Die Glasknochenkrankheit

Die Glasknochenkrankheit oder Osteogenesis imperfecta (OI) ist eine heterogene Gruppe von klinischen Manifestationen verschiedener genetischer Veränderungen. Im Vordergrund stehen erhöhte Brüchigkeit und Deformierbarkeit von Knochen, aber auch Wachstumsstörungen und extraossäre Veränderungen. Ursächlich liegt bei 90% der Fälle eine autosomal-dominante Mutation in den für die Bildung von Kollagenfibrillen massgebenden Genen COL1A1 / COL1A2 vor. Bisphosphonate sind derzeit die beste medikamentöse Therapieoption für schwerere Formen von OI. Im diesem Artikel kommen die für die Erfassung und Behandlung wesentlichsten Punkte zur Darstellung.

Unter der Diagnose einer Osteogenesis imperfecta wird eine heterogene Gruppe von Phänotypen, verursacht durch Mutationen /Sequenzvarianten in verschiedenen Genen subsumiert, welche sich primär am Skelett manifestieren, aber letztlich generalisierte Bindegewebserkrankung sind. Im Vordergrund steht eine quantitativ und qualitativ verminderte Knochenmasse mit Knochenbrüchigkeit, welche sich durch Neigung zu Frakturen der langen Röhrenknochen und Kompressionsfrakturen der Wirbelkörper ohne adäquate Traumata manifestiert. Dazu gesellen sich Deformierbarkeit der langen Knochen, Rippen und Wirbelsäule sowie Kleinwuchs. Sekundäre Merkmale können Muskelschwäche, überstreckbare Gelenke, dünne Haut mit vermehrter Gefässbrüchigkeit und Blutungsneigung, bläuliche Skleren, Schallleitungs- oder gemischte Schwerhörigkeit, gestörte Zahnbildung mit durchschimmernden Zähnen und Malocclusion, Skoliose, Lungenfunktionsstörungen und Abnormitäten der Herzklappen sein.

Epidemiologie und Pathogenese

Etwa 1 von 10 000 Neugeborenen weist eine mit OI assoziierte genetische Konstellation auf (1–3), was in der Schweiz zu 300–400 Betroffenen führt. Diese Zahl kann in abgeschlossenen Regionen mit einem erhöhten Grad an Blutverwandtschaft höher liegen. Schwere Formen können bereits in der Perinatalperiode zum Tod führen oder präsentieren sich im Kleinkindesalter mit multiplen Frakturen ohne adäquates Trauma. Milde Formen können sich erst im frühen Erwachsenenalter mit einer Osteoporose manifestieren (1, 2, 4).
Kollagen Typ I ist ein wichtiges Strukturprotein für Knochen, Sehnen, Ligamente, Haut und Skleren. Kollagenfasern von Typ I sind Polymere von Tropokollagen-Molekülen, welche aus je zwei ­Alpha-1- und einer Alpha-2-Kette in Trippelhelixform gebildet sind. Den weitaus meisten Fällen von OI liegen autosomal dominante (AD) Defekte der diese Alpha-Ketten codierenden Gene COL1A1 und seltener COL1A2 zugrunde. Sie beeinflussen die Quantität oder Struktur der entsprechenden Typen von Alphaketten und damit direkt der Kollagenfasern Typ I. Nur bei rund 10% der OI sind die Gene COL1A1 und COL1A2 normal (2, 4–6).
Diese kleinere Gruppe von OI basieren auf einer Vielzahl von meistens rezessiven Gendefekten und betreffen einerseits die zelluläre «Maschinerie» der posttranslationalen Bearbeitung der Bestandteile der Kollagenfasern mit Defekten in Aufbau, Reifung, Transport und Sekretion, andererseits aber selten andere an der Bildung und Homöostase von Knochen und Knorpel beteiligte Proteine (1, 2, 4).
Art und Ausmass der Manifestationen von Gendefekten sind sowohl vom exakten Genlocus wie auch von der Art der Mutation abhängig, was die enorme Breite des Spektrums klinischer Manifestationen zu einem grossen Teil erklären kann. Darüber hinaus ist in diesem Zusammenhang die Tatsache bemerkenswert, dass sich die klinischen Manifestationen sogar bei identischen Gendefekten stark unterscheiden können, was darauf hindeutet, dass nicht isolierte Mutationen alleine, sondern vielmehr das Zusammenspiel einer Vielzahl von an der Bildung der Weichteile beteiligten Komponenten von ausschlaggebender Bedeutung ist (2, 4).

Klassifikation, klinische Manifestation und Diagnose

Historisch standen klinische Klassifikationssysteme im Vorder­grund, in den 70er Jahren wurden von Sillence 4 OI-Typen unterschieden (7), welche durch die klinische Symptomatik, radiologische Befunde und Vererbungsmuster charakterisiert waren (Tabelle 1). Die Einteilung nach Sillence wurde im Laufe der Jahre erweitert und mit den Fortschritten der Genetik wurden auch Vorschläge für genetische Klassifikationssysteme publiziert (Tabelle 2) (2, 8). Da im klinischen Alltag die Beurteilung und die therapeutischen Konsequenzen des individuellen Patienten jedoch weiterhin primär auf klinischen Befunden basieren, wird aktuell von vielen Autoren eine Einteilung nach genetisch-funktionellen Gesichtspunkten bevorzugt (6, 8, 9, 38, 39). Dabei repräsentieren die Typen I-IV Fälle mit autosomal-dominanten Mutationen von COL1A1/2 und andere und noch neu zu entdeckende Gendefekte werden weiteren Typennummern zugeordnet. Unter dem Typ I wird eine milde, dem Typ II eine perinatal letale, dem Typ III eine schwere und dem Typ IV eine moderate Verlaufsform subsumiert.

Tabelle 3 fasst die wesentlichen klinischen Manifestationen der OI zusammen (1, 8–11). Während sich die Typen II und höher regelhaft schon im (Klein)Kindesalter manifestieren, können Genträger des Typs I zwar bereits intrauterin und beim ersten Gehen Frakturen erleiden, jedoch das Erwachsenenalter auch unerkannt erreichen. Deformitäten sind geringgradig, die Statur meistens normal. Bei oligosymptomatischen Erwachsenen kann sich die Krankheit postmenopausal in Form einer beschleunigten Osteoporose manifestieren. Auch vorzeitige Hörstörungen ab der zweiten bis vierten Dekade sind typisch. Weitere Kennzeichen können rasche Alterung, Arthrosen und Bandlaxität sein. Bei dieser Form kann es im Verlauf zu einer erhöhten Frakturinzidenz und einem erheblich erniedrigten Knochenmineralgehalt kommen, welcher nach Ausschluss anderer Ursachen diagnostisch in Richtung OI wegweisend sein kann. Dabei kann die Bestimmung mittels DEXA durch Knochendeformitäten, Skoliose, Kleinwuchs, vorbestehende Frakturen oder Osteosynthesematerial erschwert sein.


Die klinische Diagnose basiert auf den erwähnten Symptomen und Zeichen. Bei Individuen mit multiplen Frakturen, einer positiven Familienanamnese und typischen extraossären Manifestationen ist die Diagnose leicht zu stellen, bei Fehlen derselben und geringen und unspezifischen extraossären Zeichen schwierig (1, 8–11). Insbesondere bei älteren Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit einer vorzeitigen, gelegentlich als idiopathisch bezeichneten Osteoporose ist an die Möglichkeit einer OI v. a. des Typs I zu denken. Ein die OI beweisender Labortest ist nicht leicht zugänglich. Wohl können verschiedene Parameter des Knochen- und Mineralstoffwechsels und Marker von Knochenbildung und -abbau pathologisch ausfallen, aber nicht in einem Muster mit adäquater Sensitivität und Spezifität. Pyridinoline im Urin werden als mögliche Biomarker für OI diskutiert (41). Heute werden in Speziallabors molekulargenetische Analysen auf Basis einer «Next-Generation»-Sequenzierung aller bekannter, mit einer OI assoziierten Gene als Gen-Panels angeboten, welche eine rasche Diagnose erlauben (1, 2, 12, 13). Bedingt durch eine Limitatio können Gen-Panel Analysen nur durch Ärzte mit eidgenössischem Weiterbildungstitel «Medizinische Genetik» verordnet werden. Vorgängig sollen Ursachen einer möglichen sekundären Osteoporose immer ausgeschlossen werden und muss ein dringender Verdacht auf eine OI bestehen. Falls dabei Mutationen mit unklarer Funktion entdeckt werden, stehen biochemische Untersuchungen zum Nachweis von Veränderungen der Menge, Struktur und von posttranslationalen Modifikationen von Prokollagen I zur Verfügung, das Ausgangsmaterial wird aus Kulturen von bioptisch entnommenen Fibroblasten gewonnen.
Die Differentialdiagnose umfasst eine Reihe von Zuständen, welche ebenfalls mit einer fragilen Knochenstruktur einhergehen. Erwähnt seien beispielhaft die Rachitis, die Osteomalazie, ein juveniler M. Paget, die seltene AD-vererbte Hypophosphatasie und die idiopathische juvenile Osteoporose. Bei Kindern mit multiplen Frakturen in verschiedenen Heilungsstadien, wie sie bei OI gesehen werden, muss auch an die Möglichkeit einer Kindsmisshandlung gedacht werden und umgekehrt bei Verdacht auf Kindsmisshandlung stets an ein Ehlers-Danlos-Syndrom, ein Vitamin-D-Mangel und eine OI (40).

Genetische Beratung

Bei der Vererbung einer OI muss beachtet werden, dass neben dem klassischen dominanten oder rezessiven Erbgang auch irreguläre Übertragungsmuster aufgrund von Mutationen in der Keimbahn resp. der Gonaden mit Entwicklung eines Mosaiks beobachtet werden können (1, 2, 12, 13). Bei dominantem Erbgang beträgt das Wiederholungsrisiko unter der Voraussetzung, dass ein Elternteil Symptome aufweist 50%, bei rezessivem Erbgang 25% und bei gonadalem Mosaik 5–10%. Eine pränatale genetische Diagnostik stellt erhebliche ethische Probleme für Eltern und involvierte Ärzte dar, zumal die Korrelation zwischen Geno- und Phänotyp ungenügend ist, um eine verbindliche Prognose für das individuelle Kind zu erlauben.

Behandlung

Die Ziele der multidisziplinären Behandlung sind eine Reduktion der Frakturhäufigkeit, Verhinderung von Knochendeformierungen und einer Skoliose, Minimierung chronischer Schmerzen und Maximierung der Mobilität und anderer funktioneller Fähigkeiten (2, 14).
Eckstein der medikamentösen Therapie sind Bisphosphonate bei allen OI-Formen mit erhaltener Knochenmineralisation (1, 2, 5, 15–20). Bisphosphonate hemmen die Knochenresorption und den Knochenumsatz und sind im Rahmen der Behandlung der postmenopausalen Osteoporose etabliert. Wenn sie auch für Frakturprophylaxe bei der OI nicht zugelassen sind, zeigte sich in Beobachtungsstudien und einer kontrollierten Studie bei Kindern nach zyklisch verabreichtem Pamidronat (IV, 3-monatlich), der in diesem Zusammenhang am besten dokumentierten Substanz, eine Zunahme der Knochendichte und eine klinisch relevante Reduktion von Frakturen, ohne dass selbst bei kleinen Kindern relevante Nebenwirkungen wie Störungen von Wachstum oder der Frakturheilung aufgetreten wären (5, 15–18, 21, 22). Die günstigen Effekte scheinen in den ersten zwei bis vier Therapiejahren am ausgeprägtesten zu sein, Informationen über die Langzeitverträglichkeit fehlen.
Ähnliche Befunde liegen auch für andere Bisphosphonate vor, allerdings in geringerer Anzahl von Studien und Fällen. Zoledronat sechs- bis zwölfmonatlich intravenös, Risedronat und Alendronat peroral führen zu einer Erhöhung der Knochendichte, wegen kleinen Fallzahlen kann aber nicht immer eine Reduktion der Frakturhäufigkeit objektiviert werden (17, 22–26). Immerhin konnte in einer Vergleichsstudie zwischen Zoledronat und Alendronat eine tiefere klinische Frakturrate unter Zoledronat nachgewiesen werden (27). Da die Kinder noch im Wachstum sind, verbessert sich auch die Wirbelform; es wurde vor allem auch über weniger Knochenschmerzen, eine bessere Mobilität und bessere Muskelkraft berichtet (2, 28).
Die Indikation zu einer Bisphosphonattherapie ist bei Kindern und Erwachsenen mit OI bei Vorliegen von Wirbelfrakturen und gehäuftem Auftreten nicht-vertebraler Frakturen (2 oder mehr Frakturen pro Jahr) gegeben (Tabelle 4). Bei Erwachsenen kann auch ein stark erhöhtes Frakturrisiko allein eine Indikation darstellen.

Die Therapiedauer ist bei der OI weniger gut definiert als bei anderen Formen der Osteoporose. In der Regel wird eine postmenopausale Osteoporose während 3–5 Jahren mit einem Bisphosphonat behandelt (29). Der Grund, weshalb man nicht unbedingt eine Dauertherapie durchführt, ist, dass die Bisphosphonate, die sich ja an den Knochen binden und dort über viele Jahre verweilen, auch nach Absetzen der Behandlung eine Nachwirkung haben. Ein weiterer Grund, dass man heute allenfalls eine Behandlungspause durchführt und dann den Verlauf beobachtet und erst bei einer Verschlechterung der Situation einen erneuten Behandlungszyklus startet, ist, dass man gesehen hat, dass bei Langzeitbehandlungen so genannte atypische Frakturen (Oberschenkelknochen) auftreten und gleichzeitig auch ein gewisses Risiko für eine Osteonekrose des Kieferknochens besteht. Bei der OI wie auch bei den anderen Formen der Osteoporose muss der behandelnde Arzt zusammen mit dem Betroffenen im Einzelnen entscheiden, wie lange die Behandlung durchgeführt werden soll.
Da die Kinder sich im Wachstum befinden und damit der gesamte Knochenumbau deutlich höher ist als bei Erwachsenen, kann man die Therapiedauer nicht einfach in Analogie zu den Erwachsenen festlegen. In Anbetracht der Tatsache, dass die Knochenstoffwechselaktivität bei wachsenden Kindern deutlich höher ist als bei Erwachsenen, kommt bei ihnen oft ein kürzeres Dosierungsintervall zur Anwendung. Für die Dosierung bei Kindern stehen in den behandelnden Institutionen spezielle Dosierungsschemata zur Verfügung.
Die Bisphosphonate werden in der Regel zyklisch verabreicht. Im Wachstum ist deshalb der nach der Gabe des Bisphosphonats neu gebildete Knochen nicht oder nur wenig durch das Bisphosphonat beeinflusst und dies ist auch im Röntgenbild sichtbar, indem man Verdichtungslinien sieht (Abbildung 1). Es gibt nun Hinweise, dass der neu gebildete Knochen zwischen dem Bisphosphonat-exponierten Knochen etwas weniger widerstandsfähig ist und es damit bei zu langen Intervallen oder nach Absetzen der Bisphosphonatbehandlung in diesem Bereich vermehrt zu Frakturen kommen könnte (11, 30, 31). Dies hat dazu geführt, dass man neuerdings bei Kindern keine längere Therapiepause vornimmt, sondern die Behandlung weiterführt, aber bei gutem Ansprechen auf die Behandlung die Dosis des Bisphosphonats reduziert. Es ist zum heutigen Zeitpunkt nicht ganz klar, wie lange man dies so weiterführen soll, es scheint aber Sinn zu machen es weiterzuführen, bis die Epiphysenfugen (Wachstumsfugen) geschlossen sind.

Es gibt nun erste Untersuchungen bei einigen OI-Patienten mit Behandlung durch Denosumab. Die ersten Studien beim OI-Typ 6, bei welchem der RANKL eine Rolle spielt, zeigt, dass dieser Typ auf diese Behandlung anspricht (33–35), allerdings ist die Unterdrückung von Osteoklasten von kürzerer Dauer, als bei Individuen mit Osteoporose (35, 36). Im Gegensatz dazu gilt, dass dieser OI-Typ weniger gut auf eine Bisphosphonatbehandlung anspricht als die anderen Typen. Es gibt aber auch neuere Daten, die zeigen, dass das Denosumab auch bei den anderen Typen der OI wirksam scheint (33, 37). Es sind aber noch weitere Studien notwendig, um den Einsatz von Denosumab bei der OI zu evaluieren.
In Analogie zur Behandlung der Osteoporose bei Erwachsenen ist eine begleitende Behandlung mit Calcium und Vitamin D immer empfohlen, ohne dass diese Empfehlung durch spezifische Studien belegt wäre.
Das orthopädische Management von Frakturen der unteren und oberen Extremität sowie der Wirbelsäule gehört in die Hände von Spezialisten. Allgemein gilt, dass Frakturen bei Kleinstkindern primär konservativ behandelt werden, sobald Kinder jedoch zu stehen und gehen beginnen, wird die Stabilisierung der tragenden Knochen und im späteren Leben auch der langen Knochen der Arme mittels Marknagelung zu diskutieren sein. Schrauben- und Platten-osteosynthesen gelten als obsolet, da sie zu gehäuften Frakturen im oberen und unteren Randbereich führen können. Alle chirurgischen Massnahmen müssen von Rehabilitation vor und nach Operation sowie medikamentöser Therapie begleitet werden (Tabelle 5).

Dr. med. Hans-Kaspar Schulthess

Facharzt FMF Innere Medizin und Gastroenterologie
Neuhausstrasse 18
8044 Zürich

Schulthess_hk@swissonline.ch

Prof. Dr. med. Christian Meier

Klinik für Endokrinologie, Diabetologie und Metabolismus
Universitätsspital Basel
Endonet Praxis und Osteologisches Universitätsforschungszentrum DVO
Aeschenvorstadt 57
4051 Basel

christian.meier@unibas.ch

Prof. em. Dr. med. Marius Kränzlin

Speziallabor Hormone und Knochenstoffwechsel
Aeschenvorstadt 57
4051 Basel

marius.kraenzlin@unibas.ch

Die Autoren haben keine Interessenskonflikte im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.

  • Unter die Diagnose einer Osteogenesis imperfecta wird eine Vielzahl von Manifestationen verschiedener genetischer Veränderungen subsummiert, welche mit einer Störung der Qualität und Quantität von Komponenten des Knochen- und Bindegewebes einhergehen
  • Klinisch sind die Neigung zu spontanen Frakturen und Deformierungen am eindrücklichsten, Veränderungen der Weichteile können aber zu erheblichen und vitalen Störungen verschiedenster Organsysteme führen
  • Die Diagnose wird durch eine Kombination von anamnestischen Angaben auch bezüglich Familiengeschichte, klinischen und radiologischen Befunden und genetischen Abklärungen gestellt
  • Die umfassende Betreuung von OI-Patienten ist komplex und gehört wegen der relativen Seltenheit in die Hände von interdisziplinären Gruppen mit spezifischer Erfahrung

1 Bonafe L, Giunta C, Hasler CC, Janner M, Kraenzlin ME, Link B et al. Osteogenesis imperfecta: Klnik, Diagnose und Management vom Kindes- bis Erwachsenenalter. Schweiz Med Forum 2013; 13(46):925-931.
2 Marini JC, Forlino A, Bachinger HP, Bishop NJ, Byers PH, Paepe A et al. Osteogenesis imperfecta. Nat Rev Dis Primers 2017; 3:17052.
3 Martin E, Shapiro JR. Osteogenesis imperfecta:epidemiology and pathophysiology. Curr Osteoporos Rep 2007; 5(3):91-97.
4 Forlino A, Marini JC. Osteogenesis imperfecta. Lancet 2016; 387(10028):1657-1671.
5 Rauch F, Glorieux FH. Osteogenesis imperfecta. Lancet 2004; 363(9418):1377-1385.
6 Bonafe L, Cormier-Daire V, Hall C, Lachman R, Mortier G, Mundlos S et al. Nosology and classification of genetic skeletal disorders: 2015 revision. Am J Med Genet A 2015; 167A(12):2869-2892.
7 Sillence DO, Senn A, Danks DM. Genetic heterogeneity in osterogenesis imperfecta. J Med Genet 1979;(16):-101.
8 Bregou BA, Aubry-Rozier B, Bonafe L, Laurent-Applegate L, Pioletti DP, Zambelli PY. Osteogenesis imperfecta: from diagnosis and multidisciplinary treatment to future perspectives. Swiss Med Wkly 2016; 146:w14322.
9 van Dijk FS, Sillence DO. Osteogenesis imperfecta: clinical diagnosis, nomenclature and severity assessment. Am J Med Genet A 2014; 164A(6):1470-1481.
10 Rohrbach M, Giunta C. Recessive osteogenesis imperfecta: clinical, radiological, and molecular findings. Am J Med Genet C Semin Med Genet 2012; 160C(3):175-189.
11 Cundy T. Recent advances in osteogenesis imperfecta. Calcif Tissue Int 2012; 90(6):439-449.
12 van Dijk FS, Byers PH, Dalgleish R, Malfait F, Maugeri A, Rohrbach M et al. EMQN best practice guidelines for the laboratory diagnosis of osteogenesis imperfecta. Eur J Hum Genet 2012; 20(1):11-19.
13 van Dijk FS, Dalgleish R, Malfait F, Maugeri A, Rusinska A, Semler O et al. Clinical utility gene card for: osteogenesis imperfecta. Eur J Hum Genet 2013; 21(6).
14 Marr C, Seasman A, Bishop N. Managing the patient with osteogenesis imperfecta: a multidisciplinary approach. J Multidiscip Healthc 2017; 10:145-155.
15 Rauch F, Travers R, Plotkin H, and Glorieux FH. The effects of intravenous pamidronate an the bone tissue of children and adolescents with osteogenesis imprefecta. J Clin Invest 2003; 110:1293-1299.
16 Phillipi CA, Remmington T, Steiner RD. Bisphosphonate therapy for osteogenesis imperfecta. Cochrane Database Syst Rev 2008;(4):CD005088.
17 Palomo T, Fassier F, Ouellet J, Sato A, Montpetit K, Glorieux FH et al. Intravenous Bisphosphonate Therapy of Young Children With Osteogenesis Imperfecta: Skeletal Findings During Follow Up Throughout the Growing Years. J Bone Miner Res 2015; 30(12):2150-2157.
18 Dwan K, Phillipi CA, Steiner RD, Basel D. Bisphosphonate therapy for osteogenesis imperfecta. Cochrane Database Syst Rev 2016; 10:CD005088.
19 Gatti D, Antoniazzi F, Prizzi R, Braga V, Rossini M, Tato L et al. Intravenous neridronate in children with osteogenesis imperfecta: a randomized controlled study. J Bone Miner Res 2005; 20(5):758-763.
20 Shi CG, Zhang Y, Yuan W. Efficacy of Bisphosphonates on Bone Mineral Density and Fracture Rate in Patients With Osteogenesis Imperfecta: A Systematic Review and Meta-analysis. Am J Ther 2016; 23(3):e894-e904.
21 Rijks EB, Bongers BC, Vlemmix MJ, Boot AM, van Dijk AT, Sakkers RJ et al. Efficacy and Safety of Bisphosphonate Therapy in Children with Osteogenesis Imperfecta: A Systematic Review. Horm Res Paediatr 2015; 84(1):26-42.
22 Lindahl K, Kindmark A, Rubin CJ, Malmgren B, Grigelioniene G, Soderhall S et al. Decreased fracture rate, pharmacogenetics and BMD response in 79 Swedish children with osteogenesis imperfecta types I, III and IV treated with Pamidronate. Bone 2016; 87:11-18.
23 Anam EA, Rauch F, Glorieux FH, Fassier F, Hamdy R. Osteotomy Healing in Children With Osteogenesis Imperfecta Receiving Bisphosphonate Treatment. J Bone Miner Res 2015; 30(8):1362-1368.
24 Bishop N, Adami S, Ahmed SF, Anton J, Arundel P, Burren CP et al. Risedronate in children with osteogenesis imperfecta: a randomised, double-blind, placebo-controlled trial. Lancet 2013; 382(9902):1424-1432.
25 Kumar C, Panigrahi I, Somasekhara AA, Meena BL, Khandelwal N. Zoledronate for Osteogenesis imperfecta: evaluation of safety profile in children. J Pediatr Endocrinol Metab 2016; 29(8):947-952.
26 Idolazzi L, Fassio A, Viapiana O, Rossini M, Adami G, Bertoldo F et al. Treatment with neridronate in children and adolescents with osteogenesis imperfecta: Data from open-label, not controlled, three-year Italian study. Bone 2017; 103:144-149.
27 Lv F, Liu Y, Xu X, Song Y, Li L, Jiang Y et al. ZOLEDRONIC ACID VERSUS ALENDRONATE IN THE TREATMENT OF CHILDREN WITH OSTEOGENESIS IMPERFECTA: A 2-YEAR CLINICAL STUDY. Endocr Pract 2018; 24(2):179-188.
28 Rauch F, Plotkin H, Travers R, Zeitlin L, and Glorieux FH. Osteogenesis Imperfecta Types 1, 3 and 4: Effect of Pamidronate Therapy on Bone and Mineral Metabolism. The Journal of Clinical Endocrinology & Metabolism 2003; 88:986-992.
29 Meier C, Uebelhart B, Aubry-Rozier B, Birkhauser M, Bischoff-Ferrari HA, Frey D et al. Osteoporosis drug treatment: duration and management after discontinuation. A position statement from the SVGO/ASCO. Swiss Med Wkly 2017; 147:w14484.
30 Biggin A, Zheng L, Briody JN, Coorey CP, Munns CF. The long-term effects of switching from active intravenous bisphosphonate treatment to low-dose maintenance therapy in children with osteogenesis imperfecta. Horm Res Paediatr 2015; 83(3):183-189.
31 Biggin A, Briody JN, Ormshaw E, Wong KK, Bennetts BH, Munns CF. Fracture during intravenous bisphosphonate treatment in a child with osteogenesis imperfecta: an argument for a more frequent, low-dose treatment regimen. Horm Res Paediatr 2014; 81(3):204-210.
32 Rauch F, Munns C, Land C, Glorieux FH. Pamidronate in children and adolescents with osteogenesis imperfecta: effect of treatment discontinuation. J Clin Endocrinol Metab 2006; 91(4):1268-1274.
33 Hoyer-Kuhn H, Franklin J, Allo G, Kron M, Netzer C, Eysel P et al. Safety and efficacy of denosumab in children with osteogenesis imperfecta – a first prospective trial. J Musculoskelet Neuronal Interact 2016; 16(1):24-32.
34 Hoyer-Kuhn H, Semler O, Schoenau E. Effect of denosumab on the growing skeleton in osteogenesis imperfecta. J Clin Endocrinol Metab 2014; 99(11):3954-3955.
35 Li G, Jin Y, Levine MAH, Hoyer-Kuhn H, Ward L, Adachi JD. Systematic review of the effect of denosumab on children with osteogenesis imperfecta showed inconsistent findings. Acta Paediatr 2018; 107(3):534-537.
36 Ward L, Bardai G, Moffatt P, Al-Jallad H, Trejo P, Glorieux FH et al. Osteogenesis Imperfecta Type VI in Individuals from Northern Canada. Calcif Tissue Int 2016; 98(6):566-572.
37 Hoyer-Kuhn H, Stark C, Franklin J, Schoenau E, Semler O. Correlation of Bone Mineral Density on Quality of Life in Patients with Osteogenesis Imperfecta during Treatment with Denosumab. Pediatr Endocrinol Rev 2017; 15(Suppl 1):123-129.
38 Mrosk J, Bhavani GS, Shah H, Hecht J, Krüger U et al. Diagnostic strategies and genotype-phenotype correlation in a large Indian cohort of osteogenesis imperfecta. Bone. 2018 May;110:368-377.
39 Palomo T, Vilaça T, Lazaretti-Castro M. Osteogenesis imperfecta: diagnosis and treatment. Curr Opin Endocrinol Diabetes Obes. 2017 Dec;24:381-388.
40 Holick MF, Hossein-Nezhad A, Tabatabaei F. Multiple fractures in infants who have Ehlers-Danlos/hypermobility syndrome and or vitamin D deficiency: A case series of 72 infants whose parents were accused of child abuse and neglect. Dermatoendocrinol. 2017 Feb 16;9:e1279768.
41 Lindert U et al. Urinary pyridinoline cross-links as biomarkers of osteogenesis imperfecta. Orphanet J Rare Dis. 2015; 10: 104.

Hämorrhoidalleiden

Hämorrhoiden hat Jeder! Unglücklicherweise wurde das Wort «Hämorrhoide» für Laien und Ärzte ein Synonym für jede Veränderung am After. Eine Hämorrhoide ist definiert als der Vorfall eines varikös veränderten Gefässkissens des distalen Rektums in den Analkanal oder vor den After.
Epidemiologische Studien fehlen, insbesondere Langzeitbeobachtung vom Patienten mit gesicherten Hämorrhoiden. Nach dermatologischer Schätzung erkranken etwa 30 % der mitteleuropäischen Bevölkerung ein- oder mehrmalig an sogenannten Hämorrhoidalleiden (1).

Nach englischer, amerikanischer und schweizerischer Terminologie gibt es innere Hämorrhoiden, welche proximal der Linea dentata liegen und von nicht sensiblem Zylinderepithel der Rektumschleimhaut bedeckt sind und äussere Hämorrhoiden, welche distal der Linea dentata liegen und von hochsensiblem Plattenepithel des Anoderms und der Analhaut bedeckt sind.
Die inneren Hämorrhoiden werden in 4 Grade eingeteilt, entsprechend des Ausmasses des Vorfalls der Gefässkissen in den Analkanal oder vor den After (Tabelle 1).
Die Stadiengrade der Hämorrhoiden werden leider sehr unterschiedlich definiert, was im Vergleich von Studienergebnissen von grossem Nachteil ist. Wie beziehen uns auf die aktuelle Leitlinie der American Society of Colon and Rectal Surgeons (2).

Ursachen

Es gibt kein gesichertes Wissen zur Ätiologie, Pathogenese und Risikofaktoren von Hämorrhoiden. So wird z. B. behauptet, dass mit zunehmendem Alter – gefördert durch harten Stuhlgang – die submukösen Gefässkissen aus ihrer Fixation gelöst, nach distal abgedrängt und so zu einer Hämorrhoide führen könnten. Unklar bleibt bei einer solchen Annahme jedoch, warum sich bei Personen unter 30 Jahren Hämorrhoiden finden.

Symptome

Als Kardinalsymptom von Hämorrhoiden gelten perianale Blutungen und Schleimhautvorfall. Bei einer Risikokonstellation und einem Alter von > 50 sowie einer Familienvorgeschichte erstgradiger Verwandten mit Kolonkarzinom oder Kolonadenomen zwischen 40 und 50 wird eine komplette Koloskopie vor Therapie der Hämorrhoiden empfohlen. Schmerzen, Juckreiz und Wundsein können von der prolabierten, asensiblen Rektumschleimhaut, aber auch durch anatomische Gegebenheiten von sekundären Läsionen am höchstsensiblen Plattenepithel der Analhaut ausgehen. Schmerzen, Brennen, Stechen, Jucken und Wundsein sind keine hämorrhoidentypische Symptome (3).

Diagnose

Entscheidend für die Diagnose «Hämorrhoide» ist neben Anamnese und körperlicher Befund der anale Inspektionsbefund sowie die Proktoskopie des Analkanales. Bei Nachweis einer hellrot glänzenden Schleimhaut des Rektums partiell oder zirkulär vor dem After ist die Diagnose Hämorrhoide eindeutig ! Die genaue Untersuchungsposition ist anzugeben. Mögliche Positionen sind z. B. stehende, nach vorne übergebeugte Patienten oder Patienten in Seiten-, Bauch-, Rücken-, Knie-/ Ellenbogen, Kopftief-, bzw. Beckentieflage (4). Uneindeutig ist die Angabe der Hämorrhoidallokalisation mit den Angaben 3, 7 und 11 Uhr in Steinschnittlage. Wir empfehlen daher bei medizinischen Lokalisationsangaben immer vom Patienten auszugehen und dies wie folgt anzugeben z. B.: «anterior», d. h. zum Damm, bzw. zum Skrotalansatz hin oder «posterior» in Richtung Steissbein. Seitliche Lokalisationen können mit links- oder rechtslateral oder mit rechts antero-lateral, bzw. links postero-lateral angegeben werden. International sind diese Lokalisationsangaben üblich.

Differentialdiagnose

Neben den Hämorrhoiden kommen Veränderungen am After mit ähnlicher oder gleichartiger Symptomatik in Frage, wie z. B. ein Analekzem, Marisken, hypertrophe Analpapillen oder eine Analfissur. Ein Schmerz im After lässt eher an einen Abszess, eine Analthrombose oder eine Analfissur als an Hämorrhoiden denken. Die Veränderungen werden vom Patienten gespürt oder getastet, anale Veränderungen gerne als Hämorrhoiden verwechselt ! Selten führen Blutungen aus prolabierten, vor dem After liegenden Hämorrhoiden zu diagnostischen Schwierigkeiten. Wenn zirkulär die gesamte Rektumwand vor dem After sichtbar wird, liegt ein sogenannter Rektumprolaps vor. Der Verdacht kann für den Betroffenen allerdings eine unangenehme Situation bedeuten.

Therapie

Je mehr Behandlungspotential besteht, so unwahrscheinlicher führt eine Methode wirklich zu einem Erfolg. Die konservative Therapie basiert auf der Vorstellung, dass mit Vermeidung von Obstipation und Diarrhoen durch eine höhere Trinkmenge und mit Ballaststoff-reicher Ernährung eine effektive Therapie erzielbar sei, wobei der Wirkungseintritt bis zu 6 Wochen dauern kann (5). In einer Cochrane Metaanalyse konnte allerdings nur eine geringe Bedeutung von Laxantien gesehen werden (6). Zäpfchen und Salben haben nur einen geringen Vorteil bei Pruritus, aber nicht bei Schmerzen und sind daher nicht mehr als ein Plazebo-Effekt mit dem Nachteil, bleibende Schäden an der analen und perianalen Haut auszulösen (7). Venentherapeutika (sog. Phlebotonics) sind eine heterogene Medikamentengruppe, bestehend aus Pflanzenextrakten (z.B. Flavonoide) und synthetischen Bestandteilen (z. B. Kalzium-Dobesilat). Obwohl ihr genauer Wirkmechanismus noch nicht vollständig untersucht ist, gibt es Hinweise, dass sie den venösen Tonus verbessern, die Permeabilität der Kapillaren stabilisieren und die Lymphdrainage verstärken. Die o.g. Cochrane Analyse mit 24 gut charakterisierten Studien legt nahe, dass Phlebotonica einen potentiellen Nutzen in der Verbesserung der Symptome wie Blutung, Pruritus und Nässen und auch mit einem positiven Effekt zur Linderung von Symptomen insbesondere nach operativen Eingriffen wie z.B. einer Hämorrhoidektomie haben (7). Diese Metaanalyse hat erhebliche methodologische Einschränkungen wie z.B., dass nie mehr als 2 Studien vorlagen, die das gleiche Phlebotonicum bei gleicher Indikation und gleicher Kontrollgruppe verglich. Es ist daher festzuhalten, dass auf Grund der Heterogenität der Studien keine eindeutige Empfehlung für ein bestimmtes Produkt oder eine bestimmte Verordnungsweise gegeben werden kann (8).
Zu den konservativen Therapien wird auch die Hämorrhoidalsklerosierung gezählt, welche zumeist mit Polidocanol (Aethoxysklerol 3%) bei Hämorrhoidalleiden I. und II. Grades eingesetzt wird. Die Komplikationsrate ist gering < 1%, die Rezidivquote nach 3 Jahren mit bis zu 80 % jedoch hoch (9). Die Doppler-gesteuerte Ligatur von Hämorrhoidal-Arterien mit einem Spezialproktoskop, das einen Doppler-Transducer enthält, als relativ neue Behandlungsform war in einer im Lancet publizierten randomisierten Studie bei 370 Patienten mit Hämorrhoiden im Stadium II oder III (10) deutlich häufiger erfolgreich (30 % vs. 49 % Rezidive nach 1 Jahr) als eine Gummiringligatur, aber auch deutlich schmerzhafter. Zusätzlich kann auch noch die Schleimhaut oberhalb des Hämorrhoidalkonvoluts chirurgisch mit Z-Nähten gerafft werden, um dieses wieder an ihre ursprüngliche Position zu bringen (Rectoanal Repair).
Die Kryochirurgie, die Lasertherapie, die bipolare Diathermie und die direkte Elektrokonversion haben nach dem Einzug der Gummibandligatur nahezu vollständig an Bedeutung verloren, wobei hingegen die Infrarotkoagulation eine gewisse Renaissance erfährt bei einer Symptomkontrolle bei Hämorrhoiden II. und III. Grades von immerhin noch 81% nach 6 Monaten (11).
Die Gummibandligatur ist die häufigste verwendete und effektivste Behandlungsmethode für Hämorrhoiden I. bis III. Grades. Der Vorteil ist, dass sie sich schnell und einfach durchführen lässt, es entsteht ein flaches Ulkus oberhalb des hämorrhoidalen Gewebes nach jeder Bandligatur. Die Wunde heilt und es resultiert eine Fibrose. Die Risiken der Bandligaturen sind als gering zu bezeichnen. Der Gummiring wird dabei proximal (!) der zu identifizierenden Linea dentata (erkennbar am Farbumschlag rot glänzend nach hell-stumpf, sowie gezähnte, helle Linien der Papillen) platziert, so dass die Prozedur ohne den geringsten Schmerz abläuft. Gelegentlich ist die sichere Feststellung der Linea dentata aus patho-anatomischen Gründen schwierig. Hier kann man die Ligatur zunächst setzen und abwarten, ob der Patient über einen plötzlichen, heftigen Schmerz klagt. Sollte dies der Fall sein, schneidet man die Ligatur mit einer feinen Schere durch, um die eingeschnürte Haut freizugeben.
Auch bei einer aktiven Blutung aus prolabierter Rektumschleimhaut hat sich das Verfahren der Gummibandligatur bewährt.

Operative Behandlung von Hämorrhoiden

Sofern die konservativen Massnahmen in der Behandlung der Hämorrhoiden versagen, ist die chirurgische Intervention der nächste therapeutische Schritt.
Während bei prolabierenden Hämorrhoiden Grad III und IV die chirurgische Therapie eindeutig ist, kann dies auch schon bei Hämorrhoiden Grad II nötig sein, sofern sie z. B. persistierend bluten. Aus diesem Grund kann heute auch nicht ein starres chirurgisches Therapiekonzept an Hand der Gradeinteilung proklamiert werden.
In der chirurgischen Therapie können grundsätzlich zwei Eingriffstypen unterschieden werden. Einerseits das resezierende Verfahren, wobei hiermit die klassischen Hämorrhoidektomien nach Ferguson und Milligan Morgan gemeint sind. Dabei wird der Hämorrhoidalkörper reseziert und die Schleimhaut entweder vernäht oder offen gelassen, welche dann sekundär verheilt. Da diese Eingriffe das Anoderm betreffen, sind diese Verfahren mit grösseren Schmerzen und längerer Rekonvaleszenz für die Patienten verbunden (12).
Im Gegensatz dazu stehen die Hämorrhoiden erhaltenden Verfahren wie die Mukosektomie nach Longo (13), die dopplergesteuerte Hämorrhoidalarterienligatur mit Rectoanal Repair oder die Rafaelo Technik mit Radio Frequenz Ablation (2). All diesen Techniken ist gemeinsam, dass die jeweilig pathologisch vergrösserten Hämorrhoidalknoten wieder an ihren ursprünglichen Ort zurückgebracht werden, um weiterhin ihre Funktion, die Erhaltung der Feinkontinenz, zu erfüllen. Bei der Technik nach Longo wird mittels eines Zirkularstaplers oberhalb der Hämorrhoidalbasis ein Schleimhautstreifen reseziert. Dadurch werden die Hämorrhoidalpolster wieder an Ihren ursprünglichen Platz hochgezogen und gleichzeitig führt die entsprechende Klammernahtreihe zu einer arteriellen Minderdurchblutung der Hämorrhoidalpolster, was zu einer Schrumpfung derselben führt (Abb. 1a-d: Operationstechnik nach Longo).

Bei der Hämorrhoidalarterienligatur wird mit einem Spezialproktoskop, in das ein Dopplertransducer eingebaut ist, die zuführende Hämorrhoidalarterie lokalisiert und gezielt ligiert. Dies führt innerhalb kurzer Zeit zu einer Schrumpfung des Hämorrhoidalkonvoluts und verbessert somit die durch die ursprüngliche Volumenvermehrung entstandenen Beschwerden.
Für die Radiofrequenzablation (Rafaelo-Technik) wird der betreffende Hämorrhoidalknoten entweder in Narkose oder Lokalanästhesie mit Lokalanästhesie unterspritzt, um ihn vom M. sphincter ani internus abzuheben. In einem nächsten Schritt wird der Hämorrhoidalknoten mit einer Radiofrequenz Sonde punktiert und erhitzt (14). Dadurch werden die arterio-venösen Geflechte koaguliert und der Hämorrhoidalknoten schrumpft (Abb. 2a-d).

Entscheidend ist, dass der behandelnde Operateur über das entsprechende Armamentarium verfügt, um die jeweilige Technik optimal einsetzen zu können (15). Auch wenn man häufig bei der gastroenterologischen oder chirurgischen Behandlung von Hämorrhoidalleiden von Bagatelleingriffen spricht, sollten diese, um mögliche Komplikationen zu vermeiden, dem ausgebildeten Spezialisten mit den nötigen Fallzahlen überlassen werden.

PD Dr. med. Matthias Breidert

Abteilung Gastroenterologie / Hepatologie
Medizinische Klinik
Stadtspital Waid
Tièchestrasse 99
8037 Zürich

matthias.breidert@waid.zuerich.ch

Dr. med. Peter Sandera

FMH Viszeralchirurgie
EBSQ Coloproctology
Stadtspital Triemli
Birmensdorferstrasse 497
8063 Zürich

peter.sandera@triemli.zuerich.ch

Die Autoren haben keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.

  • Die Einteilung der Hämorrhoiden erfolgt international in den Graden I. bis IV.
  • Die Diagnostik beinhaltet immer Anamnese, Untersuchung und Proktoskopie.
  • Eine Therapie erfolgt nur bei Hämorrhoidalleiden.
  • Phlebotonica können Symptome lindern, nicht aber die Ursache des Hämorrhoidalleidens behandeln. Eine Reduktion der vergrösserten Hämorrhoidalpolster verlangt stets eine Intervention.
  • Hämorrhoiden I. Grades können mittels Sklerosierungstherapie oder Gummiligatur-Behandlung behandelt werden. Hämorrhoiden II. Grades sollten mittels Gummiband-Behandlung therapiert werden, Hämorrhoiden III. Grades stellen eine Indikation zur Operation dar.
  • Hämorrhoiden III. Grades mit zirkulärem Befall sind eine Indikation für die chirurgische Hämorrhoidopexie mit dem Zirkularstapler. Patienten mit Hämorrhoiden III. Grades, die nicht operiert werden können, dürfen mit Gummiligaturen bzw. Doppler gesteuerter Ligatur behandelt werden. Der Stellenwert der RFA Behandlung (Rafaelo) ist noch unklar.
  • Hämorrhoiden IV. Grades sind eine Indikation für ein plastisch rekonstruktives Verfahren.
  • Bei einer Risikokonstellation und einem Alter von < 50 sowie einer Familienvorgeschichte erstgradiger Verwandten mit Kolonkarzinom oder Kolonadenomen zwischen 40 und 50 und bei allen > 50 wird eine komplette Koloskopie vor Therapie der Hämorrhoiden empfohlen.

1. Ganz RA. The evaluation and treatment of hemorrhoids: a guide for the gastroenterologist (2013). Clin Gastroenterol Hepatol 11:593-603
2. Davis BR, Lee-Kong SA, Migaly J, Feingold DL, Steele SR (2018). The American Society of Colon and Rectal Surgeons Clinical Practice Guidelines for the Management of Hemorrhoids. Dis Colon Rectum 61:284-292
3. Rhode H. Lehratlas der Proktologie (2007). Georg Thieme Verlag
4. Wald A, Bharucha AE, Cosman BC, Whitehead WE (2014). ACG Clinical Guideline: management of benign anocrectal disorders. Am J Gastroenterol 109:1141-57
5. Alonso-Coello P, Guyatt G, Heels-Ansdell D, Johanson JF, Lopez-Yarto M, Mills E, Zhou Q (2005). Laxatives for the treatment of hemorrhoids.Cochrane Database Syst Rev 19:CD004649
6. Alonso-Coello P, Mills E, Heels-Ansdell D, López-Yarto M, Zhou Q, Johanson JF, Guyatt G (2006).Fiber for the treatment of hemorrhoids complications: a systematic review and meta-analysis. Am J Gastroenterol 101:181-8
7. Perera N, Liolitsa D, Iype S, Croxford A, Yassin M, Lang P, Ukaegbu O, van Issum C (2012). Phlebotonics for haemorrhoids. Cochrane Database Syst Rev. 2012 15:CD004322
8. Oetting P. Venentherapeutika (Phlebotonics) zur Therapie bei Hämorrhoiden. Coloproctology 2013 35: 393-394
9. Yano T, Yano K (2015). Comparison of Injection Sclerotherapy Between 5% Phenol in Almond Oil and Aluminum Potassium Sulfate and Tannic Acid for Grade 3 Hemorrhoids. Ann Coloproctol 31:103-5
10. Brown SR, Tiernan JP, Watson AJM, Biggs K, Shephard N, Wailoo AJ, Bradburn M, Alshreef A, Hind D and the HubBLe Study team (2016).Haemorrhoidal artery ligation versus rubber band ligation for the management of symptomatic second-degree and third-degree haemorrhoids (HubBLe): a multicentre, open-label, randomised controlled trial. Lancet 23;388(10042):356-364. doi: 10.1016/S0140-6736(16)30584-0. Epub 2016 May 25. Erratum in: Lancet. 2016 Jul 23;388(10042):342
11. Ahmad A, Kant R, Gupta A (2013). Comparative Analysis of Doppler Guided Hemorrhoidal Artery Ligation (DG-HAL) & Infrared Coagulation (IRC) in Management of Hemorrhoids. Indian J Surg 75:274-7
12. Bhatti MI, Sajid MS, Baig MK (2016). Milligan-Morgan (Open) Versus Ferguson Haemorrhoidectomy (Closed): A Systematic Review and Meta-Analysis of Published Randomized, Controlled Trials. World J Surg 40(6):1509-19
13. Aytac E, Gorgun E, Erem HH, Abbas MA, Hull TL, Remzi FH (2015). Long-term outcomes after circular stapled hemorrhoidopexy versus Ferguson hemorrhoidectomy. Tech Coloproctol.19 :653-8
14. Tolksdorf S, Schäfer H, Vivaldi C (2016). Radiofrequenzablation (RFA) von Hämorrhoiden Grad III in Lokalanästhesie – erste Ergebnisse eines neuen Therapieverfahrens. Z Gastroenterol 54 – KV003. DOI: 10.1055/s-0036-1586782
15. Zindel J, Inglin R, Brügger L (2014) Necessary and unnecessary treatment options for hemorrhoids. Ther Umsch. 271:737-51

Die Schilddrüse

Die Schilddrüsenfunktion verändert sich in der Schwangerschaft. Da die fetale Schilddrüse erst zur Mitte der Schwangerschaft voll funktionsfähig ist, sind wichtige Stadien der intrauterinen Gehirnentwicklung von der maternalen Schilddrüsenversorgung abhängig. Deshalb steht eine Dysregulation der Schilddrüse in der Schwangerschaft mit mannigfaltigen Komplikationen für Mutter und Kind in Zusammenhang. Im folgenden Artikel werden wichtige Punkte bezüglich Pathophysiologie, Diagnostik und Therapie beleuchtet.

Die Schilddrüsenfunktion verändert sich in der Schwangerschaft. Die Schilddrüsenhormone und ihre Bindungsproteine steigen mit höher werdendem Estradiol an. Zum Ende des ersten Trimenons verläuft das TSH spiegelbildlich zum HCG. Erst zur Mitte der Schwangerschaft ist die fetale Schilddrüse voll funktionsfähig. Wichtige Stadien der intrauterinen Gehirnentwicklung sind demnach von der maternalen Schilddrüsenversorgung abhängig. Eine Dysregulation der Schilddrüse in der Schwangerschaft wird mit mannigfaltigen Komplikationen für Mutter und Kind in Zusammenhang gebracht. Daher ist schon präkonzeptionell und während der Schwangerschaft eine gute Einstellung der Schilddrüse wichtig.
Eine overte Hypo- oder Hyperthyreose ist immer zu behandeln.
In welcher Situation, mit welchem Benefit und mit welcher Evidenz eine subklinische Hypothyreose behandelt werden sollte, wird meist kontrovers diskutiert. Daher wird im Folgenden hauptsächlich auf diese Entität eingegangen.
In der Vergangenheit wurde vielfach gefordert, auch die normale Schilddrüsenfunktion mit einem TSH > 2.5 mIU/l zu behandeln. Der Artikel soll zeigen, dass dies unnötig ist und dadurch weniger Frauen als krank gekennzeichnet werden.

Definitionen

Subklinische Hypothyreose
TSH oberhalb des oberen Referenzbereiches (> 4,2 mIU/l); T3 und T4 (fT4) normal
Overte Hypothyreose
TSH oberhalb und T3 oder T4 unterhalb der Referenz
Einige Gesellschaften sprechen bereits ab einem TSH von 10 mIU/l, bei noch normalen peripheren Hormonen, von einer overten Hypothyreose (American Thyroid Association und Endo Society).
Subklinische Hyperthyreose
TSH niedrig bei normalen T3 und fT4
Overte Hyperthyreose
Niedriges bis undetektierbares TSH und erhöhtes T3 und / oder fT4
Euthyreose
TSH > 2.5 und < 4.2 mIU/l mit allen anderen Schilddrüsenparametern (einschliesslich Antikörper) im normalen Referenzbereich.

Veränderungen der Schilddrüsenfunktion in der Schwangerschaft

Durch das steigende Estradiol erhöhen sich die Bindungshormone wie das Thyroxin-bindende Globulin (TBG). Die Produktion von Thyroxin (T4) und Triiodthyronin (T3) steigt ab der 7. Schwangerschaftswoche (SSW). Das totale T4 und T3 steigt konsekutiv. Durch den Anstieg der Typ III Deiodinase werden T3 und T4 vermehrt abgebaut wodurch ebenso wieder ihr Bedarf steigt. Die erhöhte Iodclearance führt zu einem erhöhten Jodbedarf. Dieser und der erhöhte T3 und T4 Bedarf führt zu einer Volumenzunahme der Schilddrüse und in Jodmangelgebieten zu einem Kropf. TBG, T3 und T4 erreichen ihren Peak in der 16. Schwangerschaftswoche (SSW) und bleiben bis zum Ende der Schwangerschaft hoch. T4 steigt um 50% (1, 2).
Dem erhöhten Schilddrüsenhormonbedarf wird in der Schwangerschaft durch das humane Choriongonadotropin (HCG) begegnet. Das HCG steigt von Beginn an und erreicht zum Ende des ersten Trimenons sein Maximum. HCG besitzt eine Affinität für den TSH-Rezeptor. Das fT4 steigt an und das TSH fällt ab. Diese Entwicklung verläuft spiegelbildlich zum HCG (3). Bei Zuständen mit erhöhten HCG wie Mehrlingsschwangerschaften oder Blasenmolen wird dieser physiologische Effekt verstärkt und es kommt zur passageren Hyperthyreose.

TSH-Referenzbereich in der Schwangerschaft

1. Trimenon oberer Referenzwert: 4.0 mIU/l
2. und 3. Trimenon: normaler Referenzbereich des Labors.

Prävalenz

Eine subklinische Hypothyreose kommt bei ca. 3.5–18% der Schwangeren je nach Grenzwerten und Region vor. Eine overte Hypothyreose bei ca. 0.5% der Schwangeren. Positive Antikörper der Thyroxinperoxidase (TPO) oder des Thyreoglobulin weisen 10–15% der Frauen im reproduktiven Alter auf. Eine Hyperthyreose kommt bei knapp 1% der Frauen im reproduktiven Alter vor.

Screening

Ein generelles Screening wird nicht empfohlen. In Sinne einer case-finding Strategie empfehlen die Fachgesellschaften ein Screening für Frauen über 30 mit Infertilität, bei Autoimmunerkrankungen, familiären oder aktuellen Schilddrüsenerkrankungen (auch wenn nur Schilddrüsenantikörper erhöht sind), nach Fehl- und Frühgeburten, nach Kopf- oder Halsbestrahlungen und bei Frauen aus Jodmangelgebieten (4).

Praxistipp:

Als erster Schritt Abnahme von TSH und TPO-Antikörper.

Welches ist die richtige präkonzeptionelle Schild­drüseneinstellung für Frauen mit Kinderwunsch?

Sicher haben Sie schon mal davon gehört, dass behauptet wird, dass Frauen mit Kinderwunsch ein präkonzeptionelles TSH<2.5 mIU/l aufweisen sollten.
Wie kommt man eigentlich auf 2.5 mIU/l?
Die National Academy of Clinical Biochemistry der USA stellt fest, dass 95% der Gesunden ein TSH von <2,5 mIU/l haben. Der Median des 50% Quantil des Assays, der von unserem Labor verwendet wird, liegt bei: 1,16 mIU/l (Roche Elecsys Test), also auch unter 2.5 mIU/l. Zudem wurde früher der TSH Referenzbereich im ersten Trimenon mit kleiner als 2,5 mIU/l angegeben.
Nach der neuesten ATA Guideline der American Thyroid Association (ATRA) von 2017 beträgt dieser obere Grenzwert für das erste Trimenon jedoch 4.0 mIU/l (5, 6). Schon alleine dadurch ist die Sinnhaftigkeit des Grenzwertes von 2.5 mIU/l als oberer Grenzwert für die optimale präkonzeptionelle Einstellung bei Frauen mit Kinderwunsch in Frage gestellt.
Nach neuesten Erkenntnissen reicht es aus, wenn die Schilddrüsenwerte präkonzeptionell im normalen Referenzbereich des Labors liegen.

Schilddrüse und Reproduktion

Zahlreiche Experimente legen nahe, dass die Schilddrüsenfunktion nahezu jeden für die Reproduktion erforderlichen Prozess beeinflusst. So sollen T3 und T4 die Fertilisation v.a. bei künstlicher Befruchtung, die Plazenta, das Spermium, die Granulosazellen, Transporterproteine des Endometriums, den Trophoblast und letztlich den Fötus beeinflussen (7). Da viele dieser Resultate im Tier- oder Zellversuch gewonnen wurden, ist deren klinische Bedeutung meist nicht ausreichend geklärt.

Hyperthyreose und Schwangerschaft

Eine Hyperthyreose kommt in der Schwangerschaft seltener vor (bei ca. 0.2%) und die Empfehlungen sind weniger kontrovers. Daher wird hier nur kurz das Wichtigste in Merksätzen aufgenommen:

  • Die optimale präkonzeptionelle Einstellung der Schilddrüse ist entscheidend. Chirurgie, Radiojodtherapie oder Thyreostatika sind die Optionen.
  • M. Basedow als häufigste Ursache der Hyperthyreose in der Schwangerschaft geht mit einer Erhöhung der TSH-Rezeptor Antikörper (TRAK) einher.
  • Zu Beginn der Schwangerschaft (so früh wie möglich schon bei positivem Test) sollte immer erwogen werden, ob die Therapie mit Thyreostatika gestoppt werden kann, da alle Medikamente potentiell teratogen sind, v.a. in der 5-10. SSW.
  • Im ersten Trimenon vorzugsweise Propylthiouracil (PTU), ab dem zweiten Trimenon Methimazol (MMI) oder Carbimazol. Alle Medikamente sind teratogen. MMI führt zu mehr und schwereren Fehlbildungen im ersten Trimenon. Ein switch von MMI auf PTU im ersten Trimenon erfolgt meist zu spät und ist dann nicht mehr sinnvoll (8).
  • Thyreostatika passieren die Plazenta und supprimieren auch die fetale Schilddrüse. Dies kann zu fetalem Kropf und Hypothyreose führen. T4 und TSH sollten alle 4 Wochen gemessen werden. Thyreostatika sollten, wenn möglich, im letzten Trimenon reduziert oder weggelassen werden.
  • Eine passagere biochemische Hyperthyreose in der Frühschwangerschaft aufgrund eines erhöhten HCGs bedarf in den allermeisten Fällen keiner Behandlung. Eine damit einhergehende Hyperemesis gravidarum wird supportiv behandelt.

Besonderheiten bei positiven TPO-Antikörper

Da zum TPO-Antikörper (TPO-AK) die meisten Daten vorliegen, empfehlen wir für das erste Screening zum TSH den TPO-AK aus pragmatischen Gründen gleich mitabzunehmen. Notwendig wird die TPO-AK-Bestimmung jedoch nur bei einem TSH> 2.5 mIU/l.
Eine TPO-AK-Positivität wird mit vielerlei negativen Folgen in Zusammenhang gebracht und stellt einen zusätzlichen Risikofaktor dar. Das Risiko für eine Fehlgeburt und eine Frühgeburt ist erhöht (9). Ob eine L-Thyroxintherapie dieses Risiko vermindert, ist noch nicht ausreichend belegt. Häufig kommt es zu erhöhten TSH-Werten im Fortlauf der Schwangerschaft (10). Daher sollte bei positiven Antikörpern während der Schwangerschaft alle 4 Wochen das TSH gemessen werden. Eine Selen-Therapie ist nicht empfohlen.

Verbessert die Behandlung einer subklinischen Hypothyreose die Fertilität?

Schon von Basedow hat 1840 bei seinen Patientinnen mit Hyperthyreose eine Amenorrhoe festgestellt. Diese Erstbeschreibung ebnet den Weg für die Hoffnung, dass die Fruchtbarkeit mit der Behandlung einer subklinischen Hypothyreose (SCH) verbessert werden könne.
Obwohl die TSH Spiegel bei Infertilen etwas höher sein mögen, ist die Inzidenz der SCH bei Infertilen gleich wie bei Gesunden. Des Weiteren gibt es insuffiziente Daten um zu belegen, dass eine SCH mit Infertilität assoziiert sei. Auch beim Vergleich von Frauen mit geringer und hoher ovarieller Reserve ergibt sich kein Unterschied in den fT4 und TSH Werten (11).
Die Behandlung einer SCH wird die Fertilität nicht verbessern.

Verbessert die Behandlung einer subklinischen Hypothyreose die Lebendgeburtrate?

Erste Publikationen zeigten eine Verbesserung der Lebendgeburt-rate (LBR) nach künstlicher Befruchtung mittels IVF/ICSI (ART) durch eine Senkung der Abortrate nach der Behandlung einer SCH mit Schilddrüsenhormon (12). Rezentere Studien mit deutlich mehr eingeschlossenen Frauen zeigten allerdings keinen Unterschied in der LBR (13).
Die Behandlung einer SCH kann die LBR nach ART durch eine Senkung der Abortrate verbessern. Je höher das TSH, desto grösser der Benefit.
Im TSH Bereich von 2.5 bis 4.2 mIU/l bringt die Behandlung mit L-Thyroxin keine Verbesserung. In diesem Bereich kam es gar signifikant vermehrt zu schwangerschaftsinduzierten Hypertonien (14).

Verringert die Behandlung einer subklinischen Hypothyreose Schwangerschaftskomplikationen?

Einige Arbeiten postulieren einen Zusammenhang einer SCH mit Schwangerschaftskomplikationen wie Diabetes, Präeklampsie und Fruchttod (15, 16).
Eine SCH ist wahrscheinlich mit einer höheren Komplikationsrate der Schwangerschaft verbunden.
Im TSH Bereich von 2.5 bis 4.2 mIU/l gibt es sehr wahrscheinlich keine erhöhte Komplikationsrate.

Verbessert die Behandlung einer subklinischen Hypothyreose die kognitive Entwicklung des Kindes?

Nach der ersten Publikation von Haddow und anderen im Jahre 1999 (17), die einen verminderten IQ bei Kindern fand, deren Mütter eine unbehandelte Hypothyreose hatten, blieb in vielen Köpfen hängen, dass eine maternale Schilddrüsenunterfunktion zu einer kognitiven Beeinträchtigung der Kinder führen könnte. Hierbei handelte es sich allerdings um eine overte Hypothyreose mit einem medianen TSH-Wert von 13 mIU/l.
Nachfolgende Studien bei milderen Formen der Unterfunktion wie subklinischer Hypothyreose, konnten diesen Zusammenhang nicht bestätigen.
In der Controlled Antenatal Thyroid Screening (CATS) Studie wurden Schwangere in der 13. SSW mit 150 µg L-Thyroxin behandelt oder nicht (18). Der IQ der Kinder unterschied sich auch im neuesten follow-up im Alter von 9.5 Jahren nicht. Er betrug bei den behandelten 101.7 und bei den unbehandelten 102.3 (19).
Meistens wurden die Schwangeren jedoch erst im späten ersten Trimenon oder im frühen zweiten behandelt. Dieser Behandlungsbeginn könnte auch zu spät erfolgt sein.
Eine prospektive Kohortenstudie aus England, die in diesem Jahre veröffentlicht wurde, ergab, dass eine milde maternale Schilddrüsendysfunktion die Schulleistung der Kinder bis zum 15. Lebensjahr nicht negativ beeinflusst (20).
Eine dänische und eine niederländische Kohortenstudie fand einen inversen U-förmigen Zusammenhang mit den TSH bzw. auch fT4 Spiegeln und der Testung im Alter von 5 bzw. 6 Jahren (21). Das heisst, dass sowohl maternale Über- als auch Unterfunktionen mit einer schlechteren Testung der Kinder assoziiert waren. Die IQ Werte waren um 1-3 Punkte reduziert. Ein signifikanter Unterschied war in der dänischen Studie erst bei einem TSH von grösser 10 mIU/l und einem fT4 von unter 10 pmol/l erreicht (22). Dies sind Hypothyreosen in ähnlichem Ausmass wie in der ersten Studie von Haddow.

Eine overte maternale Hypothyreose führt zu einer kognitiven Einschränkung beim Kind.

Für eine maternale subklinische Hypothyreose lassen sich wahrscheinlich keine signifikanten Einschränkungen der Kognition beim Kind finden.
Die Behandlung einer subklinischen Hypothyreose im späten ersten Trimenon der Schwangerschaft bringt keinen Benefit.
Im TSH Bereich von 2.5 bis 4.2 mIU/l gibt es keine Einschränkung der kindlichen Entwicklung.

Iod

Der Iodbedarf steigt in der Schwangerschaft und Stillzeit. Eine adäquate Iodzufuhr vor und während der Schwangerschaft kompensiert dies. Eine unzureichende Jodzufuhr in Jodmangelgebieten kann zum Kropf und zu einer kognitiven Einschränkung beim Kind führen, im Extremfall bis hin zum Kretinismus.

Die Gesamtzufuhr von Jod für eine schwangere Frau sollte 250 μg/Tag insgesamt betragen, davon können 150 μg/Tag als Nahrungsergänzung zugeführt werden als Kaliumiodid. Die Obergrenze von 500 μg/Tag als Gesamtzufuhr sollte nicht überschritten werden. Behandelte SD-Erkrankungen benötigen kein zusätzliches Jodid.

Empfehlungen

  • Screening:
    Kein generelles Screening, aber TSH und TPO-AK in Kinderwunschsprechstunde entsprechend einer case-finding Strategie
  • Wie vorgehen?
    • Bei overter und subklinischer Hypothyreose: L-Thyroxin
    • Bei TSH zwischen 2,5 mIU/l und 4,2 mIU/l mit AK+: Tendenz zu L-Thyroxin
    • Bei TSH zwischen 2,5 mIU/l und 4,2 mIU/l mit AK-: Kein L-Thyroxin.
  • Behandlung in Schwangerschaft
    • Behandlungsziel: TSH: < 2.5
    • Behandlung mit LT4
    • Startdosis 25–50 µg
  • Monitoring
    • Bei overter und subklinischer Hypothyreose
    • Bei Euthyreoten mit AK+, nach Hemithyroidektomie oder nach Radiojodtherapie
    • alle 4 Wochen bis zur Mitte der SS und dann mind. noch einmal in der 30.SSW
  • Direkt nach positivem HCG: Erhöhung des LT4 um 30–50% bei präkonzeptioneller LT4-Behandlung
  • Postpartal: Reduktion auf präkonzeptionelle Dosis und Kontrolle TSH nach 6 Wochen

Prof. Dr. med. Jürgen M. Weiss

Leiter der gynäkologischen Endokrinologie und Reproduktionsmedizin
Frauenklinik
Luzerner Kantonsspital
Spitalstrasse
6000 Luzern 16

juergen.weiss@luks.ch

Der Autor hat keine Interessenskonflikte im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.

1. A longitudinal study of serum TSH, and total and free iodothyronines during normal pregnancy. Weeke et al. 1982 Acta Endocrinologica 101:531.
2. Maternal thyroid function: interpretation of thyroid function tests in pregnancy. Brent 1997 Mar;40:3-15
3. Regulation of maternal thyroid during pregnancy. Glinoer et al; Journal of Clinical Endocrnology and Metabolism 71:276, 1990
4. Management of thyroid dysfunction during pregnancy and postpartum: an Endocrine Society clinical practice guideline. De Groot et al. J Clin Endocrinol Metab. 2012 Aug;97(8):2543-65
5. ATA Thyroid & Pregnancy Guidelines 2017
6. ASRM Guideline Fertil Steril 2015 Sep;104(3):545-53
7. Pathophysiological aspects of thyroid hormone disorders/thyroid peroxidase autoantibodies and reproduction. Vissenberg et al. Human Reproduction Update, Vol.21, No.3 pp. 378-387, 2015
8. Methimazole Has a Dose-Dependent Association With Congenital Malformations, but Switching to PTU in the First Trimester Seems Too Late Korevaar T Clin Thyroidol 2018;30:104-107
9. Thyroid antibodies and risk of preterm delivery: a meta-analysis of prospective cohort studies. He et al. Eur J Endocrinol 2012; 167(4):455-464.
10. Dose Dependency and a Functional Cutoff for TPO-Antibody Positivity During Pregnancy. Korevaar T et al. J Clin Endocrinol Metab. 2018 Feb 1;103:778-789.
11. Thyroid autoimmunity, hypothyroidism and ovarian reserve: a cross-sectional study of 5000 women based on age-specific AMH values. Polyzos et al. Hum Reprod. 2015 Jul;30(7):1690-6
12. Effect of levothyroxine treatment on in vitro fertilization and pregnancy outcome in infertile women with subclinical hypothyroidism undergoing in vitro fertilization/intracytoplasmic sperm injection. Kim et al. Fertil Steril. 2011 Apr;95(5):1650-4
13. Subclinical Hypothyroidism and Thyroid Autoimmunity Are Not Associated With Fecundity, Pregnancy Loss, or Live Birth. Plowden et al. J Clin Endocrinol Metab. 2016 Jun;101(6):2358-65
14. Thyroid hormone treatment among pregnant women with subclinical hypothyroidism: US national assessment. Maraka et al. BMJ 2017;356:i6865
15. Relationship of subclinical thyroid disease to the incidence of gestational diabetes. Tudela et al. Obstet Gynecol. 2012 May;119(5):983-8.
16. Subclinical thyroid disease and the incidence of hypertension in pregnancy. Wilson et al. Obstet Gynecol. 2012 Feb;119(2 Pt 1):315-20.
17. Maternal thyroid deficiency during pregnancy and subsequent neuropsychological development of the child. Haddow et al. NEJM 1999;341:549-55
18. Antenatal thyroid screening and childhood cognitive function. Lazarus et al. NEJM 2012; Feb 9;366(6):493-501
19. Controlled Antenatal Thyroid Screening II: Effect of Treating Maternal Suboptimal Thyroid Function on Child Cognition.Hales et al. J Clin Endocrinol Metab. 2018 Apr 1;103(4):1583-1591
20. Maternal thyroid function and child educational attainment: prospective cohort study. Nelson et al. BMJ 2018;360:k452
21. Association of maternal thyroid function during early pregnancy with offspring IQ and brain morphology in childhood: a population-based prospective cohort study. Korevaar et al. Lancet Diabetes Endocrinol. 2016 Jan;4:35-43
22. Maternal Thyroid Function in Early Pregnancy and Neuropsychological Performance of the Child at 5 Years of Age. Anderson et al. JCEM 2018 103 (2), 660–670

Abklärung einer Harninkontinenz bei der Frau

Als Grundversorger wird man häufig mit dem Problem «Harninkontinenz» konfrontiert. Mit einer guten Anamnese und einer einfachen klinischen Untersuchung können die ­Arbeitsdiagnose suffizient geklärt und konservative Therapien begonnen werden. Dieser erste Teil ist den Abklärungen gewidmet. Aspekte der Behandlung werden im zweiten Teil im August dargestellt werden.

Die Harninkontinenz ist lediglich ein Symptom. Die zugrundeliegende Krankheit muss verstanden sein, bevor man die Therapie festlegen kann. Ein insuffizienter Urethralverschluss mit Inkontinenz bei Belastung hat seine Ursache in einer übermobilen Urethra allenfalls mit einer reduzierten intrinsischen Sphinkterfunktion, genannt Stress – oder Belastungsinkontinenz (SUI).
Wenn die Blase als Speicherorgan (Detrusormuskel) betroffen ist und demzufolge hypersensitiv, hypokapazitiv, allenfalls mit unkontrollierter Motorik, spricht man von einer überaktiven Blase (OAB). Bei Frauen ist die Inkontinenz häufig eine Kombination von beiden Formen, genannt gemischte Inkontinenz. Die Rate an Inkontinenz nimmt mit dem Alter zu.
Die chronische Harnretention, die bei starker Ausprägung zu einer Überlaufinkontinenz führt, ist bei Frauen selten. Die unverzichtbare Untersuchung dafür ist die Restharnbestimmung. Für die Retention ist meist ein relevanter Genitaldescensus mit Quetschhahnmechanismus ursächlich, Urethralstenosen sind selten. Auch in Frage kommen eine denervierte atone Blase als Folge einer autonomen Polyneuropathie oder einer denervierenden Chirurgie im kleinen Becken. Die Retention zu erkennen ist zentral, denn hier scheiden sich die therapeutischen Konzepte grundlegend.
Differentialdiagnostisch muss bei einer Inkontinenz auch an extragenitale Ursachen gedacht werden. Rheumatologische, orthopädische oder dementielle Erkrankungen können verhindern, dass eine Patientin rechtzeitig die Toilette erreicht.
Gemischte Krankheitsbilder sind eher die Regel. Mit der Anamnese und Untersuchung können die einzelnen Krankheitsbilder gewichtet werden. Hat die Patientin beispielsweise OAB Symptome bei M. Parkinson oder hat sie einen Insult erlitten, müssen die Symptome als Folge der fehlenden zentralen Hemmung auf das pontine Miktionszentrum verstanden werden: also eine cerebral enthemmte Blase (neurogene Detrusor-Hyperaktivität).
Inkontinenz auf Grund komplexer neurourologischer Krankheitsbilder mit echter Sphinkter-Detrusor-Dyssynergie (Querschnittsproblematik) ist nicht Gegenstand dieses Artikels.

Anamnese

Die Beschwerden sind jeweils typisch für die Krankheit, so dass Anamnese und Diagnose fast gleichgesetzt werden können. Bleibt die Erzählung der Patientin diffus, lässt sich mit gezieltem Nachfragen die Ursache eingrenzen:
SUI: Inkontinenz im Zusammenhang mit Belastung: Urinverlust bei Husten, Niessen, Lachen, oder beim Sport?
OAB: Frage nach Inkontinenz zusammen mit Drangbeschwerden: beschrieben als «imperativer Harndrang» oder «Hausschlüsselinkontinenz». Frage nach Pollakisurie (häufige (> 8) kleinvolumige Miktionen durch den Tag) und Nykturie (> 1 Miktion pro Nacht). Die Anpassung der Spazier- oder Einkaufsroute entsprechend der vorhandenen öffentlichen Toiletten ist typisch.

Retention (Überlaufinkontinenz): Qualität des Harnstrahls abfragen: Erfahrungsgemäss lassen Frauen dieses Phänomen häufig aus und berichten lediglich von Urge-Symptomen, die bei einer übervollen Blase auftreten können. Patientinnen wissen allerdings, wie der Harnstrahl sich anfühlt oder ob die Miktion ein- oder mehrzeitig ist (Stakkato-Miktion) und wie lange die Miktion dauert. Obstruktive Miktion gepaart mit Inkontinenz ist typisch für die Überlaufinkontinenz. Die Notwendigkeit von manuellem Reponieren, um die Miktion auszulösen, ist pathognomonisch für den Quetschahn.

Schweregrad: Notwendigkeit von Binden? Dicke und Anzahl der verwendeten Binden? Nächtliches Einnässen?

Miktionstagebuch: Dieses ist ein einfaches und wertvolles Anamnese-Instrument. Die Patientin misst und dokumentiert über 24 Stunden Miktion, Flüssigkeitseinnahme sowie Inkontinenzereignisse. Eine kleinvolumige Pollakisurie repräsentiert die OAB, normale Volumina und normale Miktionsfrequenz beweisen die gesunde Blasenspeicherfunktion. Auch eine Polydipsie oder inadäquate Aufteilung der Miktionsvolumina zwischen Tag und Nacht werden aufgedeckt (Abb. 1).

Untersuchung

Der Ultraschall ist die einzige apparative Untersuchung, die in der Erstlinienabklärung unverzichtbar ist. Man misst bei voller Blase die funktionelle Blasenkapazität und nach der Entleerung den Rest-urin. Sonographisch können auch Steine, Tumoren und Fremdkörper in der Blase erkannt werden. Zudem ist die Perinealsonographie eine unschlagbare Methode, die zugrundeliegende Patho-Anatomie der SUI dynamisch-funktionell darzustellen: Der urethrovesikale Übergang verstreicht beim Pressen, der β-Winkel wird weit (= Winkel zwischen Blasenboden und Urethra) und der Meatus urethrae internus zeigt ein «funneling», das heisst es fliesst Urin in die Urethra ein. Im Deutschen ist dies mit dem Begriff der «Vesikalisierung der proximalen Urethra» bildlich beschrieben (Abb. 2).

Klinische Untersuchung: Die Diagnose SUI stellt man mit einem einfachen Belastungstest: Lässt man die Patientin mit voller Blase im Liegen oder im Stehen über einer Vorlage husten, kommt es zu spritzweisem Urinabgang. Es ist nicht in jedem Fall zwingend, tonometrisch zu beweisen, was klinisch offensichtlich ist (1).
Will man den Urinverlust quantifizieren, macht man dies mit einem einfachen Vorlagentest: Pad test: Binde auf einer Briefwaage wiegen, Patientin mit der Binde 10-mal kräftig Husten lassen, Binde erneut wiegen. Gewichtsdifferenz = Urinverlust.
Selbstverständlich lassen sich in Steinschnittlage (gynäkologischer Stuhl) die im Ultraschall beschriebenen Veränderungen unter Belastung beobachten: Im Pressen wölbt sich die Urethra sehr deutlich vor den Hymenalsaum, was man als «übermobile Urethra» oder «Urethrocele» beschreiben kann (Abb. 3).
Auch lässt sich mithilfe des Bonney-Tests der Effekt einer chirurgischen Korrektur antizipieren: Mit dem Zeige- und Mittelfinger wird die mittlere Urethra in Ruhe in der Ausgangsposition fixiert. Wird die Patientin beim Husten dadurch kontinent, ist bewiesen, dass die suburethrale Anlage eines Hypomochlions (z.B. TVT™-Band) die SUI beheben wird (Abb. 4).

Urinlabor: Die reine Belastungsinkontinenz braucht keine Laborabklärung.
Die idiopathische OAB ist eine Ausschlussdiagnose. Entsprechend müssen symptomatische Formen erkannt werden: Eine persistierende Mikrohämaturie kann Hinweis auf ein Stein- oder Tumorleiden sein, Nachweis von Leukozyten und Nitrit sind ein Hinweis auf einen Harnwegsinfekt. Urinstatus und Urinkultur sind obligate hausärztliche Erstlinienabklärungen der OAB.

Zystoskopie: Wichtig in der Abklärung der OAB, um symptomatische Formen mit relevanter Blasenpathologie zu erkennen. Diese ist durch keine klinische Untersuchung zu ersetzten.

Beurteilung eines Prolapses und Urethrakalibrierung: Ein höhergradiger Descensus ist auf dem gynäkologischen Stuhl aber auch im Stehen offensichtlich.

Mit bougies à boule oder Hegarstiften sondiert man die Urethra und erkennt eine Urethralstenose. Beides kann eine chronische Retention und dadurch eine Überlaufinkontinenz verursachen.

Urodynamik (Dreikanalmessung): Die Urodynamik ist eine Serie von zeitgleichen kombinierten Druck-, Fluss- und Muskelaktivitätsmessungen. Die Speicherphase der Blase, die Verschlussfunktion der Urethra und die Entleerungsphase werden gemessen und dokumentiert. Ist man sehr interessiert, lässt sich eine urodynamische Dreikanalmessung bei einfacher Fragestellung durch Kombination von klinischer und sonographischer Untersuchung, einer einfachen hydrostatischen Messanordnung (2) und einfachen Surrogatuntersuchungen wie z. B. dem pull through Test (3) oder dem urethral retro-resistance pressure (URP) (4) gut ersetzen (Abb. 5). Dies detailliert auszuführen und zu werten übersteigt den Rahmen dieses Artikels.
Für komplexe neurourologische Fragestellungen ist ein Mehr-kanalmessgerät unabdingbar.

Dr. med. Gabriella Stocker

Frauenklinik Stadtspital Weid und Triemli
Birmensdorferstrasse 501
8063 Zürich

Dr. med Ana Somaini

Frauenklinik Stadtspital Triemli
Birmensdorferstrasse 501
8063 Zürich

Dr. med. Daniel Passweg

Frauenklinik Stadtspital Weid und Triemli
Birmensdorferstrasse 501
8063 Zürich

daniel.passweg@triemli.zuerich.ch

Die Autoren haben keine Interessenskonflikte im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.

  • Bei der Inkontinenz gilt: Anamnese = Diagnose.
  • Die Restharnmessung ist bei der Urge-Anamnese wichtig.
  • Mit Ultraschall und klinischer Untersuchung lässt sich eine Inkontinenz bei urogynäkologischer Fragestellung mit einfachen Mitteln fast in jedem Fall verstehen.
  • Einzig für die Zystoskopie gibt es keine Surrogatuntersuchung.

1. Nager CW et al. Urinary Incontinence Treatment Network. A randomized trial of urodynamic testing before stress-incontinence surgery. N Engl J Med 2012;24(366):1987-97
2. Fonda D et al. Simple screening for urinary incontinence in the elderly: comparison of simple and multichannel cystometry. Urology 1993;42:536-40
3. Arya LA et al. Office screening test for intrinsic urethral sphincter deficiency: pediatric Foley catheter test. Obstet Gynecol 2001;97:885-9
4. Slack M et al. Urethral retro-resistance pressure: a new clinical measure of urethral function. NeurourolUrodyn 2004;23:656-61

Was tun bei stabiler Kreatininerhöhung?

Eine stabile Kreatininerhöhung, die länger als 3 Monaten besteht, wird als chronische Niereninsuffizienz («chronic kidney disease, CKD») definiert. Die genaue Stadieneinteilung sowie Prognoseabschätzung erfolgt anhand der mittels Formel geschätzten glomerulären Filtrationsrate («estimated glomerular f iltration rate, eGFR») sowie der Albuminurie. Rund 1% der Patienten mit CKD benötigt eine Nierenersatztherapie in Form von Dialyse oder Nierentransplantation, welche mit erhöhter Morbidität und Mortalität sowie enormen gesundheitsökonomischen Kosten verbunden ist. In diesem ersten Teil des ­Artikels werden nach einer Begriffsklärung die aktuellen Empfehlungen zur Diagnostik und Stadieneinteilung sowie zum Monitoring einer chronischen Niereninsuffizienz diskutiert.

Was ist stabile Kreatininerhöhung?

Bestimmung der Nierenfunktion

Für lange Zeit wurde die Nierenfunktion anhand des Kreatininwerts oder der Bestimmung der Kreatinin-Clearance mittels einer 24-Stunden-Urinsammlung beurteilt. Es gibt einige Faktoren, die einen Einfluss auf das Kreatinin bzw. die Kreatininbestimmung haben, die bei der Interpretation dieses Laborwerts beachtet werden sollten. Dazu gehört die Methode der Kreatininbestimmung. So ist der ältere kinetische Farbtest (Jaffé) empfindlich für Einflüsse von Glukose und Protein. Die weniger anfällige neuere enzymatische Methode wie der häufig in Arztpraxen verwendete trockenchemische Enzymtest (Reflotron®, Roche Diagnostics) ergibt jedoch unter dem selten in Serum vorhandenen Sarkosin falsch hohe Werte.

Weitere Einflussfaktoren auf das Kreatinin

Der Einfluss von Alter, Muskelmasse und des Geschlechts sowie der ethnischen Herkunft (Kaukasier mit geringerer Muskelmasse im Vergleich zu Afrikaner oder Afroamerikaner) auf das Kreatinin ist seit langem bekannt und muss bei der Interpretation des Kreatininwerts in Betracht gezogen werden (1).
In den letzten Jahren hat im Rahmen der Fitness-Kultur die Einnahme von Nahrungsergänzungsmitteln, Muskelaufbaupräpa-raten oder Sporternährungszusätzen, die Kreatin enthalten können, zugenommen. Dies kann zu einem Anstieg des Serum-Kreatinins führen, ohne dass eine Nierenerkrankung vorliegt (2).
Kreatinin wird glomerulär filtriert und zusätzlich tubulär sezerniert. Daher würde eine Beurteilung der Nierenfunktion, welche nur auf das Serum-Kreatinin basiert, grundsätzlich die tatsächliche Nierenfunktion überschätzen. Sowohl bei eingeschränkter Nierenfunktion als auch durch bestimmte Medikamente wie z. B. Cotrimoxazol oder Cimetidin kann die tubuläre Kreatinin-Sekretion verändert werden, was ebenfalls einen Einfluss auf die Bestimmung der Kreatinin-Clearance und somit Beurteilung der Nierenfunktion hätte.

Bestimmung der Kreatinin-Clearance

Die früher häufig durchgeführte 24-Stunden-Urinsammlung zur Bestimmung der Kreatinin-Clearance wurde inzwischen aufgrund des Aufwands und der hohen Fehlerquote aufgrund einer nicht adäquaten Sammlung (Unter- oder Übersammlung) verlassen und durch die Abschätzung der GFR mittels Formeln (siehe unten) ersetzt. In bestimmten Fällen jedoch wie z.B. bei deutlicher Abweichung der Muskelmasse (Muskelerkrankungen, instabile Nierenfunktion, ausgeprägte Adipositas oder Malnutrition etc.) kann diese Methode weiterhin angewandt werden und hilfreich sein.

Beurteilung der Nierenfunktion anhand der geschätzten GFR (eGFR)

Aufgrund der oben genannten Limitationen bei der Beurteilung der Nierenfunktion anhand des Serum-Kreatinins bzw. der gemessenen Kreatinin-Clearance wurden verschiedene Formeln für die Abschätzung der GFR entwickelt.
Die vermutlich älteste Formel zur Abschätzung der GFR ist die Cockcroft und Gault Formel (3). Diese Formel ist für das Alter, Körpergewicht und Geschlecht adjustiert, wird heute jedoch kaum mehr verwendet. Da jedoch viele Dosierungsempfehlungen für die Gabe von Medikamenten auf dieser Formel beruhen (z.B. die Dosisanpassung bei der Gabe von den immer häufiger eingesetzten neuen oralen Antikoagulanzien), sollte man sie kennen. Die vermutlich am weitesten verbreitete Formel für die Abschätzung der GFR war die Modification of Diet and Renal Disease (MDRD) Formel, welche erstmalig in den Richtlinien der National Kidney Foundation- Kidney Disease Outcomes Quality Initiative (NKF-KDOQI) im Jahre 2002 für die Beurteilung der Nierenfunktion sowie die Diagnose einer chronischen Niereninsuffizienz empfohlen wurde (4, 5). Die MDRD Formel ist ebenfalls Kreatinin-basiert und für Alter, schwarze Hautfarbe und Geschlecht korrigiert. Diese Formel hat jedoch gewisse Einschränkungen bei Patienten < 18 oder > 75 Jahre, Schwangere sowie bei extremer Abweichung der Muskelmasse oder des Körpergewichts. Des Weiteren gibt es bei Patienten mit einer eGFR > 60 ml/min Ungenauigkeiten für eine präzise Beurteilung der Nierenfunktion. Den heutigen Goldstandard für die Abschätzung der GFR stellt die Chronic Kidney Disease-Epidemiology Collaboration (CKD-EPI) Formel dar (1, 6). Diese Formel ist ebenfalls Kreatinin-basiert. Sie verbesserte und präzisierte die MDRD Formel insbesondere für eine eGFR > 60 ml/min. Gemäss den Kidney Disease Improving Global Outcome (KDIGO) Richtlinien sollte für die Diagnose einer Niereninsuffizienz bei Erwachsenen primär die Kreatinin-basierte eGFR (eGFRKrea) anhand der CKD-EPI Formel (Version aus dem Jahr 2009) errechnet werden (1), am einfachsten mit Online-Kalkulatoren, z. B. unter https://www.kidney.org/professionals/kdoqi/gfr_calculator.
Als Alternative zu Kreatinin kann die Nierenfunktion in speziellen Situationen beim Facharzt anhand von Cystatin C oder mittels externer Filtrationsmarker beurteilt werden (6).

Diagnose und Stadien der chronischen Niereninsuffizienz

Gemäss den KDIGO Richtlinien wird eine chronische Niereninsuffizienz anhand der eGFR definiert und klassifiziert (1). Die Diagnose einer chronischen Niereninsuffizienz liegt entweder beim Nachweis eines strukturellen Nierenschadens (histologisch, radiologisch, laborchemisch, etc.) oder bei einer GFR von < 60 ml/min/1.73m2, welche seit mindestens 3 Monaten besteht, vor. Entsprechend erfolgt die Stadieneinteilung anhand der zugrundeliegenden Erkrankung sowie der GFR- und Albuminurie-Kategorie. Die Hinzunahme der Albuminurie erfolgte aufgrund von mehreren Studien, die gezeigt haben, dass eine chronische Niereninsuffizienz und Albuminurie unabhängige Risikofaktoren für Tod und Auftreten einer terminalen Niereninsuffizienz darstellen (7–9). Die verschiedenen GFR- und Albuminurie-Kategorien sind in Tabelle 1 aufgeführt. Es ist zu bemerken, dass die Einführung dieser Klassifikation zu einer deutlichen Zunahme der Diagnose einer chronischen Niereninsuffizienz geführt hat. Um somit eine «Überdiagnose» der chronischen Niereninsuffizienz zu vermeiden, wäre es sehr wünschenswert, Informationen bezüglich der Alters- und Geschlechts-bezogenen Referenzwerte für die GFR in der jeweiligen Population zu haben, welche leider für die Schweiz nicht zur Verfügung stehen (10).

Was tun bei stabiler Kreatininerhöhung?

Nephrologische Standortbestimmung / Zu­weisung

Eine chronische Niereninsuffizienz sollte bei allen Patienten mit Diabetes mellitus, Hypertonie, kardiovaskulärer Erkrankung, Systemerkrankungen mit möglicher Nierenbeteiligung (z. B. Systemischer Lupus Erythematodes), chronischem Gebrauch von potentiell nephrotoxischen Substanzen (z. B. NSAR, Lithium etc.), sowie familiärer oder genetischer Nierenerkrankung gesucht werden. Falls es sich bei der Diagnose der CKD in der hausärztlichen Praxis um einen Zufallsbefund bzw. Erstdiagnose handelt und die zugrundeliegende Nierenerkrankung unklar ist, sollte eine nephrologische Zuweisung erfolgen. Eine genaue Diagnosestellung der zugrundeliegenden Nierenerkrankung ist nicht nur für eine optimale Therapie, sondern auch für die Prognoseabschätzung und Progressionsverlangsamung der Niereninsuffizienz sowie ggf. der Planung einer Nierentransplantation entscheidend. In Zusammenarbeit mit dem Hausarzt können in Folge die Komplikationen der Niereninsuffizienz rechtzeitig und adäquat behandelt und der Patient für eine Nierenersatztherapie zeitgerecht (GFR < 30 ml/min) vorbereitet werden. Die frühe Erkennung und Therapie von Komplikationen sowie die rechtzeitige Vorbereitung und Einleitung der Nierenersatztherapie haben einen direkten Einfluss auf die Prognose dieser Patienten (1).
Weitere Indikationen für eine zeitnahe nephrologische Zuweisung bei Patienten mit chronischer Niereninsuffizienz stellen ein starker Abfall der eGFR (> 5 ml / min / Jahr) oder neuer Nachweis von Akanthozyten, dysmorphen Erythrozyten oder Erythrozytenzylindern im Urinsediment dar. Ebenfalls sollte bei Zunahme einer Proteinurie oder Albuminurie sowie Auftreten einer therapierefraktären Hypertonie eine vorzeitige nephrologische Standortbestimmung erfolgen.
Je nach Stadium der chronischen Niereninsuffizienz sind jährliche nephrologische Kontrollen (z.B. CKD Stadium G1 bis G3a nach KDIGO) bis zu engmaschigeren nephrologischen Kontrollen (CKD Stadium G3b bis G5 nach KDIGO) empfehlenswert.

Monitoring der Nierenfunktion und der renalen Folgeerkrankungen

Bei Patienten mit erstmaligem Nachweis einer Kreatininerhöhung und Verdacht auf eine chronische Niereninsuffizienz ohne Vorlage von Vorwerten sollte das Kreatinin innerhalb sowie nach dem Zeitraum von 3 Monaten wiederholt bestimmt werden, um die Diagnose einer chronischen Niereninsuffizienz zu bestätigen. Des Weiteren sollte wie bereits erwähnt für die Stadieneinteilung sowie Abschätzung des kardiovaskulären Risikos die Albuminurie gemessen werden. Die Indikationen für eine nephrologische Zuweisung bzw. Standortbestimmung bei chronischer Niereninsuffizienz sind oben aufgeführt.
Je nach Stadium der chronischen Niereninsuffizienz sollten 1 – 2 x jährliche (z. B. CKD Stadium G1 bis G3va nach KDIGO) bzw. 3 – 4 x jährliche (z. B. CKD Stadium G3 a bis G5 nach KDIGO) Laborkontrollen durchgeführt werden. Je nach Stadium und Verlauf können die Kontrollen sowie die Behandlung inkl. der nephroprotektiven Massnahmen mehrheitlich vom Hausarzt durchgeführt werden.
Bei fortgeschrittener Niereninsuffizienz (z. B. CKD Stadium G4 und G5 nach KDIGO) wird jedoch meistens eine engmaschige Kontrolle durch den Nephrologen notwendig, um sowohl die Komplikationen adäquat zu behandeln als auch die Nierenersatztherapie rechtzeitig vorzubereiten und einzuleiten.
Die regelmässigen Laborkontrollen bei Patienten mit chronischer Niereninsuffizienz beinhalten folgende Parameter:
1. Nierenfunktion: Elektrolyte (Natrium, Kalium, Calcium, Phosphat, Bikarbonat, ggf. Chlorid), Kreatinin, Harnstoff, Cystatin C (in Einzelfällen), eGFR, Albuminurie, Urinsediment
2. Anämie: Blutbild inkl. Retikulozyten, Ausschluss von Substratmangel (Eisenstatus, Vitamin B12, Folsäure), Hämolyseparameter (LDH, Haptoglobin)
3. Renale Knochenstoffwechselkrankheit («CKD-Mineral Bone Disorder, CKD-MBD»): Calcium, Phosphat, intaktes Parathormon, (alkalische Phosphatase, 25-OH-Vitamin D3)
4. Lipidstatus: LDL-Cholesterin, HDL-Cholesterin, Triglyceride
5. Gesamteiweiss und Albumin im Serum 1-2x jährlich
6. Bei Diabetikern HbA1c alle 3 Monate
7. Nierensonographie 1x jährlich
Wie oft die o. g. Parameter bestimmt werden sollen, hängt vom Stadium der CKD sowie einer bereits eingeleiteten Therapie ab. Vereinfacht sollte die Nierenfunktion bei CKD Stadium G1 bis G2 mindestens 1-2x jährlich und ab Stadium G3 mindestens 3-4x jährlich bestimmt werden.
In einem zweiten Teil werden in der Septemberausgabe spezifische Befunde und ihre Behandlungsmöglichkeiten diskutiert.

PD Dr. med. Nilufar Mohebbi

Klinik für Nephrologie
Universitätsspital Zürich
Rämistrasse 100
8091 Zürich

Praxis und Dialysezentrum Zürich-City AG
Stockerstrasse 50
8002 Zürich

Nilufar.Mohebbi@usz.ch

Die Autorin hat keine Interessenskonflikte im ­Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.

  • Für die Definition, Stadieneinteilung sowie Abschätzung der Prognose bei chronischer Niereninsuffizienz ist die Bestimmung der eGFR und Albuminurie notwendig.
  • Eine chronische Niereninsuffizienz ist durch einen Abfall der eGFR < 60 ml/min seit mindestens 3 Monaten definiert.
  • Die rechtzeitige nephrologische Zuweisung sowie die enge Zusammenarbeit zwischen Hausärzten und Nephrologen ermöglichen nicht nur eine optimale Therapie, sondern sind auch für die Progressionsverlangsamung, Erkennung und Behandlung von Komplikationen sowie die rechtzeitige Planung einer Nierenersatztherapie inkl. Nierentransplantation von grosser Bedeutung.

1. Group KDIGOKCW. KDIGO 2012 clinical practice guideline for the evaluation and management of chronic kidney disease. Kidney International Suppl. 2013;3(1):150.
2. T W. Kreatin Supplementation und Nierenfunktion: Reines Kreatin ist nicht schädlich für die Nieren! Swiss medical forum. 2013;13(42):3.
3. Cockcroft DW, Gault MH. Prediction of creatinine clearance from serum creatinine. Nephron. 1976;16(1):31-41. Epub 1976/01/01.
4. Levey AS, Bosch JP, Lewis JB, Greene T, Rogers N, Roth D. A more accurate method to estimate glomerular filtration rate from serum creatinine: a new prediction equation. Modification of Diet in Renal Disease Study Group. Annals of internal medicine. 1999;130(6):461-70. Epub 1999/03/13.
5. K/DOQI clinical practice guidelines for chronic kidney disease: evaluation, classification, and stratification. American journal of kidney diseases : the official journal of the National Kidney Foundation. 2002;39(2 Suppl 1):S1-266. Epub 2002/03/21.
6. Inker LA, Schmid CH, Tighiouart H, Eckfeldt JH, Feldman HI, Greene T, et al. Estimating glomerular filtration rate from serum creatinine and cystatin C. The New England journal of medicine. 2012;367(1):20-9. Epub 2012/07/06.
7. Coresh J, Turin TC, Matsushita K, Sang Y, Ballew SH, Appel LJ, et al. Decline in estimated glomerular filtration rate and subsequent risk of end-stage renal disease and mortality. Jama. 2014;311(24):2518-31. Epub 2014/06/04.
8. Gansevoort RT, Matsushita K, van der Velde M, Astor BC, Woodward M, Levey AS, et al. Lower estimated GFR and higher albuminuria are associated with adverse kidney outcomes. A collaborative meta-analysis of general and high-risk population cohorts. Kidney international. 2011;80(1):93-104. Epub 2011/02/04.
9. Astor BC, Matsushita K, Gansevoort RT, van der Velde M, Woodward M, Levey AS, et al. Lower estimated glomerular filtration rate and higher albuminuria are associated with mortality and end-stage renal disease. A collaborative meta-analysis of kidney disease population cohorts. Kidney international. 2011;79(12):1331-40. Epub 2011/02/04.
10. Wetzels JF, Kiemeney LA, Swinkels DW, Willems HL, den Heijer M. Age- and gender-specific reference values of estimated GFR in Caucasians: the Nijmegen Biomedical Study. Kidney international. 2007;72(5):632-7. Epub 2007/06/15.
11. de Brito-Ashurst I, Varagunam M, Raftery MJ, Yaqoob MM. Bicarbonate supplementation slows progression of CKD and improves nutritional status. Journal of the American Society of Nephrology : JASN. 2009;20(9):2075-84. Epub 2009/07/18.
12. Phisitkul S, Khanna A, Simoni J, Broglio K, Sheather S, Rajab MH, et al. Amelioration of metabolic acidosis in patients with low GFR reduced kidney endothelin production and kidney injury, and better preserved GFR. Kidney international. 2010;77(7):617-23. Epub 2010/01/15.
13. Mahajan A, Simoni J, Sheather SJ, Broglio KR, Rajab MH, Wesson DE. Daily oral sodium bicarbonate preserves glomerular filtration rate by slowing its decline in early hypertensive nephropathy. Kidney international. 2010;78(3):303-9. Epub 2010/05/07.
14. KDIGO 2017 CLINICAL PRACTICE GUIDELINE UPDATE FOR THE DIAGNOSIS, EVALUATION, PREVENTION, AND TREATMENT OF CHRONIC KIDNEY DISEASE–MINERAL AND BONE DISORDER (CKD-MBD). Kidney International Suppl. 2017;7(1):60.
15. KDIGO Clinical Practice Guideline for Lipid Management in Chronic Kidney Disease. Kidney International Suppl. 2013;3(3):47.
16. KDIGO Clinical Practice Guideline for the Management of Blood Pressure in Chronic Kidney Disease Kidney International Suppl. 2012;2(5):77.
17. Wenzel UO. Angiotensin-converting enzyme inhibitors and progression of renal disease: evidence from clinical studies. Contributions to nephrology. 2001(135):200-11. Epub 2001/11/14.
18. Wilhelm-Leen E, Montez-Rath ME, Chertow G. Estimating the Risk of Radiocontrast-Associated Nephropathy. Journal of the American Society of Nephrology : JASN. 2017;28(2):653-9. Epub 2016/10/01.
19. Perazella MA. Current status of gadolinium toxicity in patients with kidney disease. Clinical journal of the American Society of Nephrology : CJASN. 2009;4(2):461-9. Epub 2009/02/10.

Was muss der Hausarzt bei Kontakt mit Asyl-Gesuchsstellern berücksichtigen?

Das Staatssekretariat für Migration (SEM) hat 2018 in Zusammenarbeit mit dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) eine Konzeptänderung in der Gesundheitsversorgung der Asyl-Gesuchssteller (Asyl-GS – die männliche Form wird hier der Einfachheit halber für beide Geschlechter genommen) in den Asylzentren des Bundes und in den Kollektivunterkünften der Kantone vorgenommen. Demnach wurde das gezielte Screening auf übertragbare Krankheiten (insbesondere Tuberkulose), ehemals bekannt als grenzsanitarische Massnahmen (GSM), zugunsten einer medizinischen Erstinformation (MEI) und einer medizinischen Erstkonsultation (MEK) abgelöst. Diese sollen eine gezielte Suche und Behandlung von symptomatischen Asyl-GS beinhalten und den raschen Zugang zum allgemeinen schweizerischen Gesundheitswesen ermöglichen.

Auf Bundesebene werden die Asyl-GS primär in einem der sieben Empfangs-und Verfahrenszentren (EVZ) des Bundes registriert und in den Asylprozess aufgenommen. In diesen EVZ werden – gemäss neuem Konzept – alle Asyl-GS obligatorisch vom Pflegefachpersonal über das schweizerische Gesundheitswesen informiert (sogenannte medizinische Erstinformation – MEI). Diese erfolgt computerbasiert gesprochen in bisher 14 Sprachen der wichtigsten Herkunftsländer und illustriert mit Piktogrammen. Zudem werden den Asyl-GS die wichtigsten Infektionskrankheiten und deren Symptome erklärt, sowie der Zugang zu Impfungen wie auch allgemeine Hygieneregeln und Präventivmassnahmen zum Schutz vor sexuell übertragbaren Krankheiten erläutert. Der Datenschutz und die Unabhängigkeit der medizinischen Versorgung vom Asylprozess werden ebenso thematisiert.
Im Anschluss erfolgt eine medizinische Erstkonsultation (MEK) durch das Pflegefachpersonal, die im Prinzip freiwillig ist, aber von den Asyl-GS gerne in Anspruch genommen wird. Auch dieses Tool ist computerbasiert, gesprochen und mit Piktogrammen illustrieret. Darin werden Fragen zur allgemeinen Gesundheit und insbesondere zur Tuberkulose gestellt. Wie bei den alten GSM wird weiterhin ein TB-score generiert. Klinische Beschwerden oder bekannte chronische, behandlungsbedürftige Krankheiten werden so gerade zu Beginn des Aufenthaltes von der Zentrumspflege erfasst. Diese triagieren primär, ob eine einfache symptomatische Therapie durch sie eingeleitet werden kann, bereits verordnete Medikamente weitergeführt werden können, oder ob eine Arztkonsultation durch den Zentrumsarzt notwendig sei. Ein obligatorisches Screening auf bestimmte Infektionskrankheiten ist nicht vorgesehen. Eine Abklärung erfolgt nur bei vorhandenen Symptomen. In den Bundeszentren werden somit vor allem akute Krankheiten abgeklärt und behandelt. Bei vorbestehenden chronischen Leiden (bspw. Diabetes, kardiovaskuläre Erkrankungen) wird dafür gesorgt, dass bereits etablierte Therapien weitergeführt und notwendige diagnostische Massnahmen ergänzt werden. Schwangere Frauen werden entsprechend den schweizerischen Empfehlungen abgeklärt und behandelt. Asyl-GS mit akuten psychischen Beschwerden werden bei Bedarf einer psychiatrischen Versorgung zugeführt. Chronische, nicht aktive Leiden (bspw. chronische virale Hepatitiden, degenerative Gelenksbeschwerden, kariöse Zähne) werden auf Bundesebene primär nicht behandelt. Auf Bundesebene werden die Krankheitskosten vom SEM getragen und nachträglich durch die Krankenversicherer rückvergütet.
In Abbildung 1 ist der Weg eines Asyl-GS durch die verschiedenen Stellen des juristischen Asylverfahrens dargestellt.

Ebene Kanton und Gemeinde

Sobald der Asyl-GS einer Gemeinde zugeteilt ist, ist vorgesehen, dass er eine medizinische Grundversorgung wie jede in der Schweiz lebende Person erhält. Dies beinhaltet nebst der Abklärung und Behandlung von symptomatischen oder chronischen Leiden auch präventive Massnahmen, wie zum Beispiel die Komplettierung der Grundimmunisierung. In diese hausärztliche Betreuung fällt die Abklärung bezüglich spezifischer Infektionskrankheiten je nach Herkunftsregion. Hierzu sei auf mehrere aktuelle Arbeiten im Swiss Medical Forum mit detaillierteren praktischen Richtlinien (2, 3, 4) hingewiesen.
In Tabelle 1 ist eine zusammenfassende Darstellung des rechtlichen Status und der damit verbundenen Art der Krankenversicherung.

Ärztliche Sprechstunde im Bundeszentrum – organisatorische Herausforderungen

Sprache: Sprachschwierigkeiten sind eine Herausforderung in der Interaktion mit Asyl-GS. Suboptimale Bedingungen, wie zum Beispiel Übersetzung durch Verwandte oder Wortsuche durch Übersetzungsprogramme können zu unsicheren Diagnosen und erfolglosen Behandlungen führen (5). Für eine ausführliche medizinische Untersuchung ist die Organisation eines Dolmetscherdienstes zwar mit Mehraufwand verbunden, aber langfristig sicher kosteneffizient. Leider ist die finanzielle Abgeltung durch die Versicherer nicht geklärt. Vom BAG empfohlen wird der (kostenpflichtige) nationale Telefondolmetscherdienst über http://0842-442-442.ch oder einen zertifizierten interkulturellen Dolmetschenden zu beanspruchen über www.inter-pret.ch (6).
Zeit: Die ärztliche Sprechstunde mit Migranten ist häufig zeitaufwändiger als sonstige Sprechstunden. Die Agenda muss dafür angepasst werden.
Kultur und Einfluss des Migrationsprozesses auf der Gesundheit des Patienten: Kulturspezifische Unterschiede in den Gesundheitsvorstellungen des Patienten und mögliche Stigmata in der «community» müssen berücksichtigt werden. Dazu gehören die Integration von kulturellen Aspekten, das Beachten des Fremdseins als sozialer Stress oder die Vermittlung von Allgemeinwissen über die Anatomie von Organen, Gelenken und Muskeln (7).

Die häufigsten Konsultationsgründe

Akute Beschwerden

Die häufigsten Beschwerden, welche im EVZ Bern zu einer Arztkonsultation führen, sind allgemeinmedizinischer Natur: z.Bsp. Kopfschmerzen, Lumbalschmerzen, Harnwegsinfekte oder virale Atemwegsinfektionen. Schwerwiegende Infektionen wie Malaria und Tuberkulose sind relativ selten. Bei kurzer Symptomdauer sollten somit zuerst häufige Erkrankungen erwogen und behandelt werden.

Chronische Erkrankungen

Das Spektrum der chronischen Erkrankungen entspricht häufig dem der Schweizer Bevölkerung gleichen Alters (Diabetes mellitus, kardiovaskuläre Krankheiten, chronische Schmerzen des Bewegungsapparates). Häufig kommen Asyl-GS mit medizinischen Unterlagen und sind medikamentös bereits adäquat eingestellt. Es kommt aber auch vor, dass notwendige Medikamente auf der Flucht nicht zur Verfügung standen. Die Dosierung der Medikamente sollte auf jeden Fall systematisch überprüft und an hiesige Richtlinien angepasst werden.

Zahnhygiene

Aufgrund des oft desolaten Zahnzustandes kommen Zahnschmerzen sehr häufig vor. Diese werden primär symptomatisch (NSAR, Paracetamol) behandelt. Auf Wunsch des Patienten oder beim Vorliegen eines Zahnabszesses kann eine Zahnextraktion durch einen Zahnarzt organisiert werden. Andere Kosten für Zahnbehandlung werden nicht übernommen.

Gynäkologie/Geburtshilfe

Kondome sind in den Bundeszentren das einzige verfügbare Verhütungsmittel. Erst nach dem Transfer auf die kantonale Ebene können andere Verhütungsmethoden evaluiert werden, wobei die Optionen kantonal unterschiedlich verfügbar sind. Bei Schwangeren wird im Bundeszentrum routinemässig eine MMR- und Varizellen-Serologie abgenommen, damit bei fehlender Immunität organisatorische Massnahmen getroffen werden können, die das Risiko einer Neuinfektion minimieren (z.B. Transfer in ein Zentrum ohne Kinder). Bei Kontakt mit Masern, Röteln oder Varizellen müssen sero-negative Frauen umgehend (wenn möglich noch gleichentags!) einer infektiologischen Sprechstunde zugewiesen werden, damit die Gabe von Immunglobulinen zur passiven Immunisierung evaluiert werden kann. Vitamin-Supplemente werden Schwangeren systematisch abgegeben sowie ein Termin zur gynäkologisch-geburtshilflichen Untersuchung organisiert.

Psychische Krankheiten

Trauma und Traumafolgestörungen sind bei Flüchtlingen häufig (8, 9). Schlafstörungen und depressive Symptome führen regelmässig zu ärztlichen Konsultationen im EVZ. Dabei spielen nicht nur vergangene Erfahrungen eine Rolle, sondern auch die belastende Lebenssituation in einer Kollektivunterkunft mit Mehrbettzimmern. Eine medikamentöse Therapie wird durch den Zentrumsarzt je nach Symptomen angeboten, bei schwerwiegenden Störungen wird eine psychiatrische Betreuung eingeleitet, wobei das Angebot an ambulanten Therapieplätzen leider sehr limitiert ist.
Eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) zeigt sich mit verschiedenen Symptomen, die Wochen bis Jahre nach dem Ereignis (länger als 4 Wochen) auftreten können. Typischerweise treten Flashbacks, Angstträume, Schlafstörungen, Reiz- barkeit, erhöhte Wachsamkeit, Schreckhaftigkeit oder Vermeidungsverhalten auf, im Sinne von aktivem Vermeiden von Situationen, die Erinnerungen an das Trauma wachrufen könnten. Diese Beschwerden bedürfen bei den meisten Personen keiner aktiven Intervention, sondern ebben ab, sobald sich ihre Lebenssituation stabilisiert hat. Bei Persistenz ist aber eine Zuweisung in eine psychotherapeutische Struktur mit transkulturellen Kompetenzen und qualifizierten Dolmetschern indiziert (10).

Suchtproblematik

Gelegentlich leiden Asyl-GS unter einer Suchtproblematik (unter anderem mit Opiaten oder Benzodiazepinen). Wir empfehlen Kontakt mit regionalen Suchtexperten aufzubauen (11).

«Advocacy»

Auf kantonaler Ebene können die Aufgaben des Hausarztes in der Behandlung von Migranten über die rein somatische und psychologische Betreuung der Patienten hinausgehen und umfassen oft auch politische, soziale und juristische Aspekte, die zum Teil als «patient advocacy» zu verstehen sind. Interdisziplinäre Arbeit mit Sozialarbeitern, Psychologen, Juristen u.a.m. sind häufig notwendig, insbesondere bei komplexen Situationen. Umgekehrt darf der Arzt auch die Mithilfe dieser erwähnten Stellen in der Betreuung der Asyl-GS in Anspruch nehmen.

Infektionskrankheiten bei asylsuchenden Erwachsenen

Der Grossteil der im Asylprozess stehenden Personen in der Schweiz (12) per Ende Februar 2018 (total 65‘451 Personen) stammt aus Asien (53%) sowie Afrika (37%). Die primären Ursprungsländer der Asylsuchenden aus Asien sind Afghanistan (18.5%), Syrien (15.6%), Irak (5.1%) und Sri Lanka (5.0%). In Afrika nehmen Eritrea (21%), Somalia (6.4%) und Äthiopien (2.3%) die ersten 3 Plätze der Herkunftsländer ein.
Im Umgang mit Asylsuchenden sind drei Bereiche zu unterscheiden: präventive Massnahmen, akute und chronische Infektionskrankheiten. Im Rahmen der Präventivmassnahmen stehen vor allem Impfungen im Vordergrund. Viele Asylsuchende geben an, Basisimpfungen in ihrem Land erhalten zu haben. Selten liegt jedoch ein Impfausweis vor. Bei einer weltweit geschätzten Impfrate zwischen 84% und 86% für 3 Impfdosen Tetanus, Diphterie, Pertussis und Polio sowie 64% für 2 Masernimpfungen (WHO, Global Health Observatory data) zeigen sich deutliche Impflücken.
Daher wird empfohlen, alle Asyl-GS als ungeimpft zu betrachten, und sie entsprechend dem Schweizerischen Impfplan nachzuimpfen. In den Bundesasylzentren ist seit Januar 2018 die Verabreichung von einer Impfdosis Diphtherie, Tetanus, Pertussis, Polio, MMR, Varizellen und (Hepatitis B) vorgesehen. Die weiteren Impfdosen sind nach Transfer in den Kanton zu ergänzen. Alternativ können Impftiter bestimmt werden, was im Allgemeinen jedoch weniger praktikabel ist (4).
Bei Symptomen wie Fieber, Husten, Schnupfen, Diarrhoe, Harnwegsbeschwerden sollte zuerst – wie oben erwähnt – an hiesige Erkrankungen wie virale Infekte, Gastroenteritis oder einen Harnwegsinfekt gedacht werden. Abhängig von der Dauer der Beschwerden, sollte jedoch niederschwellig an hier seltenere Krankheitsbilder gedacht werden. Da die Asyl-GS in der Regel nicht mit dem Flugverkehr in der Schweiz ankommen, sondern eine lange Reiseroute hinter sich haben, müssen insbesondere Infektionskrankheiten mit längeren Inkubationszeiten berücksichtigt werden. Beispielsweise ist bei Fieber mit persistierendem Husten plus B-Symptomatik an eine pulmonale Tuberkulose zu denken. Lymphadenopathie, unklare abdominelle oder neurologische Beschwerden können Hinweise für eine extrapulmonale Tuberkulose sein.
Andere seltenere Erkrankungen wie Brucellose, viscerale Leishmaniose, Trypanosomiasis, Filariosen, Amöben Leberabszess, sekundäre Syphilis sowie auch Hepatitiden (Hepatitis B oder C) präsentieren sich oft erst zu einem späteren Zeitpunkt. Auch die Malariaerreger Plasmodium ovale, vivax und malariae können potentiell mit einer Latenz bis zu vielen Jahren noch ursächlich für rezidivierendes Fieber sein. Selbstredend ist eine HIV Erkrankung ebenfalls immer eine wichtige Differentialdiagnose. Die Indikation zum Screening von HIV, Hepatitis B und C und anderer Infektionskrankheiten gemäss der jeweiligen Prävalenz im Herkunftsland sind anderweitig zusammengefasst (3).
Hautsymptome werden häufig durch Skabies (Juckreiz und Läsionen) verursacht. Sonstige Ulzera deuten eher auf klassische Hautkeime wie Streptokokken oder Staphylokokken hin. Bei persistierenden Diarrhoen sollten parasitäre Erreger (Giardia lamblia, Cryptosporidien oder schwere Nematodeninfektionen) abgeklärt werden. Bei chronischen Bauchschmerzen, Blut im Stuhl oder im Urin sollten niederschwellig Schistosomen gesucht werden.

Empfehlungen für die nachbehandelnden Ärzte in den Kantonen

  • Bei vielen Asylsuchenden ist die Sprachbarriere problematisch. Hierdurch kann die Anamneseerhebung deutlich erschwert und mit einem höheren Zeitaufwand verbunden sein. Wenn möglich sollten daher im Vorfeld Übersetzungshilfen eingeplant werden.
  • In Rahmen der Präventivmassnahmen sollte bei allen Asylsuchenden der Impfstatus überprüft werden und, wenn nicht nachvollziehbar, nach dem Schweizer Impfschema nachgeimpft werden in der Annahme, sie seien ungeimpft – sofern keine Kontraindikationen bestehen. Gemäss den Risikogebieten in der Schweiz soll den Asyl-GS auch eine FSME-Impfung angeboten/empfohlen werden.
  • Bei Fieber, oder sonstigen Hinweisen auf einen Infekt sollte bei schon längerem Aufenthalt primär an hiesige Infektionen gedacht werden. Infektionen mit Bezug zum Herkunftsland können bei Neuankömmlingen relevant sein. Bei unklarer AZ-Verschlechterung und Infektzeichen sowie bei entsprechender Herkunft sollte immer an eine Tuberkulose gedacht und ggf. ausgeschlossen werden. Bei unklarem Infekt ebenfalls immer an einen HIV Test denken.
  • Wichtig für Frauen ist v.a. das Thema Verhütung, da in den Heimatländern oftmals kein Zugang zu Kontrazeptiva besteht.
  • Je nach Herkunftsland und dementsprechend Einflüssen durch Krieg oder Gewalt sollte die Notwendigkeit einer psychologischen Betreuung eruiert werden. Gegebenenfalls müssen die Patienten wegen Substanzmissbrauch oder Suchtproblematik einer spezialisierten Einrichtung angeschlossen werden.
  • Oftmals haben Asylsuchende eine reduzierte Zahngesundheit. Zuweisung zu einer Zahnpflege/-sanierung ist notwendig.
Dr. med. Sophie Bauer

Universitätsklinik für Infektiologie
Inselspital
Universitätsspital Bern
3010 Bern

Dr. med. Yvonne Schmiedel

Universitätsklinik für Infektiologie
Inselspital
Universitätsspital Bern
3010 Bern

Die Autorinnen verneinen finanzielle Beiträge oder andere finanzielle oder persönliche Interessenskonflikte mit der hier eingereichten Arbeit.

  • Auf Bundesebene erhalten alle Asyl-GS nach Registration eine medizinische Erstinformation über das schweizerische Gesundheitswesen und können freiwillig eine medizinische Erstkonsultation in Anspruch nehmen.
  • Das früher obligatorische Screening auf bestimmte Infektionskrank-heiten ist durch eine Abklärung bei vorhandenen Symptomen ersetzt, wobei bei der Anamnese insbesondere Hinweise für Tuberkulose miterfasst werden.
  • Beschwerden allgemeinmedizinischer Natur wie Kopfschmerzen, Lumbalschmerzen, Harnwegsinfekte oder virale Atemwegsinfektionen führen im EVZ Bern am häufigsten zu einer Arztkonsultation. Das Spektrum chronischer Erkrankungen entspricht meistens dem der Schweizer Bevölkerung gleichen Alters. Der Zahnstatus ist oft desolat. Psychische Krankheiten, insbesondere posttraumatische Belastungsstörungen sind häufig.
  • Nach langer Anreisezeit sind Infektionen mit längeren Inkubationszeiten in Betracht zu ziehen, wie insbesondere Tuberkulose, aber auch andere Tropenkrankheiten, sekundäre Syphilis, chronische Hepatitiden und HIV.

1. Quelle: https://www.bag.admin.ch/bag/de/home/themen/mensch-gesundheit/uebertragbare-krankheiten/infektionskontrolle/gesundheitsversorgung-asylsuchende.html
2. «Migrantenkinder in der Praxis»: Schweiz Med Forum 2017;17(50):1124-1132
3. «Infektionen bei erwachsenen Flüchtlingen»: Schweiz Med Forum 2016;16(4950):1067-1074
4. «Impfungen bei erwachsenen Flüchtlingen»: Schweiz Med Forum 2016;16(4950):1075-1079
5. Karliner LS et al. Do Professional Interpreters Improve Clinical Care for Patients with Limited English Proficiency? A Systematic Review of the Literature. Health Serv Res. 2007;42(2):727–754.
6. www.inter-prêt.ch, www.medios.ch, Sleptsova M et al. Patient, Dolmetscher, Fachperson: Eine Kurzanleitung für erfolgreiche Gespräche. Broscüre 2012. Universitätsspital Basel.
7. Sleptsova M et al. Migranten empfinden Schmerzen anders. Schweiz Med Forum 2009;9(17):319–321
8. Steel et al. Association of Torture and Other Potentially Traumatic Events With Mental Health Outcomes Among Populations Exposed to Mass Conflict and Displacement. A Systematic Review and Meta-Analysis. JAMA 2009; 302(5), 537-549
9. Pfortmüller C et al. Adult Asylum Seekers from the Middle East, including Syria, in Central Europe: What are their Health Care Problems? PLoS ONE 11(2): e0148196.
10. www.torturevictims.ch, www.migesplus.ch
11. http://www.suchtschweiz.ch
12. https://www.sem.admin.ch/sem/de/home/publiservice/statistik/asylstatistik/archiv/2018/02.html