Fortbildung

Spezialisierte Physiotherapie für Frauen, Männer und Kinder bei Dysfunktionen im Beckenbereich

Beckenbodenphysiotherapie ist nicht gleich Beckenbodengymnastik

Veränderungen in Gesellschaft und Gesundheitswesen haben sich in den letzten Jahren auf die Nachfrage an spezialisierter Beckenbodenphysiotherapie ausgewirkt. Einerseits hat der anfängliche perinatale Fokus der Beckenbodenphysiotherapie sich auf viele andere Domänen erweitert, andererseits sorgt die steigende Lebenserwartung für eine dramatische Zunahme der Prävalenz von Beckenbodendysfunktionen und der damit verbundenen Kosten. Die Beckenbodenphysiotherapie ist eine Spezialisierung der Physiotherapie, die sich auf Frauen, Männer und Kinder mit Dysfunktionen im Beckenbereich konzentriert. Der Beckenbereich ist definiert als der Beckengurt mit Beckenbodenmuskulatur und Beckenorganen, der Lendenwirbelsäule und den Hüftgelenken. Gegenseitige Beeinflussung des Bewegungsapparates und der Organsysteme kann neben muskuloskelettalen Beschwerden, Funktionsstörungen der Miktion, Defäkation und Sexualität auch Organsenkungen und Schmerzen hervorrufen (1).



Dans les dernières années, les changements dans la société et dans le système de santé publique ont eu des répercussions sur la demande en physiothérapie spécialisée du plancher pelvien. D’  une part, les indications pour la physiothérapie du plancher pelvien, auparavant concentrées sur les problèmes périnatales, se sont élargies vers de nombreux autres domaines. D’ autre part, l’ amélioration de l’ espérance de vie a provoqué un accroissement dramatique de la prévalence des dysfonctions du plancher pelvien et des coûts associés. La physiothérapie du plancher pelvien est une spécialisation de la physiothérapie. Elle s’ applique à des femmes et des hommes et aux enfants avec des dysfonctions dans la région du pelvis. La région du pelvis comporte la ceinture pelvienne avec la musculature du plancher pelvien et les organes pelviens, la colonne vertébrale lombaire et les articulations de la hanche. Les interdépendances entre l’ appareil locomoteur et les systèmes d’ organes peuvent causer des troubles musculo-squelettiques, mictionnelles, de la défécation ou de la fonction sexuelle, mais aussi provoquer des descentes d’ organes et des douleurs (1).

Warum Beckenbodenphysiotherapie?

In einem Report der «pelvic floor assessment group» der International Continence Society (ICS) (2) sind die Funktionen und Dysfunktionen des Beckenbodens beschrieben. Ein normal funktionierender Beckenboden hat einen richtigen Tonus, um die inneren Organe zu unterstützen, spannt unwillkürlich an bei abdominaler Druckerhöhung, kontrahiert zur Sicherung der Kontinenz, relaxiert für die Miktion und Defäkation und kontrahiert und relaxiert bei sexueller Aktivität. Bei Dysfunktionen des Beckenbodens können Speicher- und Entleerungsstörungen der Blase und des Darms, Senkungen der Beckenorgane, sexuelle Dysfunktionen und Schmerzen im Beckenbereich auftreten, die im Zusammenhang mit einer Beckenbodendysfunktion stehen.

Fallvignette

Bei einer gynäkologischen Vorsorgeuntersuchung verliert die 52-jährige Lina beim Aufstehen vom Gyn-Stuhl Urin. Der Gynäkologe bemerkt dies und spricht sie darauf an. Es stellt sich heraus, dass Lina schon seit der dritten (Forceps-) Geburt unter einer Belastungsinkontinenz leidet, mit einer Zunahme der Beschwerden seit Beginn ihres Klimakteriums. Auch berichtet sie über einen manchmal kaum unterdrückbaren Harndrang und erhöhte Miktionsfrequenz. Ihr Gynäkologe meldet Lina daraufhin bei einer spezialisierten Beckenbodenphysiotherapeutin an.

Was ist Beckenboden-Physiotherapie?

Die physiotherapeutische Behandlung beginnt mit einer eingehenden Anamnese der Betroffenen, wobei alle Domänen erfragt werden. Verschiedene Fragebogen, wie der Deutsche Beckenbodenfragebogen (3), können dabei behilflich sein. Das Miktions-/Defäkations-Protokoll sowie der Pad-Test vermitteln Informationen über die Miktions-/Stuhl-Frequenz, Drang, Schweregrad der Inkontinenz und -Verhalten. Die anschliessende Untersuchung des Beckenbodens ergänzt die Befundaufnahme. Die Inspektion erfolgt in Rückenlage, wobei der Beckenboden in Ruhe und in Bewegung beobachtet wird. Bei einer Kontraktion soll eine Einwärts-Bewegung und bei der Relaxation eine Abwärts-Bewegung des Perineums ersichtlich sein. Um ein vollständiges Bild über die Funktionen der Beckenbodenmuskeln und die Lage der Blase, Gebärmutter und des Darm zu erhalten, ist eine vaginale oder rektale Untersuchung mit entsprechenden Tests sinnvoll und gibt wichtige Informationen für die Behandlung. Die Beckenboden-Muskelfunktionsprüfung erfolgt mittels Palpation und sEMG (4). Dabei werden bei einer willkürlichen Kontraktion Muskelkraft, Ausdauer, Koordination und Relaxation sowie die unwillkürlichen Beckenbodenbewegungen beim Husten- und Press-Manöver überprüft. Ist die Palpation schmerzhaft, erfolgt ein myofaszialer Befund. Mit perinealem Ultraschall (US) können die Lage der inneren Organe in Ruheposition und die Lageveränderungen bei Bewegung, in liegender und stehender Position, observiert und beurteilt werden (5).

Fallvignette

Die Physiotherapeutin stellt nach einer eingehenden Besprechung mit Lina noch mehr Probleme fest: Lina berichtet über Stuhlschmieren und seit kurzem über Schmerzen beim Geschlechtsverkehr. Die Befundergebnisse (PERFECT) des Beckenbodens zeigen einen hypertonen Beckenboden, Muskelkraft 2/5*, Ausdauer 3/10, verzögerte Relaxation, keine unwillkürliche BB-Anspannung bei IAP-Erhöhung (Husten), normales Pressmanöver, Triggerpunkt im M. pubococcygeus sinister, Avulsion beim M. levator ani dexter; der M. sphincter ani externus ist defekt zwischen 10 und 12 Uhr. Normale Sensitivität des Rektums (Ballontest), normaler RAIR (inhibitorischer recto-analer Reflex).
Viele Patienten haben multiple Symptome, die oft nicht mit dem Zuweiser besprochen werden. Teilweise sicher schambedingt, aber auch weil die Zusammenhänge für den Patienten fehlen. Ein Gynäkologe hat ja nichts mit dem Darm zu tun, obwohl abhängig vom Geburtsmodus eine erhöhte Prävalenz für das Entwickeln einer Stuhlinkontinenz besteht.

Physiotherapeutische Interventionen

Wichtige Teile der Behandlung sind die Wahrnehmung des Beckenbodens und dessen korrekte Aktivierung und Entspannung, gezielte Kräftigung und Training der Beckenbodenmuskulatur und deren Integration in Alltags- und Sportaktivitäten. Das Training kann mit Biofeedback (sEMG-, Druck-, Dynamometrie- und Ultraschall) unterstützt werden. Beckenbodenphysiotherapie ist eine konservative Therapie und wird in der Literatur mit einem Evidenzlevel IA als erste Massnahme bei Inkontinenz empfohlen, wenn der Patient durch einen spezialisierten Beckenbodenphysiotherapeuten behandelt wird (6).
Beckenbodenüberaktivtät kann durch Relaxatationstechniken, wie die Kontraktion-Relaxationstechnik, mit oder ohne Biofeedback, verbessert werden; der Beckenbodentonus sinkt und die Muskelfunktionen verbessern sich. Myofasziale Schmerzen und/oder Triggerpunkte werden durch intravaginale oder rektale myofasziale Behandlungstechniken vermindert. Studien von Fitzgerald zeigen signifikante Resultate in der Behandlung von IC/BPS mit myofaszialen Behandlungstechniken im Vergleich zu globaler Massage. Thiele-Massage und Dehnungen des Beckenbodens zeigen eine moderate bis gute Verbesserung bei Pollakisurie, Nykturie und imperativem Harndrang (7). Elektrostimulation mit einer inhibierenden Stromfrequenz kann einen positiven Einfluss auf die überaktive Blase haben. Derzeit besteht dafür aber noch ungenügende Evidenz (8).
Verhaltens- und Toilettentraining sind signifikant effektiv. Rektales Ballontraining wird vor allem bei rektaler Hypo-, Hypersensitivität oder operativ bedingt verminderter Compliance angewendet (9).

Fallvigentte

Bei Lina würden wir auf Grund Ihrer Symptome einen hypotonen Beckenboden erwarten. Aber beim Befund haben wir einen hypertonen Beckenboden vorgefunden. Studien zeigen, dass bei einem hypertonen Beckenboden neben der Relaxation auch Koordination, Muskelkraft und Ausdauer reduziert sind (10). Der erhöhte Tonus und die schlechte Relaxation können neben hormonell bedingten Veränderungen zu Schmerzen beim Geschlechtsverkehr führen. Das erste Ziel bei Lina war, ihre Beckenbodenwahrnehmung zu verbessern und die Beckenbodenmuskeln zu bewegen. Der zweite Schritt war, den Beckenbodentonus durch das Verbessern der Relaxation und die Anwendung von myofaszialen Techniken zu normalisieren. Zudem war es wichtig, Muskelfunktionen wie Kraft und Ausdauer zu trainieren, um die Muskelperformance der Mm. levatores ani zu verbessern und den Ruhetonus des M. sphincter ani externus zu erhöhen (11). Weil Lina aber auch beim Husten Urin verloren hat, war es wichtig, die unwillkürliche Beckenbodenkoordination zu verbessern. Trink- und Toilettenverhalten wurden optimiert, und durch das Blasentraining hat sie gelernt, wieder über ihre eigene Blase «Chef» zu sein. Das gesamte Training hat sie konsequent umgesetzt und in den Alltag integriert.
Lina ist sehr zufrieden mit dem Resultat.

Zusammenarbeit

Eine Abklärung durch einen Gynäkologen, Urologen, Gastroenterologen, Viszeral-Chirurgen oder den Hausarzt ist wichtig, damit Patienten eine adäquate Therapie erhalten. Nach einer Diagnosestellung kann Beckenbodenphysiotherapie verordnet werden. Diese erfordert spezifische Kompetenzen, welche nicht in der Grundausbildung der Physiotherapie auf Bachelorstufe, aber durch vertiefte Weiterbildungen erworben werden können. Listen von spezialisierten Beckenphysiotherapeuten sind ersichtlich unter www.pelvisuisse.ch (Deutschschweiz), www.aspug.ch (Suisse Romandie).

Jacqueline de Jong, Pt MSc

Studienleiterin MSc in Pelvic Physiotherapy (www.somt.ch)
PhD i.A. Urologische Klinik Inselspital Bern
Physio SPArtos
Alpenstrasse 45
3800 Interlaken

j.dejong@artos.ch

Die Autorin hat keine Interessenskonflikte im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.

  • Speicher- und Entleerungsstörungen der Blase und des Darms, Senkungen der Beckenorgane, sexuelle Dysfunktionen und Schmerzen im Beckenbereich können im Zusammenhang mit Beckenbodendysfunktionen auftreten.
  • Neben evidenzbasierten diagnostischen und therapeutischen Massnahmen konzentriert sich die Beckenbodenphysiotherapie auf die Prävention von Becken- und Beckenbodendysfunktionen.
  • Beckenbodenphysiotherapie wird in Cochrane Reviews als effektiv bestätigt (Evidenzlevel I A) und ist kosteneffektiv.
  • Eine multidisziplinäre Zusammenarbeit ist wichtig, um Patienten optimal zu betreuen.
  • Beckenbodenphysiotherapie ist mehr als Beckenbodengymnastik und erfordert spezifische Kenntnisse und Fähigkeiten.

Messages à retenir

  • Une dysfonction du plancher pelvien peut entraîner toute une série de conséquences: Troubles de continence ou d’ évacuation de la vessie ou de l’ intestin, descente d’ organes, dysfonctions sexuelles et douleurs pelviennes.
  • La physiothérapie du plancher pelvien applique des mesures diagnostiques et thérapeutiques basées sur l’ évidence. Elle met l’ accent sur la prévention de dysfonctions au niveau du bassin et du plancher pelvien.
  • La physiothérqpie du plancher pelvien est répertoriée dans les Cochrane Reviews comme étant efficace (level of evidence I A). Et elle est efficiente en terme de coûts.
  • Pour la prise en charge optimale des patients/tes, une collaboration multidisciplinaire est importante.
  • La physiothérapie du plancher pelvien n’ est pas identique à la simple « gymnastique du périnée ». Elle va beaucoup plus loin et nécessite des connaissances et capacités spécifiques.

1. Bo, K., et al., An International Urogynecological Association (IUGA)/International Continence Society (ICS) joint report on the terminology for the conservative and nonpharmacological management of female pelvic floor dysfunction. Int Urogynecol J, 2017. 28(2): p. 191-213.
2. Messelink, B., et al., Standardization of terminology of pelvic floor muscle function and dysfunction: report from the pelvic floor clinical assessment group of the International Continence Society. Neurourol Urodyn, 2005. 24(4): p. 374-80.
3. Baessler, K., et al., Australian pelvic floor questionnaire: a validated interviewer-administered pelvic floor questionnaire for routine clinic and research. Int Urogynecol J Pelvic Floor Dysfunct, 2009. 20(2): p. 149-58.