erbliches kolorektales Karzinom
FAPĀ  FamiliƤre adenomatƶse Polypose
FDRĀ  First-degree Relatives
FITĀ  Test Immunologischer Test auf okkultes Blut im Stuhl
fKRKĀ  FamiliƤres kolorektales Karzinom
ESGEĀ  European Society of Gastrointestinal Endoscopy
HNPCCĀ  Hereditary Nonpolyposis Colorectal Cancer
HPĀ  Hyperplastischer Polyp
KRKĀ  Kolorektales Karzinom
LLSĀ  Lynch-like Syndrom
LSĀ  Lynch-Syndrom
MAPĀ  MUTYH-assoziierte Polypose
MMRĀ  Mismatch Repair
SPĀ  Serratierter Polyp
SPSĀ  Serratiertes Polypose-Syndrom
USMSTFĀ  U. S. Multi-Society Task Force


Disclaimer
Diese Empfehlungen mĆ¼ssen in der Zukunft Ć¼berarbeitet und angepasst werden, abhƤngig von neuen Studiendaten und technoĀ­logischen Mƶglichkeiten sowie basierend auf Erfahrungen im klinischen Alltag. Diese Empfehlungen sollen als Orientierung in der klinischen Praxis dienen und nicht als universell gĆ¼ltige Regeln angewendet werden. Die klinische Situation kann eine Abweichung von den vorgeschlagenen Empfehlungen erfordern.

PD Dr. med. Kaspar Truninger

Klinik fĆ¼r Gastroenterologie und Hepatologie UniversitƤtsspital ZĆ¼rich
RƤmistrasse 100, 8091 ZĆ¼rich

k.truninger@hin.ch

Prof. Dr. med. Dr. phil. II Karl Heinimann

Institut fĆ¼r Medizinische Genetik und Pathologie UniversitƤtsspital Basel
Schƶnbeinstrasse 40
4031 Basel

karl.heinimann@usb.ch

Die Autorschaft keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

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