Fortbildung AIM

Welchen Beitrag können Grundversorger leisten?

Behandlung einer Harninkontinenz bei der Frau

Als Grundversorger wird man häufig mit dem Problem «Harninkontinenz» konfrontiert. Mit einer guten Anamnese und einer einfachen klinischen Untersuchung können die Arbeitsdiagnose suffizient geklärt und konservative Therapien begonnen werden. Nach der Darstellung der Abklärungsschritte im ersten Teil in „der informierte arzt“ im Mai dieses Jahres folgt hier der zweite Teil, welcher den Aspekten der Behandlung gewidmet ist.



Nach Ausschluss einer Retention führen die Anamnese und klinische Untersuchung zwangsläufig zu einer vernünftigen Arbeitsdiagnose. Der Grundversorger kann problemlos konservative Therapien beginnen. Weil er die Lebenssituation und die internistische Krankengeschichte der Patientin gut kennt, wird er die Behandlung der Inkontinenz in einen Gesamtkontext bringen können.
Einzig der Leidensdruck der Patientin bestimmt das Tempo und Akzeleration innerhalb der Therapiemodalitäten.

Behandlung Belastungsinkontinenz (SUI)

Die Belastungsinkontinenz ist durch eine gestörte Anatomie bedingt und erfordert demzufolge eine Korrektur derselben.
Physiotherapie: Im Rahmen der konservativen Erstlinienbehandlung der SUI ist die Physiotherapie am wichtigsten. Es ist darauf zu achten, die Patientin in eine beckenbodenorientierte Physiotherapie zu überweisen, die neben Beckenbodentraining auch Biofeedback und Elektrostimulation anbietet. Auf der Webseite der Pelvisuisse, dem Verein der in Beckenboden-Rehabilitation spezialisierten Physiotherapeutinnen, sind Fachfrauen gelistet. Mit einer Verbesserung der Kontinenz kann man in ca. 50% rechnen (1). Vor allem bei offener Familienplanung ist ein physiotherapeutischer Ansatz sinnvoll. Die Physiotherapie verbessert kompensatorisch die Beckenbodenmuskulatur, doch kann sie die muskulären und bindegewebigen Abrisse und Überdehnungen nicht heilen.
Pessare: Ist die Familienplanung nicht abgeschlossen und leidet die Patientin unter einer Belastungsinkontinenz, sind Pessare geeignet, die Zeit bis zu einer Inkontinenzoperation zu überbrücken. Pessare stützen den abgeflachten urethrovesikalen Übergang. Ein gut sitzendes Pessar wird der Patientin wieder erlauben, Tennis zu spielen oder zu Joggen. Es gibt wiederverwendbare Pessare aus weichem Silikon und Einmalpessare aus Schaumstoff. Für die SUI werden typischerweise Ring- oder Schalenpessare mit einer suburethralen Verstärkung verwendet (Abbildung 1). Von den Einmalpessaren existieren praktische Probesets mit verschiedenen Pessargrössen (zum Beispiel RecaFEM® Probepackung). Sie werden wie normale Tampons angewendet, müssen aber vor dem Einführen nass gemacht werden. Bestätigt man der Patientin eine Inkontinenz, hat sie Anrecht auf eine definierte Vergütung pro Jahr für Inkontinenzmaterialien.
Indikation für die Überweisung: Ist die Belastungsinkontinenz sehr störend und führen konservative Massnahmen nicht zu einer Besserung oder wünscht die Patientin eine unmittelbare Lösung, haben wir mit den suburethralen Bandoperationen (z.B. TVT™) einfache und hoch effektive Eingriffe zur Verfügung, die auch langfristig Erfolge zeigen (Abb. 2) (2). Eine abgeschlossene Familienplanung ist günstig.

Behandlung überaktive Blase (OAB)

Die krankheitstypische Anamnese mit Urge und der Ausschluss von Resturin genügen, um die Arbeitsdiagnose OAB zu stellen und eine Therapie einzuleiten. Die überaktive Blase wird nur letztinstanzlich invasiv behandelt. Die Diagnose OAB ist eine Ausschlussdiagnose, die Häufigkeit der OAB nimmt mit dem Alter kontinuierlich zu und die Grenzen zwischen symptomatischen Formen und der idiopathischen OAB sind fliessend. Darum stehen Therapieansätze, die Verhalten, Trophik der Schleimhäute oder Harnwegsinfektionen berücksichtigen, an erster Stelle:
Trinkverhalten: Eine angepasste Flüssigkeitsaufnahme mit Trinken vorzugsweise am Tag und weniger am Abend ist vor allem bei älteren Menschen eine geeignete Strategie, um die Anzahl nächtlicher Miktionen zu reduzieren.
Änderungen im Lifestyle: Gewichtsreduktion bei Übergewicht, Verzicht auf blasentonisierende Getränke wie Kaffee und Cola, Verzicht auf CO2-versetzte Getränke, moderate sportliche Aktivität und Verzicht auf Nikotingenuss können die Kontinenz positiv beeinflussen und sind wichtige Erstlinienempfehlungen (3).
Physiotherapie hat auch bei der Behandlung der überaktiven Blase einen hohen Stellenwert. Einerseits wird die Verschlussfunktion durch Beckenbodentraining gestärkt, andererseits durch Elektrostimulation über Reflexbögen die Überaktivität des Detrusors gedämpft, auch wenn der Mechanismus hier nicht wirklich verstanden ist.
Der Östrogenentzug in der Menopause führt zu einer atrophen, verletzlichen und sensitiven Schleimhaut und in der Folge zu Symptomen des unteren Harntraktes wie Dysurie und häufigem Harndrang (4). Lokale Östrogenapplikation als Estradiol(E2)- oder Estriol(E3)- haltige Crèmen, Vaginaltabletten oder Ovula in einer Langzeittherapie ist eine einfache und meist sehr effektive Massnahme. Eine gute Datenlage existiert zur Prophylaxe rezidivierender Harnwegsinfekte: In der Menopause reduziert lokale Östrogenisierung die Infekthäufigkeit um einen Faktor 10 (5) (Tabelle 1).

Es gibt Phytotherapeutika, die rezeptfrei erhältlich sind. Beispielsweise verhindert der Einfachzucker D-Mannose (Femannose® N, Hänseler D-Mannose) rezidivierende Harnwegsinfekte ähnlich effektiv wie eine Antibiotikaprophylaxe (6). Bryophyllum Kautabletten 50% in einer Dosis von 3 x 2 Tbl. täglich kann bei der Behandlung der OAB eingesetzt werden (7).
Die überaktive Blase ist die Krankheit des alternden Menschen. Gerade bei fragilen polymorbiden Patientinnen ist die Polypharmazie häufig und die Medikamenteninteraktionen schwieriger kontrollierbar, so dass es sinnvoll sein kann, die Medikamentenliste auch unter dem Aspekt der OAB einzudämmen anstatt auszuweiten. So können beispielsweise Diuretika, β-Blocker,
Kalziumantagonisten, NSAR, Antiparkinsonmittel, Psychopharmaka, Barbiturate oder Opiate Symptome des unteren Harntraktes negativ beeinflussen.
Eine medikamentös schlecht eingestellte Herzinsuffizienz oder ein schlecht eingestellter Diabetes mellitus können Symptome der überaktiven Blase verstärken.
Antimuskarinika sind medikamentöse Grundpfeiler der OAB Therapie (Tabelle 2). Sie können mit anderen konservativen Therapiemassnahmen kombiniert werden. Einige Produkte erlauben eine Dosisakzeleration. Es ist allerdings nicht bei jeder Patientin günstig, die Medikamentenliste mit einem blasenspezifischen Medikament zu ergänzen (Polypharmazie, siehe oben). Antimuskarinika reduzieren im Vergleich zu Plazebo in bescheidenem Mass die Anzahl Miktionen und Inkontinenzepisoden pro Tag. Die verschiedenen Antimuskarinika sind ähnlich effektiv, sie unterscheiden sich vor allem im Nebenwirkungsprofil. Prinzipiell erfolgt die Wirkung nicht selektiv an der Blase, häufige Nebenwirkungen werden durch Blockade der parasympathischen Innervation an anderen Organen verursacht. Typisch sind Mundtrockenheit, Obstipation, Tachykardie, reduzierte Akkommodationsfähigkeit, Erhöhung des Augeninnendruckes bis hin zu kognitiven Störungen. Die Nebenwirkungen können zu einer schlechten Compliance führen. Das quaternäre Amin Trospiumchlorid (Spasmo-Urgenin® Neo oder Spasmex®) sollte die Bluthirnschranke nicht passieren und ist darum bei betagten Menschen günstig.

β - 3 - Agonisten relaxieren den Detrusor durch Stimulation der sympathischen β-Adrenorezeptoren und wirken damit über einen anderen Pfad als die Antimuskarinika (Abbildung 3). Entsprechend sind sympathische Nebenwirkungen ein Problem: Eine unkontrollierte arterielle Hypertonie ist eine Kontraindikation, unter Therapie mit Mirabegron soll der Blutdruck kontrolliert werden. Dafür fehlen die typischen anticholinergen Nebenwirkungen (8). Aktuell gibt es nur ein Präparat auf dem schweizerischen Markt: Mirabegron (Betmiga®). Mirabegron wurde bezüglich Wirksamkeit (Häufigkeit von Miktion, Häufigkeit von Inkontinenzepisoden) gegenüber Placebo (9) untersucht, dem Medikament wurde eine den Antimuskarinika vergleichbare Wirkung attestiert.

Indikation für die Überweisung:

Ist die Inkontinenz therapierefraktär oder persistieren auffällige Befunde wie Mikrohämaturie, ist eine Überweisung an die UrogynäkologIn sinnvoll, welche die Diagnostik fortsetzt: Die Zystoskopie kann relevante Befunde wie einen Blasentumor, Fremdmaterial oder Hunner’sche Ulcera (interstitielle Zystitis) aufdecken und die Urodynamik die Diagnose «OAB» objektivieren, indem eine hypersensitive hypokapazitive oder auch instabile Blase gemessen werden kann.

Invasive Therapieformen der OAB: Die intravesikale Injektion von Botulinumtoxin (Botox®) ist hierbei die Therapie der Wahl, weil sie sehr effektiv und minimal invasiv ist und sie bei Bedarf hinaufdosiert und repetiert werden kann (10). Botulinumtoxin führt zu einer reversiblen chemischen Denervation der Blase. Konzeptionell wird die parasympathische Innervation isoliert am gewünschten Ort «Blase» ausgeschaltet, was gegenüber einer medikamentösen anticholinergen Therapie mit den systemischen Nebenwirkungen von grossem Vorteil ist. Gerade für polymorbide Patientinnen mit langer Medikamentenliste oder Patientinnen mit dementieller Entwicklung ist die intravesikale Botoxinjektion eine naheliegende Lösung. Botoxinjektionen sind nicht nur bei neurogenen Blasenstörungen, sondern auch bei der idiopathischen OAB eine Kassenleistung, vorausgesetzt, die Patientin ist bezüglich konservativer Massnahmen therapierefraktär.
Die sakrale Neuromodulation (Blasenschrittmacher) ist ein etabliertes und effektives Verfahren in der Behandlung der OAB und gegen medikamentöse Therapien und gegen Botulinumtoxin geprüft (11, 12), wird aber, weil invasiver und teurer, in der Praxis deutlich seltener eingesetzt.

Behandlung «Inkontinenz bei chronischer Retention»

Selten ist eine Inkontinenz bei der Frau durch eine Überlaufsituation bedingt. Ist die Retention als Inkontinenzursache erkannt (hohe Restharnmenge), ist die primäre fachärztliche Abklärung angezeigt.
In der Urogynäkologie können ein massiver Genitaldescensus oder eine Urethralstenose obstruktiv wirken. Die Detrusorkontraktilität kann durch chirurgische (onkologische Chirurgie im kleinen Becken) oder «internistische» Denervierung (z.B. autonome Polyneuropathie bei Diabetes mellitus) verursacht sein. Meist bleiben die intravesikalen Drücke tief und die Nieren werden nicht durch Reflux kompromittiert. (Komplexe neuro-urologische Krankheitsbilder wie echte Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie sind nicht Gegenstand dieses Artikels.)
Mittels «Miktion nach Uhr» kann man eine Kontinenz erreichen: Die Patientin wird prophylaktisch und konsequent nach Zeitplan z.B. alle 1½ Stunden auf die Toilette begleitet/geschickt. Medikamentös kann der schlaffe Detrusormuskel mit Cholinergica tonisiert werden, zum Beispiel mit Ubretid®. Die häufigste Nebenwirkung sind Darmkoliken. Den glatten Sphinkter der Urethra öffnet man komplementär mit einem α - 1 - Rezeptor-Blocker, zum Beispiel Pradif 400®. Die häufigste Nebenwirkung ist Schwindel bei Therapiebeginn.
Für das Erlernen des Selbskatheterismus muss man die Patientin an fachspezifische Pflegefachkräfte überweisen, eine gewisse Agilität und Fingerfertigkeit seitens der Patientin ist Voraussetzung.
Auch wenn nicht erwünscht, kann in einer Pflegeeinrichtung eine Versorgung mit einem Dauerkatheter oder einer suprapubischen Harnableitung die ideale Lösung für eine auf Retention basierenden Inkontinenz sein. Wird der Katheter mit einem Ventil bestückt, erspart man der Patientin den Urinbeutel.

Dr. med. Gabriella Stocker

Frauenklinik Stadtspital Weid und Triemli
Birmensdorferstrasse 501
8063 Zürich

Dr. med Ana Somaini

Frauenklinik Stadtspital Triemli
Birmensdorferstrasse 501
8063 Zürich

Dr. med. Daniel Passweg

Frauenklinik Stadtspital Weid und Triemli
Birmensdorferstrasse 501
8063 Zürich

daniel.passweg@triemli.zuerich.ch

Die Autoren haben in Zusammenhang mit diesem Artikel keine Interessenskonflikte deklariert.

  • Ist die Patientin therapierefraktär oder persistieren auffällige Befunde wie Mikrohämaturie, ist die Überweisung an die FachärztIn angezeigt.
  • Erstlinientherapie der Belastungsinkontinenz ist Physiotherapie,
    Zweitlinientherapie die suburethrale Bandeinlage.
  • Für die hauptsächlich konservative Behandlung der OAB ist das
    hausärztliche Setting ideal.
  • Inkontinenz bei chronischer Retention gehört primär durch die FachärztIn abgeklärt.

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2. Nilsson CG1, Palva K, Rezapour M, Falconer C. Eleven years prospective follow-up of the tension-free vaginaltape procedure for treatment of stress urinary incontinence.
Int Urogynecol J Pelvic Floor Dysfunct. 2008;19:1043-7.
3. Dallosso HM, McGrother CW, Matthews RJ, Donaldson MM; Leicestershire MRC Incontinence Study Group. The association of diet and other lifestyle factors with overactive bladder and stress incontinence: a longitudinal study in women. BJU Int. 2003;92:69-77.
4. Bachmann GA, Nevadunsky NS. Diagnosis and treatment of atrophic vaginitis. Am Fam Physician. 2000;61:3090-3096.
5. Raz R, Stamm WE. A controlled trial of intravaginal estriol in postmenopausal women with recurrent urinary tract infections. N Engl J Med. 1993;329:753-6.
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11. Siegel S, Noblett K, Mangel J, Griebling TL, Sutherland SE, Bird ET, Comiter C, Culkin D, Bennett J, Zylstra S, Berg KC, Kan F, Irwin CP. Results of a prospective, randomized, multicenter study evaluating sacral neuromodulation with InterStim therapy compared to standard medical therapy at 6-months in subjects with mild symptoms of overactive bladder. Neurourol Urodyn. 2015;34:224-30.
12. Amundsen CL, Richter HE, Menefee SA, Komesu YM, Arya LA, Gregory WT, Myers DL, Zyczynski HM, Vasavada S, Nolen TL, Wallace D, Meikle SF. OnabotulinumtoxinA vs Sacral Neuromodulation on Refractory Urgency Urinary Incontinence in Women: A Randomized Clinical Trial. JAMA. 2016;316:1366-1374.