- Winterliche Wanderung in einem geschichtsträchtigen Gebiet
Der innere Teil der Val Colla erinnert uns jedes Mal an die schwierigen Jahre, die die Grenzdörfer dort während des Zweiten Weltkrieges durchleben mussten. Dabei sind unsere Gedanken untrennbar verbunden mit den Erzählungen von Aline Valangin in ihrem Buch Dorf an der Grenze, die, ich zitiere den Klappentext der Ausgabe 1982 des Limmat Verlags, die Geschichte eines Tessiner Dorfes und seiner Bewohner zur Zeit des Zweiten Weltkrieges beschreibt. Auf den ersten Blick eine Insel des Friedens, in Wirklichkeit aber von den Ereignissen jenseits der Grenze direkt betroffen: Flüchtlinge, die von Schweizer Grenzbehörden zurückgeschickt werden, schwunghafter Schmuggel mit dem vom Krieg zerstörten Italien, Partisanenkämpfe bis auf das Gebiet des Dorfes. Als kleiner Junge beeindruckte mich der in jener Zeit noch an vielen Stellen der Tessiner Südgrenze weitgehend intakte Maschendrahtzaun insbesondere durch seine Höhe und warf in mir viele Fragen auf. Noch heute bewahre ich ein Stück dieses Zaunes auf, den ich damals herausgetrennt hatte, in Auflehnung gegen die gewaltsame Trennung von Menschen, die über Jahrhunderte durch ihre Kultur und das tägliche Leben auf das Engste miteinander verbunden waren.
Wir beginnen unsere Rundwanderung im nordwestlichen Teil des Dorfes Bogno, bei einem kleinen Parkplatz. Dort zweigt berg- und südostwärts ein Weg ab, der sich bald wieder nach Norden wendet und, den Verbindungsweg nach Cozzo verlassend, zu den steilen Weiden von Bass Comun hinaufführt. Bei den obersten Häusern wenden wir uns nur noch wenig ansteigend gegen Osten den Buchen- und Lärchenwäldern zu. Wir geraten in dichtes Buschwerk von Ginster, das bereits einen Teil der Weiden oberhalb des Dorfes erobert hat. Heute wird es hier wieder zurückgedrängt und ist auch der Weg wieder freigelegt, der vor wenigen Jahren nur noch dem kundigen Auge zugänglich war. Wir ziehen seit je her diesen mehrheitlich in der Sonne liegenden Pfad dem alten Saumpfad vor, der im Dorf beim alten Zollhaus beginnt und sich steil durch die Val Giumela hinaufwindet. Nach einer langen, mehrheitlich fast ebenen Hangtraverse erreichen wir beim Geländepunkt 1358 Meter diesen Saumpfad. Nun ist es nicht mehr weit bis zur Alpe di Cottino, die gleich über der Waldgrenze liegt und wo man im Sommer einkehren sowie übernachten kann. Auch oberhalb der Alp führt der Pfad weiterhin in östlicher Richtung zum Fahrsträsschen hinauf, das von Certara herkommt und über das wir in kurzer Zeit den Passo di San Lucio erreichen. Hier stehen zwei Hütten, eine auf der Schweizer, die andere auf der italienischen Seite (Abb. 1). Diesmal kehren wir bei Ivan ein, in der ehemaligen italienischen Grenzkaserne Fiamme Gialle und geniessen seine herrlich mundende Minestrone, in die wir dünne Scheiben des hiesigen Alpkäses schneiden. Auch den würzigen Würsten mit Polenta können wir nicht wiederstehen, die wir mit einem Glas des süffigen Nostrano abrunden. An den Wänden hängen noch alte Fotografien, die von der lebhaften Geschichte dieses Wallfahrtsortes erzählen, der für die Menschen beidseits der Grenze grosse Bedeutung hat.
Vor der Hütte erwartet uns wieder der eisige Nordwind, der uns an der San Lucio geweihten Kirche vorbei nach Süden in Richtung des Monte Cucco treibt. Diesen umgehen wir auf dessen Ostseite, bis kurz vor der berseitig liegenden Ruine einer Alphütte eine Pfadspur zur Senke zwischen Monte Cucco und Colmo San Bernardo hinaufleitet (Abb. 2). Dort stossen wir auf einen guten Weg, der in
mehreren weiten Kehren den jenseitigen Hang in die Val di Vegin hinunterführt. Schliesslich wendet sich der Karrenweg gegen Norden, durchquert die Cugnoli della Fornace und della Peccia bis zur Waldlichtung von La Corte. An der Stelle wo das Strässchen wieder in den Wald eindringt, zweigt der alte Weg talwärts ab und führt nach einem kurzen Schlenker gegen Süden direkt zu den Häusern von Certara hinunter. Wir verlassen das Dorf gegen Nordosten auf dem oberen Strässchen, das den westlichen Gratrücken des Monte Cucco querend in die Val da Marca einbiegt und uns an den Ausgangspunkt unserer Wanderung in Bogno zurückbringt.
Im Kopf klingen uns Zeilen aus Aline Valangins Erzählung nach: Nach einer Regel, die den Dorfleuten geheimnisvoll blieb und die sie verabscheuten, wurden die einen aufgenommen und die anderen zurückgewiesen. Am Abend konnte man die Männer auf der rückwärtigen Laube hinter den Holzgittern spazieren sehen, auf und ab, hin und her, wie wilde Tiere im Käfig. Man gewöhnte sich an den Anblick. Es war eben Krieg. Es war eben Krieg draussen, irgendwo und überall, aber hier nicht, gottlob!
Leserinnen und Leser, die gerne einmal eine Bergtour mit dem Autor der Wandertipps unternehmen möchten, können ihr Interesse per E-Mail an christian.besimo@bluewin.ch anmelden und werden darauf über geplante Wanderungen informiert.
Verpflegung
Capanna Alpe Cottino, 071 660 10 70,
Capanna San Lucio, 076 411 68 14, www.capannasanlucio.ch; Rifugio San Lucio, 0039 328 389 6336
In dieser Rubrik werden Berg- und Schneeschuhwanderungen vorgestellt, die in der Regel wenig bekannt sind, zu aussergewöhnlichen Orten führen und die Genugtuung einer besonderen persönlichen Leistung bieten, sei es, dass man sich am Abend nach der Arbeit noch zu einer kleinen körperlichen Anstrengung überwindet, bzw. sich in ein oder zwei Tagen abseits breit getretener Wege unvergessliche Naturerlebnisse erschliesst. Zur besseren Beurteilbarkeit des Schwierigkeitsgrades der Tourenvorschläge wird jeweils eine Einschätzung anhand der SAC-Skala für Berg- (T1-6) und für Schneeschuhwanderungen (WT 1 – 6) gegeben. Die schwierigste Wegstelle, unabhängig von ihrer Länge, bestimmt jeweils die Gesamtbewertung der Route. Letztendlich bleibt aber jeder selbst für die Beurteilung seiner Fähigkeiten und Eignung für die vorgestellte Wanderung verantwortlich. Die Gehzeiten sind Richtwerte und gelten für normal trainierte Wanderer. Sie müssen nicht zwingend mit den Angaben auf Wegweisern übereinstimmen.
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