- Kardiovaskuläre Primärprävention
In diesem Beitrag sollen ernährungsmedizinische Primärpräventions-Massnahmen auf einige wenige umsetzbare und wirksame Empfehlungen niedergebrochen werden: Prioritär soll ein bedarfsgerechtes, mehrheitlich pflanzenbasiertes, Nahrungsmittelstruktur-erhaltendes Ernährungsmuster praktiziert werden. Ernährungsmassnahmen sind wirksam und effizient, aber die klassischen Risikofaktoren (wie z.B. Hypertonie) sollen vor lauter «gesunder Ernährung» nicht vergessen werden.
Prävention ist immer gut. Wie wir aber aus dem Praxisalltag wissen, ist Primärprävention (PP) schwierig und selten nachhaltig. Der Begriff «Prävention» leitet sich vom lateinischen «praevenire» = «zuvorkommen»/«verhüten» ab. Prävention beinhaltet also ein proaktives Handeln durch ein Individuum, bei allerdings fehlenden Beschwerden. In letzterem Umstand liegt die Krux. Primäre Prävention muss also zu einem Zeitpunkt stattfinden, zu dem noch kaum Pathologie und im Besonderen auch keine klinischen Symptome vorhanden sind. Handeln in solch einem Setting erfordert ein hohes Mass an Gesundheitskompetenz (d.h. ein hohes pathophysiologisches Verständnis). Unter Gesundheitskompetenz versteht man die Fähigkeit eines Individuums, im Alltag Entscheidungen mit positiven Gesundheitseffekten zu fällen. Nach einer BAG Erhebung weisen 46% der Schweizer eine ausreichende oder ausgezeichnete Gesundheitskompetenz auf (dies beinhaltet, dass mehr als die Hälfte der Bevölkerung eine unzureichende Gesundheitskompetenz hat) (1). Der Praxisalltag lehrt uns, dass zur konsequenten erfolgreichen Umsetzung von PP-Massnahmen eine gute bis ausgezeichnete Gesundheitskompetenz notwendig wäre – «ausreichend» ist tatsächlich nicht «ausreichend». Innovative einfach verständliche und einfach umsetzbare Strategien und Massnahmen zur PP sind also mehr denn je angezeigt. Die seit Jahren gepredigten Empfehlungen der Primärprävention sind bekannt und sollen hier nicht wiederholt werden, sondern es sollen ein paar ausgewählte – und für die meisten Leser auch neue – Aspekte gezielt in Erinnerung gerufen werden.
Was kann mit Primärprävention erreicht werden?
Idealerweise findet PP im Praxisalltag und auf Populationsebene statt. Mittlerweile klassische Daten aus Finnland zeigen, dass durch eine langfristige und nachhaltige PP auf Populationsebene die Koronarmortalität um bis zu 80% reduziert werden konnte (2). Eindrückliche Zahlen, welche zum Teil dadurch bedingt sind, dass in Finnland die klassischen kardiovaskulären Risikofaktoren extrem verbreitet waren. Eine interessante Beobachtung war, dass der grösste Teil der Risikoreduktion in den ersten 10 Jahren der Intervention beobachtet wurde (2). Interessant ist zudem, dass diese Risikoreduktion zum grössten Teil durch die Kontrolle von drei Risiken – Rauchen, Plasma Cholesterinspiegel und Blutdruck – erreicht wurde. Die meisten von uns werden sich sagen, dass es ja «klar ist, dass durch die Kon-trolle dieser Risikofaktoren das kardiovaskuläre Risiko reduziert wird – nichts Neues». Dem ist tatsächlich so, aber warum sind bei einem grossen Anteil der Patienten diese drei Risikofaktoren immer noch ungenügend kontrolliert?
Der Stellenwert von Primärprävention wird oftmals unterschätzt: wir wissen, dass sich die Atherosklerose über Jahrzehnte langsam entwickelt und dass sich dann ein akuter Myokardinfarkt in 40-50% der Fälle als Erstmanifestation perakut in Erscheinung tritt. Dann allerdings eine klare Indikation – sofern der Patient das Ereignis überlebt – für Sekundärprävention. Viele dieser Patienten waren sich des Risikos nicht bewusst und hatten wohl auch einen eher tiefen Risikoscore. Neue vielversprechende Studien zeigen, dass durch die Kombination von einem Risikoscore wie beispielsweise dem Framingham Risk Score (FRS), zusammen mit einem durch Imaging erhobenen Koronar-Kalzium Score eine synergistische (bessere) Risikoprädiktion erreicht werden kann (3). Es ist noch nicht bekannt, ob durch ein derartig kombiniertes Risiko-Assessment eine bessere und nachhaltigere Risikomodulation mittels einer konsequenteren Umsetzung von Lifestyle-Massnahmen erreicht werden kann. Aus der klinischen Sprechstunde wissen wir, dass Individuen mit einem erhöhten Kalzium-Score allenfalls «diszipliniertere» Umsetzer der Primärprävention werden können. Aber auch hier braucht es die entsprechende Gesundheitskompetenz.
Illusionäre Unverwundbarkeit
Mittlerweile wurden weit mehr als 500 verschiedene Atherosklerose und KHK Riskofaktoren indentifiziert. Die Mehrheit dieser Faktoren ist lediglich akademisch interessant. Zudem zeigen viele dieser Risikofaktoren – im Vergleich zu den oben erwähnten «Drei Klassikern» – relativ wenig bis keinen Effekt in randomisierten Studien. Zu diesen vielen Faktoren gehören auch diverse Ernährungsfaktoren (z.B. bestimmte Vitamine, Spurenelemente, ungesättigte Fette etc.). Eine schlechte bis fehlende Evidenz ist vielen dieser Faktoren gemeinsam. Trotzdem konsumieren viele Menschen zur Kardioprotektion die verschiedensten Supplemente, was u.U. sogar in einem erhöhten Risiko resultieren kann (4). Der Konsum von Supplementen provoziert u.a. eine «illusionäre Unverwundbarkeit». In einer Studie von Chiou et al. (5) wurde gezeigt, dass die Konsumenten von verschiedensten Nährstoffsupplementen eine ungünstige Veränderung in ihrem Gesundheitsverhalten aufwiesen, wie z.B. eine geringere körperliche Aktivität, weniger präventive Aktivitäten und Verhaltensweisen oder auch Bevorzugung einer weniger kardioprotektiven Ernährung. Es scheint, dass der Konsum von Supplementen die Wahrnehmung proatherogener Verhaltensweisen harmloser erscheinen liess. Eine interessante Beobachtung, welche längerfristig unvermeidlich in einem höheren Risiko resultiert. In Analogie dazu zeigen Patienten, bei denen eine Statin-Therapie begonnen wurde, im Verlaufe der Zeit eine grössere Gewichtszunahme, als eine Kontrollpopulation ohne Statine (6). Die Statineinnahme induziert scheinbar ebenfalls ein falsches Sicherheitsgefühl: «Ich nehme Statine ein, also bin ich geschützt und brauche mich nicht um mein Gewicht zu kümmern». Eine trügerische Schlussfolgerung wie wir bestens wissen. Diese Beispiele zeigen die Komplexität der PP und zunehmends werden wir uns bewusst, dass wir den Determinanten der Selbstregulation eine vermehrte Aufmerksamkeit schenken müssen.
Einzelne Nährstoffe vs. Ernährungsmuster
In den letzten Jahren zeigte sich, dass nicht einzelne Nährstoffe krankheitsprotektive Effekte haben, sondern vielmehr das ganze Ernährungsmuster («dietary pattern») – d.h. der Mix vieler verschiedener nutritiver und nicht-nutritiver Komponenten. Epidemiologische Studien zeigen eine Assoziation zwischen Atheroskleroserisiko und Essmuster (direkt Assoziation durch hohe Zufuhr an Fett, Fleisch und prozessierten Nahrungsmitteln versus einer inversen Assoziation durch ein mehrheitlich pflanzenbasiertes und bedarfsgerechtes Ernährungsmuster). In der Literatur finden sich auch die Begriffe «westliches Ernährungsmuster» versus «healthy pattern». In Anbetracht der Globalisierung der modernen prozessierten Ernährung ist der Begriff «westliches Ernährungsmuster» wohl nicht mehr zeitgerecht, vielmehr soll von einem durch einen hohen Konsum an prozessierten Nahrungsmitteln, Fleisch und wenig Früchten und Gemüse charakterisierten Muster gesprochen werden. Das eher protektive Essmuster ist ein «pflanzenbasiertes Muster mit minimaler Verarbeitung». Ein etabliertes und durch viele Studien supportiertes Essmuster ist die sogenannte DASH-Ernährung. DASH ist die Abkürzung für «dietary approaches to stop hypertension» (8), eine Ernährung charakterisiert durch eine vermehrte Zufuhr von Früchten und Gemüse, fettreduzierten Milchprodukten, Vollkornprodukte und generell weniger Fleisch und Fleischprodukte und geringe Mengen einfacher Zucker. Am Anfang wurde das DASH Muster auch als «Kombinations-Ernährung» propagiert, d.h. das Ziel war es, ein vielseitiges, bedarfsgerechtes pflanzenbasiertes Essmuster mit Milchprodukten und mit wenig prozessierten Nahrungsmitteln zu etablieren. Die Wirksamkeit dieser Ernährungsempfehlung liegt in der «Kombination verschiedener Nahrungsmittel» – ähnlich einem modernen pharmakologischen Kombinationspräparat. Die seit bald 20 Jahren propagierte DASH Diet stellt einen Kontrapunkt zu der modernen hoch-prozessierten, früchte- und gemüsearmen modernen Ernährung dar. Eine derartige Diät enthält per definitionem weniger NaCl («Salz»), weniger gesättigten Fette, weniger einfache Kohlenhydrate («Zucker») und deutlich mehr Kalium, Kalzium, Nahrungsfasern. Kein Wunder, dass dadurch eine hochrelevante Blutdrucksenkung erreicht werden kann. Ein Charakteristikum des DASH Musters ist auch der geringe oder fehlende Anteil an prozessierten Nahrungsmitteln.
«Strukturbelassenes Essen»
«Wie und was soll ich denn Essen?» – eine immer wiederkehrende Frage im Praxisalltag, die viele von uns bei der verwirrenden Vielfallt an konträren und wenig evidenzbasierten marktgesteuerten Empfehlungen nur mit Mühe beantworten können. Im Rahmen dieses kurzen Beitrags sollen keine extensiven Empfehlungen formuliert werden, sondern es soll lediglich ein – allerdings sehr zentrales – einfaches Prinzip in Erinnerung gerufen werden. Es handelt sich dabei um ein Konzept, welches auch ohne grosse Gesundheitskompetenz verstanden und umgesetzt werden kann.
Die einzige Sicherheit, welche die Mehrzahl der Menschen hat, ist, dass sie im Verlaufe der Zeit älter und schwerer werden. Übergewicht und Adipositas sind die wichtigsten Krankheitsmodulatoren weltweit, die im Moment nur primärpräventiv kostengünstig behandelt werden können. Die Genetik als mögliche Mitursache des Übergewichts können wir nicht wegdenken, wir dürfen diese aber auch nicht überbewerten. Letzteres wird dadurch supportiert, dass das Übergewicht und Adipositas eine Pandemie darstellt, welche unabhängig von spezifischen genetischen Faktoren in allen Population und allen Weltregionen aufgetreten ist. Dies deutet darauf hin, dass die Ursache exogen und scheinbar modifizierbar und beeinflussbar ist. Die konsistenteste epidemiologische Assoziation zwischen einem Ernährungsfaktor und dem Körpergewicht zeigt sich zwischen Konsum von (hoch-) prozessierten Nahrungsmitteln und Prävalenz und Inzidenz von Übergewicht (8, 9). Ein gewisses minimales Food-Processing (mehrheitlich aus Konservierungszwecken) ist in der modernen Gesellschaft nicht wegzudenken. Unter hochprozessierten («ultra-processed food») Nahrungsmitteln versteht man Nahrungsmittel, welche billig herzustellen sind, eine hohe Energie- und in der Regel geringe Nährstoffdichte haben, und aufgrund der veränderten Nahrungsstruktur und verschiedenster Zusatzstoffe (z.B. Aromastoffe, Farbstoffe, Taste-Blockern etc.) hochpalatabel sind. Zudem werden diese Produkte disproportional stark beworben und entsprechend auch konsumiert. In vielen Ländern wird mehr als 50% der Energiezufuhr durch hochprozessierte Nahrungsmittel eingenommen. Es handelt sich dabei nicht nur um die klassischen Fastfood Nahrungsmittel und Snacks, sondern um verschiedenste Produkte (wie z.B. die meisten Fertigprodukte, Kuchen und Backwaren). Viele Studien zeigten eine direkte Beziehung zwischen dem Konsum dieser Produkte und dem Körpergewicht. Ein nicht-beachtetes Charakteristikum der hochprozessierten Nahrungsmittel ist, dass die ursprüngliche Struktur der verwendeten Nahrungsmittel durch die Verarbeitung verloren gegangen ist und eine neue Struktur sozusagen «rekonstituiert» wurde. Am einfachsten lässt sich dieser Strukturverlust anhand von Vollkornprodukten aufzeigen: Sobald die naturgegebene Struktur von einem Getreidekorn zerstört wird, folgt die Pathologie. Ein klassisches Auszugsmehlprodukt, wie z.B. ein Weissmehlprodukt, liefert nur nährstoffarme Kalorien und bewirkt einen hohen glykämischen Index. Das Ausgangsprodukt von Weissmehl, nämlich ein vollständiges Getreidekorn, ist ernährungsphysiologisch gerade das Gegenteil: eine nährstoffdichte, blutzuckerstabilisierende und sättigende Energiequelle. Ein elektronenmikroskopisches Bild eines Getreidekorns zeigt diesen Sachverhalt auf eindrückliche Art und Weise: die Stärke ist in viele kleine Kompartimente verpackt, was in einer nur verzögerten Freisetzung der Bestandteile (auch der Glukose) resultiert. Letzteres ist mit den bekannten gesundheitlichen Vorteilen verbunden. Es wird vermutet, dass ein grosser Anteil der gesundheitlichen Effekte von Vollkornprodukten durch Effekte auf das Mikrobiom bedingt ist. In diesem Zusammenhang ist die Struktur des Vollkorns ebenfalls ein zentraler Modulator der Effekte auf das Mikrobiom in den verschiedenen Darmabschnitten, die Biozugänglichkeit und Bioverfügbarkeit der verschiedenen Komponenten. Die «Natur» wusste, warum sie die Struktur der Zellwände derart komplex gestaltete. Eine Imitation der Natur durch den Menschen ist bisher noch nie gelungen. Nicht umsonst findet im wahrsten Sinne des Wortes ein Kampf um die Definition des Begriffs Vollkorn statt. Primärprävention in der Ernährung wird relativ einfach, wenn möglichst nicht-prozessierte Nahrungsmittel konsumiert werden. Möglichst eine strukturbelassene mehrheitlich pflanzliche Ernährung ist eine einfache und wirksame primärpräventive Strategie für die meisten chronischen Erkrankungen.
Bei diesem Artikel handelt es sich um einen Zweitabdruck des in info@herz+gefäss 2018:8(3);4-6 erschienen Originalartikels.
Klinik und Poliklinik für Innere Medizin
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Rämistrasse 100
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paolo.suter@usz.ch
Der Autor hat keine Interessenskonflikte im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
- Prioritär soll ein bedarfsgerechtes, mehrheitlich pflanzenbasiertes, Nahrungsmittelstruktur-erhaltendes Ernährungsmuster praktiziert
werden. - Ernährungsmassnahmen sind wirksam und effizient, aber die klassischen Risikofaktoren (wie z.B. Hypertonie) sollen vor lauter «gesunder Ernährung» nicht vergessen werden.
Literatur:
1. Faktenblatt Gesundheitskompetenz in der Schweiz. BAG 2017. https://www.bag.admin.ch/bag/de/home/themen/strategien-politik/nationale-gesundheitspolitik/
gesundheitskompetenz.html
2. Jousilahti P et al. Primary prevention and risk factor reduction in coronary heart disease mortality among working aged men and women in eastern Finland over 40 years: population based observational study. BMJ 2016;352:i721
3. Rozanski A. et al. Primary Prevention of CVD. The Role of Imaging Trials. J AM Coll Cardiol 2017;10:304-16
4. Moyer VA et al. Vitamin, Mineral, and Multivitamin Supplements for the Primary Prevention of Cardiovascular Disease and Cancer: U.S. Preventive Services Task Force Recommendation Statement. Ann Intern Med 2014;160:558-64
5. Chiou WB et al. Ironic effects of dietary supplementation: illusory invulnerability created by taking dietary supplements licenses health-risk behaviors. Psyhol
Sci 2011;22(8):1081-6
6. Sugiyama T et al. Is There Gluttony in the Time of Statins? Different Time Trends of Caloric and Fat Intake between Statin-users and Non-users among US Adults. JAMA Intern Med 2014;174(7):1038–45
7. Satija A et al. Plant-based diets and cardiovascular health. Trends in cardiovascular medicine. (2018 in press)
8. Sacks FM et al Effects on Blood Pressure of Reduced Dietary Sodium and the Dietary Approaches to Stop Hypertension (DASH) Diet. N Engl J Med 2001;344:3-1
9. Monteiro CA et al. Household availability of ultra-processed foods and obesity in nineteen European countries. Public Health Nutr 2018;21(1):18-26
10. Fiolet T et al. Consumption of ultra-processed foods and cancer risk: results from NutriNet-Santé prospective cohort. BMJ 2018;360:k599
der informierte @rzt
- Vol. 8
- Ausgabe 12
- Dezember 2018