Ein Leitfaden unter der Berücksichtigung biopsychosozialer Aspekte

Die personalisierte Behandlungsplanung bei Patienten und Patientinnen mit Depressionen



Einleitung

Depressionen gehören zu den häufigsten psychischen Störungen und sind führende Ursachen für Krankheit und dauerhaft individuelle Einschränkungen weltweit (1). Hinter der Diagnose unipolare Depression verbirgt sich jedoch eine Vielzahl heterogener Krankheitsbilder, die sich in Psychopathologie, Ätiopathogenese, Verlaufsformen und Komorbiditäten stark unterscheiden. Auch die Bandbreite der Therapiemöglichkeiten ist gross: Neben etablierten Verfahren wie Psychotherapie und Psychopharmakologie gibt es ergänzende Ansätze, wie z. B. Sport- und Bewegungstherapie, transkranielle Magnetstimulation oder Elektrokrampftherapie. Gemäss der S3-Leitlinie zur Behandlung von Depressionen erfolgt die Therapieplanung in Abhängigkeit von der Schwere der Erkrankung (2). Während bei leichter Depression meist psychotherapeutische Ansätze im Vordergrund stehen (3), ist bei mittel- bis schwergradigen Episoden eine Kombination aus Psycho- und Pharmakotherapie die Regel (2, 4). Studien zeigen, dass Psychotherapie längerfristig nachhaltige Effekte bietet (5), während Pharmakotherapie Lern- und Veränderungsprozesse unterstützen kann (6). Entscheidend ist dabei stets das Zusammenspiel biologischer und psychosozialer Elemente (7, 8). Psycho- und Pharmakotherapie sollte in der Behandlungsplanung daher nie isoliert betrachtet werden. Dennoch sprechen viele Patienten nur unzureichend auf die bestehende Behandlung an und entwickeln einen chronischen Verlauf oder erleben wiederkehrende Episoden (4). Auch sind für den Genesungsprozess nicht nur die Bewältigung von Defiziten und Vulnerabilitäten entscheidend, sondern auch das Vorhandensein und die Förderung individueller Stärken und Ressourcen (9, 10). Eine standardisierte «one-fits-all»-Behandlung ist daher weder sinnvoll noch möglich (4). Die Vielfalt an Entstehungsprozessen, Einflussfaktoren und Behandlungsoptionen erfordert einen differenzierten und individualisierten Behandlungsansatz, da keine standardisierte Therapie auf die individuellen Bedürfnisse aller Betroffener gleichermassen zugeschnitten sein kann (2, 4, 9). Ein zentraler Ansatz, dies zu gewährleisten, stellt die personalisierte Therapieplanung dar, die biologische, psychologische und soziale Faktoren inte­griert. Im nachfolgend vorgestellten Behandlungskonzept für unipolare Depressionen wird daher eine differenzierte Diagnostik sowie genaue Analysen von Problemfeldern, Inkongruenzen und Ressourcen miteinander kombiniert. Ein Kernelement stellt die sorgfältige Fallkonzeption dar, auf deren Basis evidenzbasierte Therapieverfahren flexibel und passgenau integriert werden, um die Therapieerfolge zu verbessern. Insbesondere bei komplexen Fällen, die häufig mit Komorbiditäten wie Persönlichkeitsstörungen, Suchterkrankungen oder Angststörungen einhergehen, ist eine individualisierte Behandlungsplanung unverzichtbar (11, 12). Grundlagen dafür sind eine differenzierte Erhebung der Psychopathologie, wesentlicher biografischer Entwicklungen, biologischer und sozialer Faktoren sowie eine individuelle Problem-, Inkongruenz- und Ressourcenanalyse. Hinsichtlich der Analyse der psychologischen Dimension orientiert sich die Behandlungsplanung an den Konzepten von Klaus Grawe (10, 13). Dieser betont in seinen Arbeiten die Bedeutung allgemeiner Wirkfaktoren von Psychotherapie (Therapiebeziehung, Ressourcenaktivierung, Problemaktualisierung, Klärung, Bewältigung), die unabhängig von spezifischen Therapieansätzen für den Therapieerfolg entscheidend sind. Metaanalysen konnten inzwischen zeigen, dass solch ein transdiagnostischer Zugang zur Behandlung von Depressionen wirksam ist (14, 15). Eine transdiagnostische Therapie orientiert sich an den zugrunde liegenden Mechanismen, anstatt sich auf die Reduktion spezifischer Symptome zu fokussieren. Die psychische Dimension bildet zwar den Schwerpunkt im vorgestellten Behandlungskonzept, aber auch die biologische und soziale Dimension wird erfasst. Häufig umfassen Publikationen entweder die psychologische oder biologische Ebene; selten werden soziale Faktoren explizit einbezogen, obgleich Kombinationsbehandlungen die reale Versorgungssituation abbilden und auch wissenschaftlich überlegen sind (4). Die erhobenen Informationen bilden die Grundlage, um ein der individuellen depressiven Symptomatik zugrunde liegendes biopsychosoziales Erklärungsmodell zu erarbeiten, eine gut begründete diagnostische Entscheidung vorzunehmen, individuelle Therapieziele abzuleiten und ein massgeschneidertes Therapieprogramm zusammenzustellen. Ergänzend bietet das Behandlungskonzept strukturierte Hilfsmittel wie die Checklisten «Diagnostik, Anamnese und Psychopathologie» (Tab. 1a und Tab. 1b) sowie «Wirkfaktorengestützte Behandlungsplanung» (Tab. 2a bis Tab. 2d). Diese Checklisten wurden speziell für den klinischen Alltag entwickelt und richten sich insbesondere an jüngere, weniger erfahrene Behandlerinnen und Behandler. Oft sind sie in den Kliniken fallführend tätig. Daher ist es sinnvoll, ihre Kompetenzen durch sorgfältig ausgewählte Instrumente der Behandlungsplanung zu erhöhen, da die Kompetenz von Behandelnden einen grossen Einfluss auf den Therapieerfolg hat (16).

Grundlagen Diagnostik, Anamnese und Psychopathologie

Für eine zielgerichtete Behandlung der Depression ist eine differenzierte Diagnostik unabdingbar. Neben der Feststellung der Diagnose unipolare Depression sollten Schweregrad, frühere Episoden, das Alter bei Erstmanifestation sowie die aktuelle psychopathologische Leitsymptomatik differenziert erfasst werden. Zur Quantifizierung des Schweregrades und zur Verlaufskontrolle empfiehlt sich der Einsatz standardisierter Instrumente wie das Beck-Depressions-Inventar-2 (17), das als Selbstbeurteilungsskala validierte und praxisnahe Ergebnisse liefert. Besonders wichtig ist die wiederholte Diagnostik und Überwachung von Suizidalität, da diese einen entscheidenden Faktor für die Behandlungsplanung darstellen (18). Bei der Entscheidung für eine Pharmakotherapie ist es essenziell, die bisherigen Erfahrungen und Präferenzen der Patienten systematisch einzubeziehen. Dieses Vorgehen fördert nicht nur die Therapieadhärenz, sondern trägt auch zur individualisierten Behandlungsplanung bei.

Allgemeine Empfehlungen zur Auswahl von Antidepressiva (19) orientieren sich an mehreren Faktoren, darunter:
• Vorherrschende Psychopathologie: Berücksichtigung von Schlafstörungen, Ängsten, innerer Unruhe, Erschöpfungssymptomen, atypischer Symptomatik oder Suizidalität
• Patientenpräferenzen: die Einbindung von Patientinnen und Patienten in den Entscheidungsprozess
• Frühere Erfahrungen: Evaluation der Wirksamkeit und Verträglichkeit von zuvor eingesetzten Medikamenten
• Somatische Komorbiditäten: Abgleich mit potenziellen Kontraindikationen spezifischer Substanzen
Um die Erhebung dieser zentralen Informationen zu strukturieren, wurde Checkliste A entwickelt (Tab. 1a und Tab. 1b). Diese bietet ein praxisorientiertes Instrument, um relevante klinische Daten systematisch zu erfassen und in die Therapieplanung zu integrieren.

Biopsychosoziales Modell

Die Weiterentwicklung des biopsychosozialen Modells nach Engel (7, 8) bildet die theoretische Grundlage dieses Behandlungskonzepts (siehe Abb. 1). Dieses Modell inte­griert biologische, psychologische und soziale Einflussfaktoren und ermöglicht eine individuelle Gewichtung von Belastungs- und Resilienzfaktoren. Auf dieser Basis können multimodale Behandlungspläne personalisiert gestaltet werden. Im biopsychosozialen Modell wird Gesundheit als ausreichende Kompetenz des Systems Mensch verstanden, um auf unterschiedlichen Systemebenen autoregulativ Störungen zu bewältigen (Resilienz). Depressiogene Faktoren treten im Alltag bei allen Menschen tagtäglich auf. Entscheidend für die Entwicklung einer Depression ist die reduzierte Fähigkeit zur Kontrolle und Bewältigung dieser Faktoren. Ist die autoregulative Kompetenz des Systems Mensch gestört, nicht ausreichend verfügbar oder zu wenig entwickelt (Vulnerabilität), können Alltagsbelastungen nicht hinreichend bewältigt und/oder kontrolliert werden, was eine depressive Entwicklung begünstigen kann.

Das Modell unterscheidet drei interagierende Dimensionen:
1. Biologische Dimension: Faktoren, die überwiegend biologisch determiniert sind, wie genetische Dispositionen, Neurotransmitterfunktionen oder hormonelle Imbalancen
2. Psychische Dimension: Prozesse und Eigenschaften, die der Psyche zugerechnet werden, z. B. dysfunktionale Denkmuster, emotionale Dysregulation, motivationale Konflikte oder unbewältigte Traumata
3. Soziale Dimension: Einflussfaktoren, die die Sozialisation und die aktuelle soziale Umgebung betreffen, wie familiäre Prägungen, soziale Unterstützung, interaktionelle oder berufliche Belastungen

Es ist im Ergebnis nicht entscheidend, auf welcher Dimension eine depressiogene Störung auftritt, da alle miteinander verschaltet sind. Von zentraler Bedeutung ist der systemische Schaden, der durch die Störung entsteht, und nicht allein der Ort des Auftretens. Eine umfassende bio-psychosoziale Diagnostik ist essenziell, um ein individuelles Störungsmodell zu entwickeln. Die gewonnenen Daten werden in wissensbasierte Arbeitshypothesen überführt, die das Fundament für die therapeutische Planung bilden. Ziel der biopsychosozialen Therapie ist es, die Resilienz des betroffenen Menschen zu stärken, indem Stressoren und Defizite reduziert sowie Ressourcen gezielt gefördert oder reaktiviert werden. Dies geschieht auf allen drei Dimensionen und wird in enger Absprache mit den Betroffenen geplant und umgesetzt.

Die in Checkliste B (Tab. 2a bis Tab. 2c) systematisch erfassten Faktoren decken explizit alle drei Dimensionen ab, was eine umfassende Basis für die Therapieplanung (Tab. 2d) schafft.

Belastende Kindheitserfahrungen

Belastende Kindheitserfahrungen (englisch: Adverse Childhood Experiences, ACE) gelten als entscheidender Risikofaktor für die Entwicklung und Aufrechterhaltung depressiver Erkrankungen. ACE umfassen heterogene negative Erfahrungen in den ersten 18 Lebensjahren, die langfristig das Risiko für psychische Störungen, insbesondere Depressionen, erhöhen.
Zu den regelmässig untersuchten ACE zählen:
1. Emotionaler Missbrauch: verbale Angriffe, beleidigendes oder erniedrigendes Verhalten
2. Physischer Missbrauch: körperliche Angriffe oder Gewalt
3. Sexueller Missbrauch: jegliche Form sexueller Übergriffe
4. Emotionale Vernachlässigung: Nichtbefriedigung grundlegender emotionaler und psychischer Bedürfnisse
5. Körperliche Vernachlässigung: Nichtbefriedigung grundlegender körperlicher Bedürfnisse wie Ernährung, Hygiene oder medizinische Versorgung
6. Familiäre Belastungen: Verlust eines Elternteils, Scheidung, psychische Erkrankungen eines Elternteils, längere Krankenhausaufenthalte, chronische Krankheiten oder Behinderung eines Familienmitglieds
7. Schlechte soziale und ökonomische Bedingungen: z. B. Armut, gesellschaftliche Diskriminierung oder Verlustereignisse

ACE als Risikofaktor für Depressionen
Die Studienlage zeigt, dass ACE komplexe, multikausale Risikofaktoren darstellen, deren Einfluss durch Zeitpunkt, Schweregrad, Dauer sowie individuelle Resilienz- und Vulnerabilitätsfaktoren moduliert wird.
Folgende Ergebnisse gelten als wissenschaftlich gut belegt:
Erhöhtes Depressionsrisiko: Das Vorliegen von ACE erhöht die Wahrscheinlichkeit für die Entwicklung einer Major Depression signifikant (20).
Dosisabhängige Effekte: Mit der Anzahl erlebter ACE steigt das Risiko für lebenslange Depressionen, Suizidversuche, Rückfälle und die Chronifizierung einer Depression (18, 20). Menschen mit mehreren ACE haben ein deutlich erhöhtes Risiko, bereits im jungen Erwachsenenalter an einer Depression zu erkranken oder einen Suizidversuch zu begehen.
Therapeutische Relevanz: Studien zeigen, dass chronische Depressionen mit ACE-Hintergrund (ELS+) besser auf spezifische psychotherapeutische Ansätze wie die Cognitive Behavioral Analysis System of Psychotherapy (CBASP) ansprechen als auf medikamentöse Monotherapie. Eine Kombinationstherapie aus CBASP und antidepressiver Medikation führt zu den besten Ergebnissen (21, 22).

Zusatzkodierung und therapeutische Implikationen
Angesichts der starken Zusammenhänge zwischen ACE und Depressionen wird diskutiert, depressive Störungen durch Zusatzkodierungen wie «mit/ohne Kindheit mit Misshandlungen» oder «mit/ohne frühen Stress» (ELS− vs. ELS+) zu klassifizieren (23). Diese Subtypisierung könnte eine gezieltere Therapieplanung ermöglichen, indem spezifische Behandlungsansätze für ELS+-Patienten entwickelt werden.

Messinstrumente
Zur Erfassung und Quantifizierung belastender Kindheitserfahrungen sind standardisierte Instrumente wie der Childhood Trauma Questionnaire (CTQ 24) oder die Skala belastender Kindheitserfahrungen (KERF 25) geeignet. Diese Instrumente bieten eine valide Grundlage für die Identifikation und Berücksichtigung von ACE in der Therapieplanung.

Inkongruenzanalyse

Die Konsistenztheorie von Grawe (10, 13) bietet eine wertvolle Grundlage, um die drei Dimensionen des biopsychosozialen Modells, insbesondere die psychischen Mechanismen, im Rahmen einer individuellen Fallkonzeption zu analysieren. Sie hebt hervor, dass die Unfähigkeit, zentrale psychische Grundbedürfnisse zu befriedigen, zu Inkongruenz führt, die Depressionen begünstigt (Abb. 2). Dabei muss zwischen Annäherungs- und Vermeidungsschemata differenziert werden. Während Annäherungsschemata auf aktive Bedürfnisbefriedigung abzielen, wirken Vermeidungsschemata als Schutzstrategien, die Verletzungen vorbeugen, jedoch langfristig hinderlich sein können. Ausgeprägte Vermeidungsschemata fördern motivationalen Stress, da Ressourcen ineffizient genutzt werden, was die psychische Belastung erhöht.
Zu den psychischen Grundbedürfnissen zählt Grawe:
1. Selbstwert (Anerkennung, Selbstakzeptanz)
2. Bindung (zwischenmenschliche Nähe, Zugehörigkeit)
3. Kontrolle/Orientierung (Erleben von Autonomie und Handlungsspielraum)
4. Lustgewinn/Unlustvermeidung (positive Erfahrungen, Freude)

Mechanismen der Inkongruenz und ihre Folgen
Ungünstige Lebenserfahrungen, die aus belastenden Ereignissen resultieren, führen oft zu einem starken Vermeidungsverhalten. Vermeidung wird primär eingesetzt, um die Angst vor der Nichtbefriedigung der Grundbedürfnisse zu mindern, birgt jedoch hohe Kosten: Sie erfordert erheblichen Ressourcenaufwand und kann langfristig nur begrenzt erfolgreich sein. Innere Konflikte entstehen, da durch Vermeidung nicht nur negative, sondern auch positive Ziele gefährdet werden. Ein Beispiel hierfür ist eine Person, die Ablehnung vermeiden möchte und sich deshalb zunehmend an den Erwartungen anderer orientiert. Dies kann zu einem Verlust der eigenen Zielorientierung führen und die Stressbelastung deutlich erhöhen. Studien weisen darauf hin, dass die unzureichende Befriedigung psychischer Grundbedürfnisse mit reduzierter psychischer Gesundheit, insbesondere depressiven Symptomen, einhergeht (26–28).

Konsequenzen für die Therapie
Die Therapie sollte darauf abzielen, die Erfüllung aller vier Grundbedürfnisse zu verbessern, indem sie psychische und soziale Hindernisse identifiziert und bearbeitet.
Zu den relevanten therapeutischen Schritten gehören:
Identifikation psychischer Hindernisse: biografisch bedingte Schemata, insbesondere Vermeidungsziele und Konfliktschemata
Klärung und Bearbeitung ungünstiger motivationaler, kognitiver und emotionaler Prozesse: Dies ermöglicht neue Verhaltensweisen und fördert eine angemessene Bedürfnisbefriedigung.
Einbezug relevanter sozialer Faktoren: Partner und Partnerinnen, Familie oder das Arbeitsumfeld sollten in die Therapie einbezogen werden, um soziale Ressourcen zu stärken.

Diagnostische Hilfsmittel
Zur Analyse motivationaler Schemata und Inkongruenzen bieten sich zwei validierte Instrumente an: der Fragebogen zur Analyse motivationaler Schemata (FAMOS 29) und der Inkongruenzfragebogen (INK 30). Beide Fragebögen sind aufeinander bezogen. Während FAMOS die persönliche Wichtigkeit für 14 Annäherungs- und 9 Vermeidungsziele misst, erfasst INK den Grad der Diskrepanz zwischen motivationalen Zielen und deren Erreichung.

Ressourcenanalyse

Ressourcen umfassen alle individuellen Möglichkeiten, die zur Befriedigung von Grundbedürfnissen beitragen können, etwa persönliche Ziele, Wünsche, Interessen, emotionale, kognitive und soziale Kompetenzen, positive körperliche Eigenschaften, hilfreiche Verhaltensroutinen oder unterstützende soziale Beziehungen. Sie sind essenziell für die Bewältigung von Problemen und die Förderung der Resilienz. Dabei wird deutlich: Je besser vorhandene Ressourcen aktiviert und genutzt werden, desto einfacher gestaltet sich die Lösung von Problemen. Umgekehrt erschweren inaktive oder ungenutzte Ressourcen die Problembewältigung erheblich. Für eine erfolgreiche Therapie ist es deshalb entscheidend, nicht nur Problembereiche einer betroffenen Person zu erfassen, sondern gezielt individuelle Ressourcen zu identifizieren und zu fördern. Dies umfasst die Stärkung bestehender Ressourcen, das Wiederaufgreifen brachliegender Kompetenzen sowie den gezielten Aufbau neuer Ressourcen. Dennoch wird die Ressourcenaktivierung in der Praxis häufig vernachlässigt, und die Erfassung beschränkt sich oft auf oberflächliche Bereiche wie Hobbys und Freizeitaktivitäten.

Ein systematisches Vorgehen zur Erfassung von Ressourcen bietet der Ressourcenfragebogen (RES 31, 32). Er misst das subjektive Kongruenzerleben und die Ressourcenrealisierung der Patientinnen und Patienten anhand von acht Perspektiven:
– Wohlbefinden
– Selbstwertgefühl
– Positives Selbstbild
– Sinnfindung
– Soziale Unterstützung
– Krisenbewältigung
– Aktuelle Stressbewältigung
– Gegenwärtige Beziehungen
Die differenzierte Analyse hilft, gezielt Interventionsansätze zu entwickeln, die das Aktivieren von Ressourcen mit der Problembearbeitung verknüpfen (siehe auch Tab. 2a bis Tab. 2d). Ressourcenorientierte Therapieansätze fördern so nicht nur die Symptombewältigung, sondern stärken auch langfristig die Resilienz und die Selbstwirksamkeit der Betroffenen.

Zusammenfassende wirkfaktoren­gestützte Behandlungsplanung

Die wirkfaktorengestützte Behandlungsplanung verbindet das biopsychosoziale Modell, die Ressourcenanalyse und die Inkongruenzanalyse nach Grawe zu einer individuellen Fallkonzeption (Tab. 2c). Diese dient der gezielten Entwicklung patientenspezifischer Therapieangebote und optimiert dadurch die psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung. Das biopsychosoziale Modell bietet einen verständlichen Überblick aus der Perspektive der Betroffenen und eignet sich besonders für die Psychoedukation. Die ergänzende Inkongruenzanalyse ermöglicht dagegen ein vertiefteres Verstehen motivationaler Hindernisse und psychischer Konflikte und orientiert sich stärker an der Perspektive der Therapeutinnen und Therapeuten. Beide Ansätze ergänzen sich und sind ineinander überführbar. Die Forschung zur wirkfaktorengestützten Behandlungsplanung für psychische Störungen, insbesondere zur Behandlung von unipolaren Depressionen, zeigt, dass diese Ansätze viele Vorteile für die klinische Praxis und den Alltag von Betroffenen bieten. In Metaanalysen und Studien wird deutlich, dass transdiagnostische Methoden helfen, die Behandlungseffizienz und Therapiemotivation der Patientinnen und Patienten zu steigern (15, 33).

Bedeutung und Vorteile für den Alltag
Die wirkfaktorengestützte Behandlungsplanung ermöglicht es, therapeutische Ansätze zu entwickeln, die flexibel auf die individuellen Bedürfnisse der Betroffenen zugeschnitten sind. Es können nicht nur spezifische Symptome, sondern auch die zugrunde liegenden psychologischen Mechanismen behandelt werden, was zu einem nachhaltigeren Therapieeffekt beiträgt. Ein grosser Vorteil ist die Effizienz, da ein integrativer Fokus auf zentrale psychologische Prozesse viele Problembereiche gleichzeitig anspricht und somit durch Interventionen auf dieser Ebene ein breites Verhaltensspektrum erreicht werden kann. Obwohl die wirkfaktorengestützte Behandlungsplanung aufgrund der Vielzahl an Faktoren und der Komplexität ihrer Instrumente eine grössere Anfangsinvestition an Zeit und Ressourcen erfordert, zeigt die Forschung, dass sich dieser Aufwand langfristig auszahlt (34, 35).

Prof. Dr. med. Katja Cattapan

Chefärztin Privat-/Spezialstationen und Ambulatorien
Sanatorium Kilchberg AG
Alte Landstrasse 70
CH-8802 Kilchberg

k.cattapan@sanatorium-kilchberg.ch

Die Autorenschaft hat keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

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