- Nahrungsmittelallergien
Die schwerste Manifestation einer Nahrungsmittelallergie ist der potentiell letal verlaufende anaphylaktische Schock. In den Spitälern ist eine drastische Zunahme der Notfalleinweisungen wegen lebensbedrohender Reaktionen infolge Nahrungsmittelallergie zu verzeichnen. Adrenalin ist das First-Line-Medikament für die Behandlung einer anaphylaktischen Reaktion. Der Allergiker sollte immer das Notfallset auf sich tragen.
Todesfälle auf Grund einer Nahrungsmittelallergie sind ein neues Phänomen der letzten 3 Jahrzehnte: noch 1982 stand in einem Artikel in Annals of Allergy: »In der medizinischen Literatur gibt es keine Dokumentation einer tödlichen Nahrungsmittelreaktion» (1). Der erste Fall einer tödlich verlaufenden Nahrungsmittelallergie bei Erwachsenen datiert auf 1988 und betraf eine 24-jährige Frau mit bekannter Erdnussallergie nach Genuss eines Haselnusscakes mit Marzipan (Mandel)-Glasur (2). Die kanadische Patientin hatte wiederholt das Gebäck in dieser Bäckerei gekauft und reaktionslos ertragen. Die gerichtsmedizinische Abklärung dieses ausserordentlichen Todesfalles ergab, dass die Paste für die Herstellung der Glasur inzwischen «arachides» enthielt; diese Bezeichnung wurde vom englischsprechenden Bäcker nicht erkannt. Es folgten regelmässige Berichte in der medizinischen Literatur und in der Laien-Presse über letale Fälle (3 – 7), wie aus den folgenden Zeitungsartikeln hervorgeht.
Mädchen stirbt an Kuss
Ein 15-jähriges Mädchen mit einer Erdnuss-Allergie ist nach einem Kuss seines Freundes gestorben. Auch eine sofortige Adrenalinspritze konnte den Teenager nicht mehr retten. Der Junge hatte vorher ein Erdnussbutterbrot gegessen (The Edmonton Journal , Saturday, November 26, 2005; Spiegel Online, 25.11.2005).
Killed by an Ice Cream
Katrina, 37 J., gestorben in einem Restaurant nach Genuss eines einzigen Löffels von Eiscreme (mit Walnuss), obwohl sie einen Ausweis über ihre Nussallergie in verschiedenen Sprachen auf sich trug und denselben dem Servicepersonal vorgelegt hatte (Daily Telegraph, 5.5.1995).
Tragedy of Nuts Allergy Student
Nicola, eine 18-j. Studentin mit bekannter Nussallergie, starb nach einer Mahlzeit mit Ihrem Freund in einem indischen Spezialitäten-Restaurant (The Northern Echo, 22.1. 2000).
Groom with fish allergy dies after hotel party
Der Bräutigam, Meeresfischallergiker, starb nach Essen einer Frühlingsrolle – offenbar mit Seafood kontaminiert – anlässlich der Cocktail Party zur Hochzeit, obwohl er den Chef de Service vorgängig über seine Allergie orientiert hatte (Daily Mirror, September 27, 1996).
Tod durch Erdnussallergie nach Konsum eines einzeln verpackten Müsliriegels, gesetzkonform ohne Deklaration der Inhaltsstoffe.
(Allergo Journal, 2006; 15: 521-608).
Lucia starb einen tragischen Tod
16-jähriges Bibersteiner Mädchen ass versehentlich Erdnüsse, auf die es allergisch war, in der Meinung, es seien gebrannte Mandeln (Aargauer Zeitung, 27.6.2009).
Welche sind die risikoreichen Nahrungsmittel?
- In den verschiedenen Statistiken stehen Erdnüsse und Nüsse, Soja, Eier, Milch, Fisch, Schalentiere, Sellerie u.a. im Vordergrund.
- Nahrungsmittel mit «versteckten» Allergenen wie Pizza (Abb. 1), Hamburger, Kuchen, Gebäcke, Saucen, Salat Dressings, orientalische Spezialitäten sind für Allergiker besonders gefährlich.
- Konfektionierte Nahrungsmittel mit unbefriedigender Etikettierung (kann …. enthalten) sind heimtückisch oder der Allergiker beachtet die Etikette nicht.
Das Anaphyklaxie-Register
Aus Statistiken verschiedener Länder, z.B. in den UK, geht hervor, dass in den letzten Jahren die Inzidenz schwerer Anaphylayxien zunimmt (8). Im Jahre 2006 wurde in Deutschland ein Anaphylaxie-Register eingeführt. Gemäss den Daten vom Statistischen Bundesamt Deutschland waren in den Jahren 2006 bis 2008 92 Todesfälle, die Diagnoseschlüssel einer Anaphylaxie beinhalten, und in den Jahren 2009 bis 2011 113 Todesfälle gemeldet worden (9). Dies zeigt eine steigende Tendenz, die sich auch in Österreich und der Schweiz abzeichnet (Österreich: 2006 bis 2008 5 Fälle, 2009 bis 2011 7 Fälle; Schweiz: 2006 bis 2008 16 Fälle, 2009 bis 2011 27 Fälle) (9). Da nicht alle Todesfälle infolge einer Anaphylaxie erkannt werden, ist davon auszugehen, dass die realen Todesfallzahlen wahrscheinlich um den Faktor 10 bis 50 höher liegen (9). Bis 2019 wurden mehr als 10 000 Anaphylaxiefälle aus dem deutschsprachigen Raum, zusammen mit einzelnen europäischen Ländern erfasst (10). Die Daten zeigen, dass Nahrungsmittel vor allem bei Kindern häufige allergische Reaktionen auslösen.
Behandlung der Nahrungsmittelallergien
Die einzige wirksame Therapie einer Nahrungsmittelallergie ist die Eliminationsdiät: trotz der neuen, verschärften Lebensmittelverordnung (LV), die seit dem 1. Mai 2018 in der Schweiz verpflichtend ist (Tab. 1), bleiben weiterhin für den Nahrungsmittelallergiker Restrisiken: Allergene, die nicht auf der Liste figurieren, z.B. Buchweizen, oder Verunreinigungen von < 1000 mg/kg, welche bei hochgradigen Allergikern noch Reaktionen auslösen können, sowie beim Auswärtsessen und bei «take-away» food. Die Etikettierung: «kann …. enthalten» ist keine Lösung. Der Nahrungsmittelallergiker lebt deshalb in grosser Unsicherheit: er sollte daher nach schweren Reaktionen in der Vergangenheit immer ein Notfallset (Kortison- und Antihistaminika-Tabletten oder -Lösungen, z.B. Levocetirizin 2 x 5 mg oder Bilastin 2 x 20 mg oder Bilastin Schmelzablette 2 x 10 mg für Kinder, bw. 4 x 10 mg für Erwachsene, und 2 x 50 mg Prednisolon, sowie Adrenalin-Autoinjektor) auf sich tragen (Abb. 2). Die Handhabung des Adrenalin-Autoinjektors ist zu instruieren und zu kontrollieren (11). Leider zeigt das Anaphylaxie-Register bei der Analyse der letalen und der schwersten anaphylaktischen Fälle, dass Adrenalin, obwohl von nationalen und internationalen Leitlinien als First-Line-Medikament empfohlen, nur sehr wenig unter Real-Life-Bedingungen eingesetzt wird (9). Es ist wichtig, dass der Hausarzt immer wieder bei seinen Patienten mit schweren allergischen Reaktionen auf diese lebensrettende Massnahme hinweist.
Lösungsansätze für eine bessere Lebensqualität der Nahrungsmittelallergiker sind Kampagnen wie «Allergendeklaration in Gastronomie und Offenverkauf in Zusammenhang von aha!-Patientenorganisation» (12), «Ratgeber: Allergene im Offenverkauf» (13) und das Allergie-Gütesiegel von aha (14).
Facharzt FMH für Allergologie und Immunologie
Facharzt FMH für Dermatologie
Langjähriger Leiter der Allergiestation am Universitätsspital Zürich
8125 Zollikerberg
bs.wuethrich@bluewin.ch
Der Autor hat in Zusammenhang mit diesem Artikel keine Interessenskonflikte deklariert.
- Die Anaphylaxie ist die schwerste Manifestation einer mastzellabhängigen Sofortreaktion und kann auch tödlich verlaufen
- In den letzten Jahrzehnten ist eine Zunahme lebensbedrohender und sogar letaler allergischen Reaktionen auf Nahrungsmittel zu verzeichnen
- Nahrungsmittel lösen vor allem bei Kindern häufig schwere allergische Reaktionen aus
- Erdnüsse und Nüsse, Soja, Eier, Milch, Fisch, Schalentiere und Sellerie sind die häufigsten Auslöser tödlicher Nahrungsmittelreaktionen
- Die einzige wirksame Therapie einer Nahrungsmittelallergie ist die Eliminationsdiät
- Adrenalin wird von nationalen und internationalen Leitlinien als First-Line-Medikament empfohlen. Jedoch zeigt das Anaphylaxie-Register bei der Analyse der letalen und der schwersten anaphylaktischen Fälle, dass Adrenalin von Patienten unter Real-Life-Bedingungen selten eingesetzt wird
- Der Hausarzt sollte bei der Betreuung seiner Patienten mit schweren allergischen Reaktionen nicht nur ein Notfallset mit einem Adrenalin-Auto-Injektor verschreiben, sondern auch immer wieder auf die Notwendigkeit seiner Benützung bei allergischen Zwischenfällen hinweisen (immer das Notfallset auf sich tragen, Verfall-Datum der Adrenalin-Spritze beachten).
1. Fries JH. Peanuts: allergic and other untowards reactions. Ann Allergy 1982;48:220-226.
2. Evans S, Skea D, Dolovitch J. Fatal reaction to peanut antigen in almond icing, Can Med Assoc J 1988;139:232-233
3. Yunginger JW, Sweeney KG, Sturner WQ, Giannandrea LA. Teigland JD. Fatal food-induced anaphylaxis, J Am Med Ass 1988;260:1450–1452.
4. Sampson HA, Mendelson L, Rosen JP. Fatal and near-fatal anaphylactic reactions to food in children and adolescents, N Engl J Med 1992;327:380–384.
5. Bock AS, Muñoz-Furlong A. Sampson HA. Fatalities due to anaphylactic reactions to foods. J Allergy Clin Immunol 2001;107:191-3
6. Steensma DP: The kiss of death: A severe allergic reaction to a shellfish Induced by a good-night kiss. Mayo Clin Proc. 2003;78:221-2.
7. Wüthrich B. Lethal or life-threatening food anaphylaxis. Notes from the «Lay Press». ACI International 2003;15:175-80.
8. Sheikh A, Alves B. Hospital admission for acute anaphylaxis: time trend study. Br Med J 2000: 320:1441.
9. Jossé S. Interview mit Worm M. Anaphylaxie Register: Wie werden Anaphylaxie Patienten versorgt? 2013: https://www.mein-allergie-portal.com/anaphylaxie/200-anaphylaxie-register-wie-werden-anaphylaxie-patienten-versorgt/all-pages.html
10. Worm M. Das Anaphylaxie-Register: Erkenntnisse für Patienten, Ärzte und Wissenschaft. Allergologie 2017;40:205.
11. Helbling, A; Fricker, M; Bircher, A; Eigenmann, P; Eng, P; Köhli-Wiesner, A; Müllner, G; Pichler, W; Schmid-Grendelmeier, P; Spertini, F. Notfallbehandlung beim allergischen Schock. Swiss Medical Forum 20;1:206-212.
12. Sereina. Allergen- und Deklarationsmanagement in der Gastronomie. https://www.saviva-blog.ch › allergen-und-deklarationsmanagement-in-der…
13. Information im Offenverkauf – BLV. https://www.blv.admin.ch › blv › tagung-lmr-2017 › Offenverkauf-de.
14. Aha Allergiezentrum Schweiz – aha.ch. Zertifizierte Produkte. Das Schweizer Allergie-Gütesiegel: Mehr über die zertifizierten Produkte und Dienstleistungen.
https://www.aha.ch/allergiezentrum-schweiz/leben-mit-allergien
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- Vol. 10
- Ausgabe 2
- Februar 2020