- Melatonin
Schlafstörungen sind eine sehr häufige klinische Erscheinung und nehmen im Alter zu. Ihre Prävalenz in der westlichen Bevölkerung liegt bei 10–15% (1). Laut Umfragen geht man davon aus, dass jeder zweite bis dritte Mensch über 65 Jahren unter einer subjektiv empfundenen Schlafstörung leidet, was auch das Bundesamt für Statistik (BFS) so bestätigt (2–4). Dass ein „gesunder Schlaf“ die Lebensqualität eines Menschen positiv beeinflusst, scheint allgemein bekannt zu sein. Verschiedene Erkrankungen gehen mit Schlafproblemen einher. Der Fokus in dieser Übersicht ist auf den Einsatz von Melatonin bei Menschen mit Schlafproblemen im Alter gerichtet.
Die Melatoninausschüttung nimmt mit zunehmendem Alter kontinuierlich ab. Bei der Alzheimerdemenz (5) nimmt diese in der Regel überproportional ab verglichen zu einem gesunden gleichaltrigen Kollektiv. Die Melatonin-Homöostase ist zudem verändert beim Diabetes mellitus, bei zerebrovaskulären Insulten, beim Restless-Legs-Syndrom, beim Schlafapnoe Syndrom (6) und unter anderem bei der Multisystematrophie (7). Weiter spielt das Melatonin v.a. beim nächtlichen Delir eine wichtige Rolle (8).
Gelingt es, die Schlafqualität und aus dieser Perspektive die Schlafarchitektur positiv zu beeinflussen, nimmt die Teilhabe beziehungsweise die Lebensqualität der Betroffenen wieder zu.
Physiologie
René Descartes beschrieb die Epiphyse als den «Sessel der Seele» – rund 300 Jahre später, in den 1950er Jahren wurde Melatonin identifiziert, welches durch die Epiphyse ausgeschieden wird (9).
Im Alter verändert sich die Schlafkontinuität durch eine verlängerte Einschlafzeit, einen etwas kürzeren Schlaf und mehr Wachphasen nach Schlafbeginn. Deshalb ist die Schlafeffizienz im Vergleich zu jüngeren Menschen reduziert (10).
Die Biosynthese von Melatonin geht über Tryptophan, Serotonin zu Melatonin. Weiter ist diese Synthese von der Lichtzufuhr abhängig. Bei Dämmerung oder Dunkelheit wird die Melatoninproduktion stimuliert und durch das Licht gehemmt. Seit 1974/75 ist bekannt, dass eine Substitution von Melatonin einen positiven Effekt auf den zirkadianen Rhythmus aufweist (11).
In Bezug auf das Zentralnervensystem ist das Wirkungsspektrum weit: So bildet die Melatonin-Hypothese einen festen Bestandteil der Neuropathogenese des Delirs (8): Durch die verminderte Ausschüttung von Melatonin im Alter, besonders bei der Alzheimerdemenz, steigt das Delir-Risiko an. So stellt gerade bei der Alzheimerdemenz das Begleit-Symptom des Sundownings einen Delir-Risikofaktor während der Nacht dar, welches nachweislich positiv durch eine Melatoninsubstitution beeinflusst werden kann (12). Dabei ist zu beachten, dass beim Symptom des Sundownings auch andere Neurotransmittersysteme beteiligt sind. Darauf wird in diesem Artikel nicht weiter eingegangen. Ob Melatonin auch eine neuroprotektive Wirkung vor allem beim M. Alzheimer aufweist, ist noch unklar: Allerdings lassen erste Grundlagenforschungsresultate aufhorchen, dass die Aggregation von Beta-Amyloid durch Melatonin gehemmt wird. Es gibt erste Hinweise, dass die Bildung von intrazellulärem Tau-Protein durch Hemmung der Phosphorylierung (5, 13, 14) verhindert werden könnte; jedoch fehlen zur Zeit Therapiestudien an grösseren Populationen über eine längere Zeiteinheit. – Dabei hilft die hohe Fettlöslichkeit des Melatonins, in die Zellen eindringen zu können.
Weiter konnte eindrücklich nachgewiesen werden, dass Melatonin ein potenter Radikalfänger gegenüber reaktiven Sauerstoffverbindungen (ROS) ist. Diese Eigenschaft spielt eine wichtige Rolle in Bezug auf den Erhalt der «Dichtigkeit» der Bluthirnschranke (Tight-Junctions) (5, 15).
Bei chronischem Schlafentzug können meist tiefe Melatoninspiegel nachgewiesen werden, woraus eine erhöhte Infektanfälligkeit resultiert. Diese rührt zum einen von der Aktivierung der Stress-Achse (Cortisol-Achse), zum andern vom Einfluss auf die Produktion und Aktivierung der natürlichen Killerzellen und der Zytokine (u.a. IL-2) her. Daraus wurde geschlossen, dass Melatonin auch eine antiinflammatorische Wirkung aufweist.
Melatonin spielt zudem eine wichtige Rolle bezüglich der zirkadianen Homöostase der Insulinsekretion (5, 15).
Melatonin hemmt im Rattenmodel Orexin, was einen günstigen Einfluss auf das Fressverhalten hat (16). Ob dieser Effekt auch bei Menschen auftritt, kann derzeit nicht schlüssig beantwortet werden.$
Neuropsychologie
Die Folgen eines Schlafentzugs unter dem Fokus der neuropsychologischen Veränderungen können wie folgt zusammengefasst werden: Neben Gedächtnisdefiziten fällt eine emotionale Instabilität auf. Dabei sind v.a. die Amygdala und der präfrontale Kortex als wichtige Schaltzentralen zu nennen. Klinisch bemerkbar sind Reaktionen, wie u.a. ein Anstieg des Risikoverhaltens, eine Abnahme des kritischen Denkens, Aufmerksamkeitsdefizite, eine Abnahme der Reaktionszeit und des Recalls (d.h. der Fähigkeit, Sachverhalte aus der Erinnerung abzurufen).
Mit steigendem Alter nimmt die Wahrscheinlichkeit der Störanfälligkeit des Schlafs zu, weil die Adaptationsfähigkeit an veränderte Schlafzeiten verglichen zu jüngeren Menschen abnimmt. Anders ausgedrückt, nimmt das Vulnerabilitätsrisiko zu, was wiederum die kognitive Leistungsfähigkeit bei Schlafstörungen negativ beeinflussen kann. Handelt es sich um einen chronischen Zustand, können psychiatrische Begleiterkrankungen, wie eine Depression auftreten (10). In diesem Kontext besteht auch eine positive Korrelation mit Fatigue und Angst. Als somatische Begleiterkrankungen können daraus Bluthochdruck, verändertes Schmerzempfinden, u.a. resultieren (17, 18).
Anwendungsbereich/Indikation
Die Indikationsstellung einer Substitutionstherapie erfolgt meist empirisch. Das derzeit einzige in der Schweiz erhältliche retardierte Melatonin-Präparat, Circadin (Retardtablette: entscheidend wegen der längeren Halbwertszeit. Galenik: Lactose-Monohydrat) ist ab 55 Jahren für die kurzzeitige Behandlung der primären Insomnie gemäss Swissmedic zugelassen (19). Die British Association for Psychopharmocology empfiehlt Melatonin als Erst-Linien-Therapie bei über 55-Jährigen bei Insomnie, Parasomnie und zirkadianen Schlafrhythmusstörungen (20). Die möglichen Einsatzfelder einer Melatoninsubstitution im Alter sind in Tabelle 1 zusammengefasst.
Menschen mit Alzheimerdemenz in Kombination mit einem Sundowning Syndrom können von einer Substitution mittels retardiertem Melatonin profitieren, was sich auch mit der klinischen Erfahrung deckt (ab 2011). Basierend auf der Delir-Melatonin-Hypothese wird es differenzierte Studien benötigen: Ziel sollte sein, wer von einer Substitution profitiert und wer nicht. Dabei wäre der Fokus auf die Art der nächtlichen Delirien (hyperaktiv, hypoaktiv, gemischt) in Funktion der Ursachen der Delirien zu richten (8, 14, 21). – Zudem gibt es Studien, welche keinen Effekt von einer Melatonin Substitution nachweisen konnten, wobei die oben erwähnte Differenzierung nur bedingt untersucht wurde und teilweise auch kein retardiertes Präparat verwendet wurde, was wichtig wäre, wegen der sehr kurzen Halbwertszeit von Melatonin. Weiter stellt sich die Frage der Therapiedauer (22, 23).
Weiter gibt es Hinweise, dass Melatonin eine wichtige Rolle beim Diabetes mellitus spielt, im Rahmen des chronobiologischen Rhythmus der Insulinsekretion (24). Zurzeit kann diesbezüglich keine Therapieempfehlung abgegeben werden.
Es gibt Onkologen, welche Melatonin mehr als Chronobiotikum z. B. beim Mamma-CA einsetzten. Dabei soll sich v.a. die Lebensqualität verbessern (25). In wie weit die Funktion als Radikalfänger in dieser Konstellation erwünscht ist, bleibt offen.
Grundsätzlich stellt die Gabe von retardiertem Melatonin in der Tat eine Alternative zu den gängigen Schlafmitteln dar, mit dem grossen Unterschied, dass bis jetzt keine negativen Effekte wie Abhängigkeit, Toleranz, Rebound der Schlaflosigkeit nach Absetzen der Therapie und keine psychomotorische Funktionsstörungen, Abrufschwierigkeiten des Gedächtnisses, Fahreignungsdefizite oder Schwindel festgestellt werden konnten. Der fehlende amnestische Effekt verglichen zu anderen häufig eingesetzten Substanzklassen (z.B. Hypnotika) könnte sich auch in einer niedrigeren nächtlichen Sturzinzidenz auswirken (19, 26). Störungen der endogenen Melatoninsekretion unter Substitution und nach Absetzen der Therapie konnten in Urinkontrolluntersuchungen bis jetzt nicht nachgewiesen werden; auch nicht nach längerer Einnahme (bis 12 Monate). Es scheint, dass der positive Effekt auf die Schlafqualität sogar noch eine gewisse Zeit nachwirkt (5, 27). Zum Einsatz von Melatonin bei älteren Patienten gibt es immer mehr Daten (v.a. bei Insomnie), die darauf hinweisen, dass eine längere Verschreibung von bis zu 6 Monaten bei gutem Ansprechen nicht nachteilig ist (19); dies vor allem in Zusammenhang mit einer Alzheimererkrankung (15). Die Swissmedic empfiehlt eine Anwendung von 3 Wochen bis zu 3 Monaten in begründeten Einzelfällen.
Erfahrungsgemäss werden niedrige Dosierungen z.B. von Circadin 2 mg ret. sehr gut toleriert. Eine niedrige Substitutionsdosis entspricht ganz der geriatrischen Verschreibungspraxis.
Um die Melatoninausschüttung laborchemisch zu untersuchen, existieren 3 Analysemöglichkeiten. Dabei handelt es sich nicht um Routineuntersuchungen:
Um den Melatonin-Peak zu ermitteln, müsste ein Serumnachweis nach Mitternacht stattfinden (Serum einfrieren). Durch die Analyse des Erstmorgenurins kann beurteilt werden, ob zentral Melatonin überhaupt ausgeschüttet wird oder nicht. Stellt sich die Frage, wie ein Melatoninprofil aussieht, können Speichelproben (23 h, 2 h, 4–5 h) untersucht werden.
Psychiatrische Dienste Aargau AG
Klinik Königsfelden
5201 Brugg
dominik.marti@pdag.ch
Der Autor hat keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert. Neurim Pharmaceuticals hat auf Anfrage die Zulassungsstudien zur Verfügung gestellt.
- Die Schlafqualität nimmt mit zunehmendem Alter ab und das Vulnerabilitätsrisiko zu bei schlechterer Adaptationsfähigkeit an veränderte Schlafzeiten.
- Die Substitutionstherapie bei Insomnie im Alter hat grosse Vorteile v.a. gegenüber den Hypnotika, was das Nebenwirkungsprofil anbelangt.
- Beim Vorliegen einer Insomnie bei Alzheimerdemenz mit Sundowning kann die Schlafqualität durch eine Substitution positiv beeinflusst werden.
- Ausblick: Ob sich eine neuroprotektive Wirkung unter Melatoninsubstitution bei der Alzheimerdemenz herauskristallisiert, müsste mittels Therapiestudien über einen längeren Zeitraum ergründet werden.
Literatur:
1. Roth T. et al.: Prevalence and perceived health associated with insomnia based on DSM-IV-TR. Biol. Psychiatry 2011; 69: 592-600
2. Foley DJ et al.: Sleep complaints among elderly persons: an epidemiologic study of three communities. Sleep. 1995; 18: 425-32
3. Delini-Stula A. et al.: Sleep behavior in the Swiss population; Prevalence and the day-time consequences of insomnia. Somnologie: 2007; 11: 193-201
4. Bundesamt für Statistik: Schweizerische Gesundheitsbefragung 2012, Schlafstörungen in der Bevölkerung https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/gesundheit/erhebungen/sgb.assetdetail.350820.html
5. Shukla M. et al.: Mechanisms of Melatonin in Alleviating Alzheimer’s Disease; Current Neuropharmacology; 2017; 15: 1010-1031
6. Winklman J.: Insomnia Disorders; NEJM 2015: 1437-1444
7. Longo D. et al.: Multiple-System Atrophy; NEJM 2015: 249-263
8. Maldonado J.R.: Neuropathologie of Delirium: Review of Current Etiologic Theories and Common Pathways; Am J Geriatric Psychiatry 21: 12, December 2013 : 1190-1222
9. Lerner A.B. et al.: Isolation of melatonin, the pineal gland factor that lightens melanocytes; J Am Chem Soc; 1958: 80: 2587
10. Feinsilver S.H.: Sleep in the elderly. What is normal?; Clin. Geriatr Med.; 2003: 19 (1): 177-188
11. Epstein F. H. Melatonin in Humans; Mechanisms of Disease Review Article; NEJM 1997 Jan. 17.: 186-195
12. De Jonghe A. et al.: Effectiveness of melatonin treatment on circadian rhythm disturbances in Dementia. Are there implications for delirium? A systematic review; Int. J. Geriatr Psychiatry; 2010: 1201-1208
13. Ionov M. et al.: Mechanism of neuroprotection of melatonin against beta-amyloid neurotoxicity: Neuroscience 2011: 180, 229-237
14. Li Lin et al. : Melatonin in Alzheimer’s Disease; Int. J. Mol. Sci 2013: 14, 14575-14593
15. Wade A. G. et al.: Add-on prolonged-release melatonin for cognitive function and sleep in mild to moderate Alzheimer’s disease: a 6-month, randomized, placebo-controlled, multicenter trial; Clinical Intervention in Aging: 2014: 9, 947-961
16. Thakkar M. et al.: Melatonin Promotes Sleep by Inhibiting Orexinergic Neurons in Perifornical Lateral Hypothalamus; Neurology April 9. 2018: 90 (15 Supplement)
17. Taylor D.J. et al.: Comorbidity of chronic insomnia with medical problems; Sleep: 2007: 30, 213-218
18. Thase M.E.: Correlates and consequences of chronic insomnia; Gen Hosp Psychiatry: 2005: 27, 100-112
19. Lyseng-Williamson K. A.: Melatonin prolonged release: a guide to it’s use in treatment of insomnia in patients aged ≥55 years; Drugs Ther. Perspect: 2013: 29, 125-129
20. Wilson S.J. et al.: British Association for Psychopharmacology consensus statement on evidence-based treatment of insomnia, parasomnias and circadian rhythm disorders; J. Psychopharmacol.: 2010; 24 (11): 1577-1601
21. Cardinali D. et al.: Clinical Aspects of Melatonin Intervention in Alzheimer’s Disease Progression; Current Neuropharmacology: 2010: 8; 218-227
22. Jaiswal S. J. et al.: Melatonin and sleep in preventing hospitalized delirium: a randomized clinical trial: The American Journal of Medicine; 2018: 131; 1110 – 1117
23. Gehrman Ph. R. et al.: Melatonin fails to improve sleep or agitation in a double-blind randomized placebo-controlled trial of institutionalized patients with Alzheimer’s disease: Am J Geriatr Psychiatry; 2009 February: 17 (2): 166 – 169
24. Song J. et al.: The role of melatonin in the onset and progression of type 3 diabetes (Review); Molecular Brain: 2017: 10:35
25. Innominato P. F. et al.: The effect of melatonin on sleep and quality of life in patients with advanced breast cancer: Support Care Cancer; 2016: 24: 1097- 1105
26. Zisapel N.: New perspectives on the role of melatonin in human sleep, circadian rhythm and their regulation: British J. of Pharmacology; 2018: 1-10
27. Lemoine P. et al.: Prolonged-release melatonin for insomnia- an open-label long-term study of efficacy, safety and withdrawal: Therapeutics and Clinical Risk Management; 2011: 7, 301-311
der informierte @rzt
- Vol. 8
- Ausgabe 12
- Dezember 2018