Selbstdispensation als Plus – erste Erfahrungen aus dem Kanton Schaffhausen

Eine eigene Patientenapotheke bringt in der Summe nur Vor-
teile – so meine Erfahrungen nach einem Jahr. Patientinnen und Patienten schätzen die neue Möglichkeit, ihre Medikamente direkt bei ihrer Ärztin oder ihrem Arzt beziehen zu können. Wir als Ärztinnen und Ärzte können dank der direkten Arzneimittelabgabe eine bessere und im Idealfall kostengünstigere Behandlung anbieten. Ein Votum für die Selbstdispensation!

Seit dem 1. Januar 2018 ist die ärztliche Medikamentenabgabe, Selbstdispensation (SD) genannt, im ganzen Kanton Schaffhausen zulässig. Bis hierher war es ein langer Weg. So mussten die Schaffhauser Stimmberechtigten erst noch davon überzeugt werden, dass auch Ärztinnen und Ärzte in den Städten Schaffhausen und Neuhausen eine Patientenapotheke führen dürfen. Mit 71,5 Prozent JA-Stimmen gelang dies am 25. November 2012. Hierdurch stiess der Kanton Schaffhausen zur Riege der SD-Kantone dazu. Nach einem Jahr mit eigener Patientenapotheke ziehe ich eine positive Bilanz!

Wahlmöglichkeit wird geschätzt

Neu haben meine Patientinnen und Patienten die Wahl, das verordnete Medikament gegen Rezept in der Apotheke oder direkt bei mir zu beziehen. Dies wird sehr geschätzt. Zumal die Möglichkeit, wählen zu dürfen, als positives Erlebnis empfunden wird. Zudem erleichtert die ärztliche Arzneimittelabgabe den Alltag der Patientinnen und Patienten. Erhalten sie ihr Medikament doch ohne weitere Umwege. Aus Sicht der Patientinnen und Patienten bietet die SD als Dienstleistung einen effektiven Mehrwert. Hierdurch, so meine Erfahrung, hat sich die Arzt-Patienten-Beziehung verbessert.

Behandlung aus einem Guss

Auch für mich als Arzt bietet die SD grosse Vorteile. So kenne ich neu nicht nur die Inhaltsstoffe der Medikamente, sondern weiss auch, wie die Verpackungen ausschauen und welche Form und Farbe die Präparate haben. Sprechen Patientinnen und Patienten zum Beispiel von einer kleinen, weissen Tablette, kann ich damit etwas anfangen. Nötigenfalls hole ich in meiner Patientenapotheke ein Medikament zum Vergleich. In diesem Zusammenhang habe ich die Erfahrung gemacht, dass das Vertrauen gegenüber dem verordneten Arzneimittel zugenommen hat, weil ich es direkt abgebe. Dies verstärkt den Placeboeffekt und fördert die Therapietreue. Demgegenüber konnte ich mir früher nicht sicher sein, ob die Patientinnen und Patienten nach der Abgabe des Rezepts auch mit der Therapie begannen. Ebenso positiv beurteile ich den Wegfall einer Schnittstelle, verunsicherten Kommentare von Mitarbeitenden in Apotheken meine Patientinnen und Patienten doch immer wieder mal. Ein weiterer Vorteil der direkten Abgabe ist, dass ich nicht mehr mit den negativen Folgen der Substitution von Generikum A durch Generikum B durch Generikum C zu kämpfen habe.

Kostenbewusstsein gestärkt

Seitdem ich eine Patientenapotheke führe, erscheinen die verordneten und abgegebenen Medikamente auch auf meiner Rechnung. Ich kenne also den Preis. Neu muss ich mich rechtfertigen, wenn ich ein teureres Arzneimittel als notwendig verschreibe. Bei der Bestückung meiner Patientenapotheke war der Preis ein nicht zu unterschätzender Faktor, zumal ich ja die gesamten Kosten vorfinanzieren musste. Im Ergebnis gebe ich mehr Generika als früher ab. Auch dies wird von meinen Patientinnen und Patienten geschätzt. Zudem müssen sie gegenüber dem Bezug in einer Apotheke keine Leistungsorientierte Abgabe (LOA) bezahlen, was ein weiterer Vorteil ist.

Optimierte Praxisabläufe

Dass die Einrichtung einer eigenen Patientenapotheke auch positive Auswirkungen auf unsere Abläufe haben könnte, hätte ich nicht gedacht. So haben wir in unserer Praxisgemeinschaft im Rahmen der Einrichtung unserer Patientenapotheke zahlreiche Prozesse durchleuchtet und je nachdem optimiert.
Dies hat sich äusserst positiv auf unsere Organisation im Allgemeinen ausgewirkt. Zudem haben unsere MPA nun ein neues Aufgabenfeld. Für sie bedeutet dies interessantere und abwechslungsreichere Arbeitstage.

Alles nur positiv?

Nach einem Jahr mit eigener Patientenapotheke lässt sich festhalten, dass die Vorteile klar überwiegen. Dennoch gilt es einiges zu bedenken: So müssen je nachdem bauliche Veränderungen vorgenommen werden, um regelkonform eine Patientenapotheke einzurichten. Auch benötigt man zusätzliches Personal und man muss seine Patientenapotheke immer up to date halten. Auch das finanzielle Risiko sollte man nicht unterschätzen. Dennoch bleibe ich dabei: In der Summe hat sich das Einrichten einer eigenen Patientenapotheke gelohnt. Sie ist ein Gewinn für meine Patientinnen und Patienten, für meine Mitarbeitenden und auch für mich. Ich kann die SD also nur jeder Ärztin und jedem Arzt empfehlen.

Dr. med. Benjamin Heinz

Kinderschutz

Kinderschutz und Kenntnisse über die verschiedenen Aspekte von Kindsmisshandlungen sind ein wichtiger Bestandteil der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. Die Erkennung – auch von subtilen Zeichen einer Misshandlung, ist wesentlich, denn nur so können notwendige Schritte zum Schutz des Kindes eingeleitet werden.

Grundversorger spielen darüber hinaus eine wesentliche Rolle in der Erfassung von möglichen Risikofaktoren und Problemen, die eine Familie belasten. Das frühzeitige Ansprechen und die Einleitung von verschiedenen Unterstützungsmassnahmen ist ein wesentlicher Aspekt in der Prävention von Misshandlungen.
In der Schweiz erfasst die Fachgruppe Kinderschutz der schweizerischen Kinderkliniken seit 2009 Kinder, die wegen möglicher oder sicherer Kindsmisshandlung im Spital ambulant oder stationär behandelt werden. Im Jahr 2017 wurden insgesamt 1730 Fälle gemeldet, was im Vergleich zum Vorjahr einer Zunahme von knapp 10% entspricht (Tab. 1) (1).
Die Geschlechterverteilung ist mit 44% Knaben und 56% Mädchen relativ ausgeglichen. Die grosse Mehrheit der Misshandlungen findet im häuslichen Rahmen statt (Ausnahme sexuelle Misshandlung). Knapp zwei von fünf misshandelten Kindern sind von psychischer Misshandlung betroffen. Darunter fallen auch viele Kinder, die häusliche Gewalt zwischen den Eltern miterleben. Jedes 6. misshandelte Kind ist jünger als ein Jahr alt, 46% der misshandelten Kinder sind jünger als sechs Jahre.
Kinderschutzfälle, die von anderen Institutionen oder Fachstellen betreut werden, sind in dieser Statistik nicht enthalten, d. h. die Anzahl der Kinderschutzfälle ist deutlich höher.
Die Zahlen unterstreichen die Tatsache, dass Kindsmisshandlung in all seinen Formen ein häufiges Problem im medizinischen Alltag darstellt. Die frühe Erkennung ist für die Prognose entscheidend. Kinderschutz gehört somit in den Verantwortungsbereich aller Institutionen und Fachpersonen, die beruflich mit Kindern zu tun haben. Kinderschutz sollte eine im medizinischen Alltag integrierte Denkweise in Hinblick auf Sensibilisierung, Wahrnehmung und bewusste Beobachtung sein (2).

Die Rolle der Grundversorger

Den Grundversorgern − Kinder- und Hausärzten − kommt im Kinderschutz eine wichtige Rolle zuteil. Einerseits in der Prävention, anderseits in der Erkennung von Misshandlungen.
Durch die langjährige Betreuung der Familie besteht ein Vertrauensverhältnis mit Kenntnissen über die familiäre Situation sowie möglichen soziofamiliären Belastungen. Das bewusste Ansprechen auf Belastungen, schwierige Situationen sowie vorhandene Ressourcen ist ein wichtiger Bestandteil der hausärztlichen Aufgaben. Es ist dabei wesentlich, dass Belastungen ernst genommen werden. Von Vorteil ist dabei auch die gute Vernetzung der Grundversorger mit z. B. der Mütter- und Väterberatung, der Schule und sonstig involvierten Therapeuten und Fachstellen. Einerseits als Informationsquelle, anderseits zur Unterstützung der Familie. Zusätzlich sollten Eltern an die entsprechenden Beratungsstellen wie Sozialdienst, Fachstellen, Elternnotruf, Frauenhaus, etc. verwiesen werden. Dies kann in verschiedenen Situationen zu einer Stabilisierung führen und präventiv wirken.
Da ein erheblicher Anteil der misshandelten Kinder unter 1 bzw. 6 Jahre (46%) alt ist, kommt den frühen ärztlichen Kontrollen und Vorsorgeuntersuchungen eine wichtige Rolle zuteil. Oft sind es die einzigen Kontakte, die Kleinkinder und deren Familien mit Fachpersonen haben. Es ist deshalb notwendig, dass Grundversorger über Kenntnisse verfügen, Zeichen einer Misshandlung zu erkennen. Denn das frühzeitige Erkennen von Risikosituationen und Misshandlungen ist wesentlich. Wobei sich die Situationen unklar darstellen können und Unsicherheiten bezüglich Einschätzung und Vorgehen auslösen. Die Möglichkeit eines niederschwelligen Austausches mit Fachpersonen zur Einschätzung der Gefährdungssituation und des weiteren Vorgehens ist wichtig. Hierfür stehen einerseits die Kinderschutzgruppen der Kinderspitäler, regionale Kinderschutzgruppen oder sonstige Fachstellen zur Verfügung.
Insbesondere bei jüngeren Kindern sind Kenntnisse über subtile Misshandlungszeichen wichtig. Es handelt sich dabei um keine schweren Verletzungen, deren Vorkommen jedoch als Alarmzeichen gewertet werden müssen. Es ist wichtig, diese sogenannten «sentinel injuries» zu erkennen.

Hämatome

Hämatome sind ein ausgesprochen häufiger Befund bei der Untersuchung von Kindern. Die Anzahl nimmt zu, je älter und je mobiler ein Kind wird. Zudem können Hämatome im Rahmen von verschiedenen Erkrankungen auftreten (z. B. Gerinnungsstörungen, Leukämien, Infekte, Bindegewebserkrankungen, etc.). Aber Hämatome sind auch oft das einzige oder das erste Zeichen einer Kindsmisshandlung. Im Verlauf kann es zu einer Eskalation der Gewalt kommen mit in der Folge schwerer Kindsmisshandlung. In einer im 2013 im Pediatrics publizierten Studie (3) konnten bei insgesamt 27,5% der Kinder, die eine sichere Misshandlung erlitten hatten, kleinere Verletzungen im Vorfeld nachgewiesen werden. In 80% handelte es sich dabei um Hämatome, in 11% um orale Verletzungen. Die Mehrzahl dieser Kinder war jünger als 7 Monate, davon waren 2/3 jünger als 3 Monate. Das Vorkommen war in 41,9% der Fälle medizinischen Fachpersonen aufgefallen, ohne dass weitere Massnahmen oder Abklärungen eingeleitet wurden. In einer weiteren Studie (4) mit Kindern zwischen 3-14.5 Monaten, die ein nicht akzidentelles Schädel-Hirn-Trauma erlitten, zeigten 11.7% der Kinder Hämatome im Vorfeld.
Dies zeigt, wie wichtig die Erkennung von Hämatomen ist als Hinweis für eine stattgefundene Kindsmisshandlung und für die Vermeidung nachfolgender, womöglich eskalierender und lebensbedrohlicher Gewalt. Insbesondere bei Säuglingen und jungen Kleinkindern.
Im 2017 publizierte das Royal College of Paediatrics and Child Health eine Review-Studie (7) über Hämatome mit dem Ziel, Merkmale zu erfassen, die eine Unterscheidung von Unfall versus Misshandlung ermöglichen sollen. Verschiedene andere Studien (5-10) haben diese Thematik ebenfalls aufgenommen. Folgende Kriterien sind wesentlich:

Akzidentelle Hämatome

  • je älter die Kinder und je mobiler, umso häufiger treten Hämatome auf
  • am häufigsten sind die exponierten Stellen an der Vorderseite des Körpers betroffen, über knöchernen Vorsprüngen (Abb. 1)

Alarmzeichen, die hinweisend für eine Misshandlung sein können

  • Hämatome bei nicht mobilen Kindern, insbesondere bei Babies
    • those who don’t cruise, rarely bruise!
  • Unübliche Lokalisationen
  • Hämatome entfernt von exponierten Stellen
  • Hämatome bei den Ohren, Gesicht, Hals, Stamm und Gesäss /Genitale (Abb. 2)
  • Hämatome in Gruppen oder von gleicher Form
  • Aussehen der Hämatome
    • Abdrücke von Gegenständen
    • Handabdrücke sowie Kneif-, Griffmarken (Abb. 3)
    • petechiale Veränderungen

Orale und dentale Verletzungen

In mehr als 50 % der körperlichen Misshandlungen sind der Kopf- und Halsbereich betroffen. Oft ist dabei auch der Mundbereich betroffen, so zeigen sich z. B. Lippen-, Frenulum-, Zungen- und andere intraorale Verletzungen, inklusive Zahnverletzungen. Hervorgerufen werden diese entweder durch ein direktes Trauma oder z. B. durch das Hineindrücken oder Herausreissen von Schoppenflaschen, Nuggies oder anderen Gegenständen. Manchmal auch durch heisse Flüssigkeiten / Speisen (12-16). Am häufigsten werden Lippen-und Frenulumverletzungen beschrieben (Abb. 4-6).
Die sorgfältige Untersuchung des Mundbereichs ist deshalb notwendig. Bei Unklarheiten bezüglich Unfallmechanismus oder sonstigen Auffälligkeiten ist eine weiterführende Abklärung bezüglich möglicher Misshandlung indiziert. In einer Studie (11) konnte ausserdem gezeigt werden, dass Kinder, welche aufgrund einer misshandlungsbedingten oralen Verletzung abgeklärt wurden, oft okkulte Verletzungen aufwiesen (z. B. Frakturen, SHT, etc.). Und wie bei den Hämatomen kann es sich um einen ersten, aber ernst zu nehmenden Hinweis für eine Misshandlung sein.

Mögliche Verletzungen

  • Hämatome oder Abrasion / Lazeration der Zunge, Lippen, Mucosa, Gaumen, Gingiva, Frenulum (Abb. 4– 6)
  • Zahnfrakturen, Zahndislokation, Zahnavulsion
  • Fraktur Mandibula, Maxilla

Grundsätzliche Überlegungen, die bei jeder Verletzung erfolgen sollten

  • Passt die Verletzung zum beschriebenen Unfallhergang?
  • Verletzung zu schwer – zu viele – unübliches Muster
  • Passt die motorische Entwicklung des Kindes zum beschriebenen Unfallhergang?
  • Ist der beschriebene Unfallhergang glaubhaft?
  • Wird die Schilderung geändert: bei erneuter Nachfrage oder nach Aussage des Kindes?
  • Verhalten der Eltern, verzögertes Aufsuchen des Arztes? Verhalten des Kindes?
  • Werden medizinische Abklärungen abgelehnt?
  • Hinweise für Grunderkrankung, andere Erkrankung?
  • Wiederholte Verletzungen / Aufnahmen?
Dr. med. Tamara Guidi Margaris

Stv. Chefärztin, Leiterin Kinderschutzgruppe
Ostschweizer Kinderspital Claudiusstrasse 6
9006 St. Gallen

tamara.guidi@kispisg.ch

Die Autorin hat keine Interessenskonflikte im ­Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.

  • Grundversorger spielen eine wichtige Rolle in der Erkennung von Misshandlungen und in der Prävention
  • Kenntnisse über mögliche Verletzungsmuster bei der körperlichen Misshandlung sowie über subtile Zeichen als erste Hinweise für eine Misshandlung sind wesentlich
  • Der Austausch und die Vernetzung mit Fachstellen kann in der Beurteilung hilfreich sein

Literatur:
1 Wopmann M für die Fachgruppe Kinderschutz an schweizerischen Kinderkliniken. Nationale Kinderschutzstatistik 2017. www.Kinderschutz.ch und www.swiss-paediatrics.org.
2 Kinderschutzarbeit an schweizerischen Kinderkliniken. Schweiz Ärzteztg; 2000; 81(28):1576
3 Sheets LK et al. Sentinel Injuries in Infants Evaluated for Child Physical Abuse. Pediatrics; April 2013; Volume 131, Issue 4
4 Letson MM et al. Prior opportunities to identify abuse in children with abusive head trauma. Child abuse and neglect; October 2016; 60: 36-45
5 The Royal College of Paediatrics and Child Health (RCPCH). Child Protection Evidence Systematic review on Bruising. Published: July 2017
6 Sugar NFS et al. Bruises in infants and toddlers—those who don’ t cruise rarely bruise. Arch Pediatr Adolesc Med; 1999; 153: 399–403
7 Mortimer PE et al. Are facial bruises in babies ever accidental? Arch Dis Child; 1983; 58: 75–6
8 Tlyyagura G. et al. Nonaccidental Injury in Pediatric Patients: Detection, Evaluation, and Treatment. Pediatric Emergency medicine Practice; July 2017; Volume 14, Number 7
9 Petska HW. Sentinel injuries: subtle findings of physical abuse. The Pediatric clinics of North America; 2014; Volume: 61 – Issue: 5; 923-935
10 Pierce M. Bruising characteristics from unintentional injuries in children: the „green flag“study. Arch Dis child; December 2017; Volume 102, Issue 12
11 Dorfman MV et al. Oral injuries and occult harm in children evaluated for abuse. Arch Dis Child; 2018; 103:747-752
12 Fisher-Owens SA et al. Oral and dental aspects of child abuse and neglect. Pediatrics; 2017; 140: e20171487
13 American Academy of Pediatrics. Oral and Dental Aspects of Child Abuse and Neglect. Pediatrics; August 2017; Volume 140, Issue 2
14 American Academy of Pediatric Dentistry. Clinical guideline on oral and dental aspects of child abuse and neglect. Pediatric Dent; 2004, 26 (7 Suppl.): 63-6

Altersbedingte Anorexie und Ernährungsstörung

Veränderungen in der Appetitregulation, auch ohne einen spezifischen pathologischen Prozess, und die daraus resultierende Appetitlosigkeit werden unter dem Begriff «Anorexie» zusammengefasst. Diese Entität ist eines der wichtigsten geriatrischen Syndrome mit Auswirkungen auf Lebensqualität, Morbidität und Mortalität. Ihre Ätiologie ist multifaktoriell und beinhaltet eine Kombination von physiologischen, pathologischen und sozialen Faktoren. Ohne angemessenes Management ist die wichtigste Komplikation die Protein-Kalorien-Mangelernährung.

Epidemiologische Studien zeigen, dass etwa 4% der zu Hause lebenden älteren Menschen (> 75 Jahre) an einer Mangelernährung leiden. In Pflegeinstitutionen schwankt diese Prävalenz zwischen 15 und 38% und kann in Krankenhäusern bei physischem und psychischem Stress bei bereits fragilen Patienten 50 bis 60% erreichen (1, 2).
Gemäss epidemiologischer Daten aus der Schweiz steigt die Prävalenz von Mangelernährung in Spitälern proportional zum Alter an: < 54 Jahre: 8%, 55-64 Jahre: 11%, 65-84 Jahre: 22%; > 84 Jahre: 28% (3, 4).

Mechanismen der Anorexie bei älteren Menschen

Appetit resultiert aus einem komplexen Zusammenspiel von genetischen, physiologischen und psychologischen Regulationsmechanismen, die noch nicht alle vollständig verstanden sind (5). Die Appetitregulation erfolgt zentral auf der Ebene des Hypothalamus, wo komplexe Wechselwirkungen zwischen dem ventromedialen hypothalamischen Kern (Sättigungsgefühl), dem lateralen hypothalamischen Kern (Hungergefühl) und dem Nucleus arcuatus auftreten (6). Dieser befindet sich an der Basis des Hypothalamus und ist der Hauptkoordinator der peripheren Signale. Die Kommunikation mit den darüberliegenden Hirnzentren erfolgt über das Neuropeptid Y und das Agouti-Peptid in Form einer Aktivierung von Neuronen, die appetitfördernde oder -hemmende Peptide freisetzen. Dieser zentrale Pfad wird durch das Hungergefühl aktiviert und durch periphere Sättigungssignale verlangsamt. Das zentrale Nahrungsaufnahme-System erhält zusätzliches Feedback von Fettzellen, spezifischen Nährstoffen und zirkulierenden Hormonen (5).
Peptidhormone werden als ein wesentlicher Bestandteil der peripheren Appetitregulation betrachtet und als Reaktion auf Nahrungsreize freigesetzt. Diese Hormone werden als anorexigen (Sättigungshormone) oder orexigen (Hungerhormone) klassifiziert. Anorexigene Hormone sind das YY-Peptid (PYY), das Glucagon-like Peptid-1 (GLP-1), das pankreatische Polypeptid (PP) und das Cholecystokinin (CCK). Leptin, ebenfalls anorexigen, wird aus dem Fettgewebe freigesetzt und beeinflusst die langfristige Energiebilanz. Das einzige bekannte orexigene Hormon ist Ghrelin (5). Insulin gilt als anorexigen und wird von den Beta-Zellen der Bauchspeicheldrüse nach einer Mahlzeit freigesetzt (7).
Mehrere Hypothesen über mögliche Veränderungen in diesem komplexen System im Alter wurden aufgestellt, wie z.B. eine Verringerung der Produktion oder Wirkung von Ghrelin, eine Zunahme der CCK-Sekretion oder -Wirkung. Diese Veränderungen zeigen sich durch eine frühzeitige und/oder langanhaltende Sättigung oder durch Veränderungen der Insulin-, GLP-1-, PP- und Oxyntomodulin-Sekretion. Die Ergebnisse der verschiedenen bisher durchgeführten Studien sind jedoch noch nicht präzis genug, um die genauen physiologischen Mechanismen der altersbedingten Anorexie zu identifizieren (5).
Es hat sich gezeigt, dass Altern mit Verlust der kompensatorischen Hyperphagie nach einer Periode unzureichender Nahrungsaufnahme einhergeht (8, 9).
Klinische Veränderungen, die an einer Anorexie bei älteren Menschen beteiligt sind, beinhalten Veränderungen in der Wahrnehmung, insbesondere eine Abnahme des Geschmacks- und Geruchsempfindens, die proportional zum Alter ist. Die Geschmacksnerven verkümmern und vermindern sich anzahlmässig. Eine zusätzliche Belastung stellen Rauchen, verschiedene Medikamente und schlechte Mundhygiene dar. Der Geruchssinn wird durch Veränderungen im olfaktorischen Epithel, eine Verringerung der Schleimsekretion, Veränderungen der Dicke des Epithels und eine reduzierte Regeneration der olfaktorischen Rezeptoren beeinflusst. Am stärksten betroffen ist der Geschmackssinn für salzig und süss (6).
Andere physiologische Ursachen der Anorexie bei älteren Menschen sind Veränderungen der Magen-Darm-Tätigkeit, die eine frühzeitige Sättigung im Zusammenhang mit einer verminderten Fundus-Compliance verursachen. Die Stickoxid-Sekretion nimmt am Magenfundus ab, was mit einer verminderten Magen-Compliance und einer schnelleren Antrum-Füllung einhergeht. Eine verlangsamte Magenentleerung, verbunden mit einer Hypazidität infolge einer chronischen Gastritis oder iatrogen (PPI), trägt zu einer frühen Sättigung und einer Verlängerung der Sättigungsperiode bei (10).
Eine chronische, niederschwellige Entzündung in Verbindung mit erhöhten Zytokin-Konzentrationen (IL1, IL6) und TNFα ist ein altersbedingter Prozess, der unabhängig von einer spezifischen Pathologie auftreten kann. Sie trägt zur Verringerung der Magenentleerung und der Darmmotilität bei, stimuliert direkt und indirekt den Leptinspiegel und trägt zur Aufrechterhaltung der ungenügenden Nährstoff-zufuhr bei (10).
Tabelle 1 fasst die wichtigsten Mechanismen der Anorexie bei älteren Menschen zusammen.

Risikofaktoren

Der individuelle Nährstoffbedarf älterer Menschen wird durch mehrere Faktoren bestimmt.
Während des Alterns führt ein reduzierter Energiebedarf zu einer physiologischen Abnahme der Kalorienzufuhr. Diese Veränderungen sind mit einem Umbau des Körpergewebes in Form von erhöhtem Körperfett, verminderter Muskelmasse und vermindertem Wasseranteil im Organismus vergesellschaftet (6).
Funktionelle Einschränkungen in den Aktivitäten des täglichen Lebens sind mit reduzierter Nahrungsaufnahme und Appetitverlust verbunden. Zusätzliche Faktoren sind Zahnschäden oder schlecht angepasste Prothesen.
Soziale Isolation spielt neben dem allgemeinen Interessensverlust an Dingen des Lebens, wie auch der Nahrung, eine wichtige Rolle. Darüber hinaus kann sie auch Depressionen fördern, was als erschwerender Faktor hinzukommt (10, 11).
Die Polymorbidität spielt eine sehr wichtige Rolle. So können Krankheiten wie Krebs, chronisch obstruktive Lungenerkrankung, mesenteriale Angina (postprandiale abdominale Schmerzen), Verstopfung (Völlegefühl im Oberbauch bewirkend) sekundär eine Anorexie des älteren Menschen induzieren. Andere Erkrankungen, die häufig Anorexie und Kachexie verursachen, sind chronische Nieren- und Herz-Kreislauf-Erkrankungen, die mit erhöhtem oxidativem Stress einhergehen. Gastroparese, verursacht durch Krankheiten wie Diabetes oder Parkinson, ist mit Appetitabnahme und verminderter Magenentleerung verbunden. Tabak- und Alkoholkonsum wirken sich ebenfalls negativ auf Appetit und Nahrungsaufnahme aus. Auch Depression und Demenz verursachen zu einem hohen Prozentsatz Pathologien, die Appetitlosigkeit nach sich ziehen (6).
Häufig verursachen akute Pathologien Appetitabnahme oder sogar Appetitverlust. Es hat sich ferner gezeigt, dass etwa zwei Drittel der älteren Menschen bereits im Monat vor einem Krankenhausaufenthalt eine ungenügende Eiweiss- und Kalorienaufnahme aufwiesen. Dies wurde als begünstigender Faktor für einen Krankenhausaufenthalt bei anfälligen älteren Menschen betrachtet und auf einen wechselseitigen Zusammenhang zwischen akuter Krankheit und Appetitlosigkeit geschlossen (12).
Die iatrogene Komponente der Anorexie bei älteren Menschen besteht in der Polymedikation. Viele der regelmässig verschriebenen Medikamente haben als Nebenwirkungen u.a. Mundtrockenheit, Geschmacksveränderungen, Übelkeit, Verstopfung und können sogar einen direkten Einfluss auf den Appetit haben (6). Über die Häufigkeit einer klassischen Anorexia mentalis im Alter sind keine Angaben bekannt.

Folgen der Anorexie bei älteren Menschen

Die direkte Folge sind proteino-kalorische Mangelernährung mit Vitamin- und Mikronährstoffmangel. In Verbindung mit verminderter körperlicher Aktivität führt dies zu Sarkopenie, verminderter Knochenmasse, Dysfunktion des Immunsystems, Anämie, kognitiven Einschränkungen, verminderter Wundheilungs- und Rehabilitationsfähigkeit und allgemeiner Fragilisierung (10, 13). Stürze, als Folge davon, können zu erhöhter Morbidität, längerer Dauer des Krankenhausaufenthaltes und letztlich zu Mortalität führen. Die verschiedenen Komplikationen, die im Kontext der Fragilität auftreten, führen zu einem Teufelskreis, der die Anorexie und damit die Protein-Kalorien-Mangelernährung verschärft. Mit jedem neuen Ereignis ist die Erholung nicht nur schwieriger, sondern auch unvollständig. Das Mortalitätsrisiko (alle Ursachen zusammen) älterer Menschen mit Ernährungsstörung (10, 14) scheint doppelt so hoch zu sein wie das von Senioren ohne Anorexie (10, 14).

Screening von Anorexie bei älteren Menschen

Jeder ältere Mensch weist aus den bereits genannten physiologischen Gründen ein Anorexie-Risiko auf. Daher sollte ein Screening der entsprechenden Risikofaktoren durchgeführt werden.
Der vereinfachte Fragebogen zur Ernährungsbewertung (Simplified Nutritional Appetite Questionnaire SNAQ) ist ein einfaches In-strument mit gutem prädiktivem Aussagewert bezüglich Risiko für Gewichtsverlust und Protein-Energie-Mangelernährung (15, 16).
Für das Screening auf Mangelernährung ist das MNA-Tool (Mini Nutritional Assessment) ein einfaches Instrument. Es handelt sich um einen Fragebogen, der Veränderungen bezüglich Appetit, Nahrungsaufnahme, Gewicht, Body Mass Index (BMI) und assoziierten Stressfaktoren identifiziert. Dieser berücksichtigt neben der Mobilität der Person auch allenfalls assoziierte kognitive Störungen. Der Score am Ende der Befragung lässt eine Einteilung in «ausreichend ernährt», «Risiko für eine Mangelernährung» oder «unterernährt» zu. Die Sensitivität dieses Tests beträgt 96% mit einer Spezifität von 98% und einem positiven Vorhersagewert von 97% für die Diagnose von Mangelernährung (17-19).
Ein weiteres Screening-Tool ist das Nutrition Risk Screening (NRS), das den Grad des Ernährungszustands unter Berücksichtigung des Schweregrades einer bestehenden akuten Erkrankung bewertet (20).

Prävention und Behandlung

Die Vorbeugung und Behandlung von Anorexie muss auf mehreren Ebenen erfolgen. Leider gibt es derzeit keine pharmakologische Behandlung. Daher müssen andere Massnahmen ergriffen werden.
In diesem Sinne ist es wichtig, Aromen und Gerüche sowie Farben und Texturen von Lebensmitteln zu intensivieren, um den Geschmack zu verstärken und den visuellen Aspekt der Appetitanregung zu beeinflussen. Wichtig ist auch eine abwechslungsreiche Ernährung (21, 22). Restriktive salzarme Diäten sollten vermieden werden, selbst in Situationen, in denen sie gewöhnlich indiziert sind. Vereinsamung könnte durch Förderung der Teilnahme an sozialen Aktivitäten, wie sie verschiedene Organisationen für ältere Menschen oder Tagesstätten bieten, begrenzt werden.
Die vielen Medikamente, die einen direkten oder indirekten Einfluss auf den Appetit haben können, müssen analysiert und deren Indikationsstellung anhand der STOPP/START-Liste überprüft werden (23). Hierbei handelt es sich um eine Arzneimittelliste, die von einer europäischen Expertengruppe mittels validierter Kriterien erstellt wurde, um unangemessene Arzneimittel-Verschreibungen zu vermeiden und gleichzeitig erforderliche Arzneimittel nicht wegzulassen (23). Beispiele sind gängige Substanzen wie Anxiolytika und einige Antidepressiva, Antihistaminika, einige blutdrucksenkende Medikamente, NSAR und antilipämische Medikamente. Eine Liste dieser Medikamente sowie deren Mechanismen, die zu Geschmacks- und Appetitveränderungen führen, wurde 2010 von Naik et al. (24) veröffentlicht.
Einige Medikamente wie Kortikosteroide, Metoclopramid oder Mirtazapin haben als Nebenwirkung Appetitanregung. Der Nutzen dieser Medikamente im Hinblick auf eine Appetitsteigerung wird jedoch durch das Risiko potenzieller Nebenwirkungen übertroffen und erlaubt daher ihren Einsatz in der derzeitigen Praxis nicht. Die Verabreichung von Ghrelin scheint eine vielversprechende Option zu sein, ist aber noch in der Studienphase (5, 10).
Orale Nahrungsergänzungsmittel können zur Vorbeugung oder Behandlung von Mangelernährung eingesetzt werden. Eine umfassende Versorgung von älteren Menschen muss multidisziplinär sein, dabei ist die Zusammenarbeit mit einer Ernährungsberatung unerlässlich. Diese ermöglicht eine Gesamtbeurteilung der Ernährungsbilanz, worauf aufbauend die individuellen Ernährungsbedürfnisse definiert werden können.
Die Ernährungsempfehlungen in Bezug auf die Energiezufuhr bei unterernährten älteren Menschen sind: eine Zufuhr von 30 bis 35 kcal / kg / Tag, einschliesslich 1,2 bis 1,5 g Eiweiss / kg / Tag, und eine ausreichende Hydratation mit 30 ml / kg / Tag, die an den klinischen Kontext anzupassen ist.
Ernährungsmassnahmen zielen darauf ab, die Kalorienzufuhr mit einfachen Mitteln zu erhöhen: Anreicherung der Nahrung mit Maltodextrin, Öl, Eiern, Butter, Milchprodukten, je nach Wunsch. Die Erhöhung der Proteinaufnahme kann durch Snacks (z.B. Trockenfleisch) und auch durch Zugabe von Proteinpulver erreicht werden. In manchen Situationen kann die Textur von Lebensmitteln variiert oder es können Geschmacksverstärker (Gewürze) hinzugefügt werden, um die Toleranz zu verbessern und auf die Abnahme von Geruch und Geschmack im Alter zu reagieren. Ältere Menschen, die zu Hause mit einer funktionellen Einschränkung leben, können von einem Mahlzeitenservice, einem temporären Aufenthalt in einem Alterszentrum oder weiteren Anpassungen der Umgebung profitieren, um den Zugang zu Lebensmitteln zu erleichtern. Physiotherapeutische Massnahmen können die körperliche Aktivität erhöhen und so den Appetit anregen sowie die Kalorienaufnahme und die Muskelmasse erhöhen.
Bei unzureichender Kalorienzufuhr kann die Zugabe von oralen Nahrungsergänzungsmitteln (sog. Oral Nutritional Supplements, ONS) sinnvoll sein. Sie sollten mindestens zwei Stunden vor einer Mahlzeit eingenommen werden, um den Appetit nicht zu beeinträchtigen. Die Kosten einer sondenfreien enteralen Ernährung (Trinknahrung) werden aus der Grundversicherung übernommen, wenn die Indikationsstellung gemäss den Richtlinien der Gesellschaft für klinische Ernährung der Schweiz „GESKES“ erfolgt ist (25).
Im Falle des Scheiterns dieser ersten Massnahmen, bei Schluckstörungen, die die Aufnahme einschränken, oder bereits bestehender schwerer Unterernährung mit sehr geringer Nahrungsaufnahme, soll die enterale Sondenernährung diskutiert werden, wobei mögliche Komplikationen zu berücksichtigen sind, die den erwarteten Nutzen limitieren könnten. Diese Art der Ernährung sollte im Falle einer potentiell reversiblen Krankheit (26) oder zur Verbesserung der Lebensqualität angeboten werden.

Schlussfolgerungen

Anorexie bei älteren Menschen beeinflusst die Lebensqualität negativ und erhöht die Rate von Mortalität, Morbidität und schweren Komplikationen sowie die Dauer von Krankenhausaufenthalten. Die Entwicklung wirksamer prophylaktischer und therapeutischer Optionen erfordert das Verstehen der einer Anorexie zugrundeliegenden Mechanismen, was zurzeit noch unvollständig ist.
Das Anorexie-Management älterer Menschen umfasst die Identifikation von Risikofaktoren, die Modifikation der veränderbaren Risikofaktoren (insbesondere der Polymedikation), die Behandlung Anorexie-fördernder Pathologien und das Screening auf Mangelernährung. Derzeit gibt es keine spezifische Behandlung von Anorexie. Ihre Hauptkomplikation, Protein- und Kalorien-Mangel, kann durch diätetische Massnahmen und die Verwendung oraler Nahrungsergänzungsmittel angegangen werden.

Dr. med. Claudia Panait

HFR Freiburg – Kantonsspital
Chemin des Pensionnats 2-6
1752 Villars-sur-Glâne

claudia.panait@h-fr.ch

Die Autorin hat keine Interessenskonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

  • Die altersbedingte Anorexie ist ein häufiges geriatrisches Syndrom, das durch Protein- und Kalorienmangelernährung erschwert wird.
  • Die Folgen dieses Syndroms zeigen sich in der Entstehung eines Fragilitätssyndroms, das zum fortschreitenden Verlust der Autonomie, Anstieg der Morbidität und Hospitalisierungen, längerer Verweildauer im Spital und erhöhter Mortalität führt.
  • Eine spezifische Behandlung gibt es derzeit nicht.
  • Die Betreuung betagter Menschen sollte ein Screening und die Prävention von Anorexie mit Protein-Kalorien-Mangelernährung beinhalten, zum Screening sind einfache Tools verfügbar.

Literatur:
1. EURONUT-SENECA; Nutrition in the elderly in Europe. Eur J Clin Nut 1991;45:Suppl 3 : 105-9
2. Launer L et al. The epidemiologic follow-up study of NHANES I. Body mass index, weight change, and risk of mobility disability in middle-aged and older women. JAMA 1994;271:1093-8
3. Imoberdorf R, Ballmer PE. Die Epidemiologie der Mangelernährung. Therapeutische Umschau 2014;71:123–6
4. http://www.medicalforum.ch/docs/smf/2014/49/de/smf-02092.pdf
5. Moss C, Hickson M. Gastrointestinal hormones: the regulation of appetite and the anorexia of ageing; J Hum Nutr Diet 2012;25:3-15
6. Wysokinski A, Kostka T. Mechanisms of the anorexia of aging – a review. Age 2015; 37:81
7. Polanski et al. Twenty-four-hour profiles and pulsatile patterns of insulin secretion in normal and obese subjects. J. Clin Invest 1988;81:442–8
8. Moriguti et al. Effects of a week hypocaloric diet on changes in body composition, hunger, and subsequent weight regain in healthy young and older adults. J Gerontol A Biol Sci Med Sci 2000;55:B580-7
9. Roberts SB. Energy regulation and aging: recent findings and their implications. Nutr Rev 2000;58:91-7
10. Landi F et al. Anorexia of Aging: Risk Factors, Consequences, and Potential Treatments. Nutrients 2016;8:69
11. http://www.anorexie-et-boulimie.fr/articles-475-la-denutrition-chez-le-sujet-age-l-anorexie-souvent-en-cause.htm
12. Mowe M et al. Reduced nutritional status in an elderly population (>70) is probable before disease and possibly contributes to the development of disease. Am J Clin Nutr 1994;59:317-24
13. Ahmed T, Haboubi N. Assessment and management of nutrition in older people and its importance to health. Clin Interv Aging. 2010;5:207-16
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15. Rolland Y et al. Screening older people at risk of malnutrition or malnourished using the Simplified Nutritional Appetite Questionnaire (SNAQ): A comparison with the Mini-Nutritional Assessment (MNA) tool. J Am Med Dir Assoc 2012;13:31-4
16. Wilson M et al. Appetite assessment: Simple appetite questionnaire predicts weight loss in community-dwelling adults and nursing home residents. Am J Clin Nutr 2005;82:1074-81
17. Guigoz Y et al. Identifying the elderly at risk for malnutrition. The Mini Nutritional assessment. Clin Geriatr Med 2002;18:737-57
18. Kaiser MJ et al. Validation of the Mini Nutritional Assessment short-form (MNA-SF): a practical tool for identification of nutritional status. J Nutr Health Aging 2009;13:782-8
19. http://www.mna-elderly.com/forms/mna_guide_french.pdf
20. https://www.revmed.ch/Scores/SCORES-DIAGNOSTIQUES/NUTRITION/Nutrition-Risk-Screening-NRS-2002
21. Essed NH et al. Optimal preferred MSG concentration in potatoes, spinach and beef and their effect on intake in institutionalized people. J Nutr Health Aging 2009;13:769-75
22. Nijs K et al. Malnutrition and mealtime ambiance in nursing homes. J Am Med Dir Assoc 2009;10:226-9
23. O’Mahony D, Gallagher P. STOPP/START criteria for potentially inappropriate prescribing in older people: version 2. Age Ageing 2015;44:213–8
24. Naik et al. Drug induced taste disorders. Eur J Int Med 2010;21:240-3
25. Ballmer PE et al.: Richtlinien der GESKES über Home Care, künstliche Ernährung zu Hause. Revidiert Januar 2013.
26. Nathalie Yerly; Christophe Büla et al. Approche ambulatoire de la dénutrition chez la personne âgée. Rev Med Suisse 2015;11:2124-2128

Welche Normwerte gelten für Eisen?

Um Therapieentscheidungen zu treffen, werden oft Laborwerte erhoben. Diese sollen helfen, gesund von krank resp. therapiebedürftig von nicht-therapiebedürftig zu unterscheiden. In diesem Artikel wird die Sinnhaftigkeit von Normalwerten diskutiert und der Einsatz von Referenzintervallen resp. Berechnung von Wahrscheinlichkeiten erläutert. Am Beispiel von üblichen Eisenstoffwechselparametern werden ein paar praktische, alltägliche Fragestellungen diskutiert.

Sinn und Unsinn von Referenzintervallen

Referenzintervalle werden in einem aufwändigen und standardisierten Verfahren erhoben (1). Sie hängen von verschiedenen Faktoren ab wie Geschlecht, Rasse, Alter, allenfalls der prävalenten Population (z.B. die Bevölkerung im Einzugsgebiet des Testers), Eigenschaften der Analysenmethode (Gerät, Reagenzien) und vielem mehr. Deshalb variieren diese Werte oft sehr. Eine Projektgruppe der International Federation of Clinical Chemistry and Laboratory Medicine (IFCC) versucht nun, die Methoden und Werte zu standardisieren oder wenigstens zu «harmonisieren», damit sie vergleichbarer werden. Es kommt auch darauf an, was der Arzt, Patient, Beamte, Versicherer, Jurist oder sogar die Gesellschaft mit dem Wert will. Will man keinen Kranken verpassen, so resultiert daraus, dass man den Wert tief ansetzt, aber gleichzeitig viele falsch Positive (Kranke) generiert. Will man nur schwer Kranke erfassen, setzt man den Wert höher an, womit aber viele, weniger stark Betroffene verpasst werden. War es früher zu Buddenbrocks (2) Zeiten nobel, blass, synkopisch und gemiedert zu sein, dürften tiefe Eisenwerte durchaus gesellschaftsfähig gewesen sein. In den USA will man kein «Redneck» (Bauer, Arbeiter, der viel im Freien ist) sein. Die Oberschicht leidet lieber an Vitamin-D-Mangel und ist auch blass, anämisch, eisendefizient. Vielleicht brauchen wir auch solide Normwerte, um uns gegen unsinnige Therapiewünsche der Patientinnen zu wehren. Gerade in der Schweiz findet eine übermässige Eisensubstitution (3) statt – die moderne Frau will 150% aktiv sein, schlank aber natürlich auch vegan. Die resultierenden Beschwerden wie Stress, Müdigkeit, Konzentrationsmangel und Leistungseinbruch, Depression sind unspezifisch und können auf viele Ursachen zurückgeführt werden. Oft sind sie psychogener Natur (4). Es ist aber viel einfacher, sich etwas Eisen einzuverleiben, am liebsten mit einer kurzen Injektion, und schon ist alles wieder besser.

Bayes’ Theorem und Serum-Ferritin

Spezifität und Sensitivität reichen für den klinischen Alltag nicht. Wollen wir unseren Patientinnen etwas Gutes tun, nehmen wir Vortestwahrscheinlichkeiten, machen einen Labortest auf einem guten Gerät und berechnen daraus die Nachtestwahrscheinlichkeit für das Vorliegen oder Fehlen einer Krankheit. Auf Neudeutsch PPV oder NPV (positive predictive value oder negative predictive value). Untenstehende Tabelle 1 eignet sich gut, das eben Gesagte am Eisenspeichermarker Ferritin zu demonstrieren. Je nach Vortestwahrscheinlichkeit (hier in % ausgedrückt) eines Patienten mit Verdachtssymptomen Eisenmangel und einem gemessenen Resultat lässt sich eine entsprechende Nachtestwahrscheinlichkeit berechnen, mit welcher dann auch ein Eisenmangel gefunden wird. Bei tiefer Vortestwahrscheinlichkeit ist selbst ein tiefes Ferritin seltener mit Eisenmangel (rot) assoziiert oder bei hoher Vortestwahrscheinlichkeit kann auch ein relativ hoher Ferritinwert noch mit einem Eisenmangel (blau) vergesellschaftet sein. Anstelle von % Wahrscheinlichkeit können auch Scores genommen werden.
Hilfreich ist es, Wahrscheinlichkeiten als likelihood ratios (LR) auszudrücken. Tabelle 2 zeigt ein publiziertes Beispiel, in dem die LR eines Eisenmangels mittels Vortestwahrscheinlichkeit und Ferritinkonzentration oder Transferrinsättigung bestimmt wird. Als Faustregel gilt: LR-Werte über 5 (besser 10) oder unter 0.5 (lieber 0.1) sind als positiv respektive negativ zu betrachten (Tab. 2).

Wertigkeit von Eisenparametern

Es gibt eine Anzahl älterer und neuerer Eisenparameter, die gut validiert sind. Darunter zuvorderst Ferritin. Es ist ein Biomarker für das Speichereisen und nicht für funktionellen Eisenmangel und auch nicht ein Beweis für Eisenmangelanämie. Ferritin schwankt über Alter und Schwangerschaft sehr (Abb. 1).
Eine weitere Problematik besteht in der Tatsache, dass Ferritin ein positives Akutphasenprotein ist und bei Entzündungen ansteigt, was falsch negative Resultate gibt. Auch gibt es leichte Anstiege bei Leberschaden oder Erkrankungen des hämatopoietischen Systems, was ebenfalls zu falsch normalen Eisenspeicher-Resultaten führt. Man kann versuchen, mittels CRP eine Entzündung auszuschliessen. Thomas hat einen Plot publiziert (5) mit welchem diese Problematik gelöst werden soll. Es müssen aber weitere Parameter wie löslicher Transferrin Rezeptor (sTfR) gemessen werden. Anlehnend an eine Publikation von Fehr (6), weitere Studien und unsere Erfahrung sind bei Ferritin > 50 μg/l die Eisenspeicher ausreichend und bei Ferritin < 30 μg/l ungenügend gefüllt. Das gilt gleichermassen für Frauen und Männer, egal was die verschiedenen Labore als ihre Referenzwerte mitliefern. Dazwischen ist eine Grauzone. Für Kinder und Jugendliche haben wir in einem Konsensuspapier entsprechende Werte publiziert (7). Die Transferrin Sättigung (Transferrin und Fe2 +) hat auch ihren Platz in der Routinediagnostik. Die Präzision ist aber gering wegen der grossen zirkadianen und anderweitig bedingten Schwankung. Werte unter 20% sind mit leeren Eisenspeichern assoziiert (8). Zink-Protoporphyrin (ZnPP) ist ein guter Parameter, der aber bei uns wenig zum Einsatz kommt und wenig angeboten wird. ZnPP steigt bei Eisenmangel an, bleibt bei Thalassämien im Normalbereich und steigt bei Entzündungen nur wenig an. Es eignet sich deshalb zur Differenzierung mikrozytärer Anämien, wie Thalassämien und Anämien der chronischen Entzündung (ACD). Auch kann man ZnPP gut gebrauchen, um leere Eisenspeicher (Stadium 1 des Eisenmangels) vom funktionellen Eisenmangel ohne Anämie (Stadium 2) abzutrennen. ZnPP steigt erst im Stadium 2 über den Normwert an. Das volle Bild des Eisenmangels (Stadium 3) ist ja dann die Eisenmangelanämie (IDA) und die lässt sich bekanntlich ordentlich gut bestimmen (cave Pseudoanämie, Verdünnungsanämie bei Schwangerschaft, Herzinsuffizienz, Leistungssportlern, Infusionen, etc.). Der sTfR bringt in etwas dasselbe wie ZnPP, ist aber teuer und nicht standardisiert (verschiedene Werte je nach Hersteller). Neuer und allenfalls von Nutzen ist Hepcidin, ein Eisenregulator (9), der bei Eisenmangel sinkt und bei Entzündung ansteigt. Nützlich am ehesten bei der Differenzialdiagnose ACD vs. ACD plus IDA.
Laborseits sollte immer ein Hämatogramm bestimmt werden, am besten mit Retikulozytenzahl. So hat man eine gute Auskunft über die Hämatopoiese und kann Hämoglobin, MCV, RDW in die Eisenthematik mit einbeziehen.
Zusammenfassend gibt es leider nicht den Eisenparameter und den Normwert (das Referenzintervall), sondern klinische Einschätzung, Hantieren mit Wahrscheinlichkeiten und differenzialdiagnostische Überlegungen müssen konsequent angewendet werden. Es kommt letztlich immer darauf an, was man mit dem Wert erreichen will. Wir sprechen hier von Entscheidungswerten (decision values). Ab welchem Wert wird eine Massnahme ergriffen. Weiter hilfreich ist es auch, über die Zeit vom gleichen Patienten repetitiv denselben Parameter zu erheben. So muss eine Frau, die sich mit 15 μg/l Ferritin über Zeit absolut wohl fühlt nicht therapiert werden, selbst wenn dieser unter dem Referenzwert liegt. Erst bei einem noch tieferen Wert muss eine Therapie ins Auge gefasst werden. Wir sprechen bei dieser Methode von reference change value (10). Man legt so für jeden Patienten seine eigenen Referenzwerte fest. Es gibt dazu Berechnungsformeln, ab wann ein Unterschied zwischen 2 Messungen signifikant ist.
Der Therapie-Hype, Patienten mit Eisenmangel ohne Anämie (Stadium 2) zu behandeln, ist zweifelsohne ein Grund, sich mit den «Normwerten von Eisen» zu befassen. Es gibt zwar einige, teils auch neuere Studien (11), die das Vorkommen von funktionellem Eisenmangel (Stadium 2) aufzeigen und einen entsprechenden Nutzen durch Eisenzufuhr dokumentieren. Allerdings hat das in der Schweiz epidemische, kaum mehr rationale Formen angenommen, insbesondere die i.v.-Substitution. Gerade im Herbst liessen sich die Eisenspeicher ganz billig, angenehm und sehr effizient auffüllen. Man(n) und vor allem Frau esse doch dann und wann wieder eine Blutwurst. So kann dem Arzt (und der Patientin) der Normwert des Ferritins eigentlich Wurst sein.

Dr. sc. nat. Saskia Brunner-Agten

LaboSalamin
Ave. du Rothorn 10, 3960 Sierre

s.brunner@labosalamin.ch

Prof. Dr. med. Andreas Huber

Private Universität im Fürstentum Liechtenstein
Dorfstrasse 24
FL-9495 Triesen

andreas.huber@ufl.li

Die Autoren haben im Zusammenhang mit diesem Artikel keine Interessenskonflikte deklariert.

  • Referenzintervalle stellen aufwändig ermittelte Werte dar, die eine definierte Normal-Population beschreiben
  • Hilfreich sind Entscheidungswerte, die Massnahmen unterstützen oder verhindern
  • Mit dem Bayes-Theorem wird ausgehend von Vortestwahrscheinlichkeiten und dem aktuellen Messwert eine Nachtestwahrscheinlichkeit berechnet oder geschätzt
  • Diverse Eisenparameter haben verschiedene Eigenschaften und erlauben unterschiedliche Aussagen
  • Es gibt den Normwert und den Eisenparameter nicht

Literatur
1. Solberg HE, Stamm D. IFCC recommendation: The theory of reference values. Part 4. Control of analytical variation in the production, transfer and application of reference values. J Automat Chem 1991;13(5):231–4. doi: 10.1155/S146392469100038X.
2. Thomas Mann. Buddenbrooks; 1901.
3. Giger M, Achermann R. Ambulante Eisensubstitution in der Schweiz – Kostensteigerung infolge venöser Applikation. Z Evid Fortbild Qual Gesundhwes 2013;107(4-5):320–6. doi: 10.1016/j.zefq.2012.12.023.
4. Baumann K, Krayenbühl P. Müdigkeit. Praxis (Bern 1994) 2009; 98(9):465–71. doi: 10.1024/1661-8157.98.9.465.
5. Thomas C, Kirschbaum A, Boehm D, Thomas L. The diagnostic plot: a concept for identifying different states of iron deficiency and monitoring the response to epoetin therapy. Med Oncol 2006;23(1):23–36. doi: 10.1385/MO:23:1:23.
6. J. Fehr, B. Favrat, B. Schleiffenbaum, P. A. Krayenbühl, C. Kapanci, F. von Orelli. Diagnostic et traitement de la carence en fer sans anémie. Rev Med Suisse 2009;5:2229-34
7. Clénin G, Cordes M, Huber A, Schumacher YO, Noack P, Scales J et al. Iron deficiency in sports – definition, influence on performance and therapy. Swiss Med Wkly 2015;145:w14196. doi: 10.4414/smw.2015.14196.
8. Elsayed ME, Sharif MU, Stack AG. Transferrin Saturation: A Body Iron Biomarker. Adv Clin Chem 2016;75:71–97. doi: 10.1016/bs.acc.2016.03.002.
9. Rishi G, Wallace DF, Subramaniam VN. Hepcidin: regulation of the master iron regulator. Biosci Rep 2015;35(3). doi: 10.1042/BSR20150014.
10. O’Kane MJ, Lopez B. Explaining laboratory test results to patients: what the clinician needs to know. BMJ 2015;351:h5552. doi: 10.1136/bmj.h5552.
11. Drygalski A von, Adamson JW. Ironing out fatigue. Blood 2011;118(12):3191–2. doi: 10.1182/blood-2011-07-366120.
12. Finch CA, Bellotti V, Stray S, Lipschitz DA, Cook JD, Pippard MJ et al. Plasma ferritin determination as a diagnostic tool. West J Med 1986; 145(5):657–63.
13. Guyatt GH, Patterson C, Ali M, Singer J, Levine M, Turpie I et al. Diagnosis of iron-deficiency anemia in the elderly. Am J Med 1990; 88(3):205–9.

Neues zu Diabetes und Konsequenzen für die Praxis

Neues zum kardiovaskulären Risiko und zur Mortalität von Patienten mit Diabetes mellitus Typ 2

Patienten mit Typ-2-Diabetes haben ein 2-4 Mal höheres Risiko für Mortalität und kardiovaskuläre Ereignisse als die Gesamt-bevölkerung. Interventionsstudien bestätigten, dass die optimale Einstellung der kardiovaskulären Risikofaktoren Blutzucker, Blut-druck oder Cholesterin das Komplikationsrisiko reduziert, wobei das Ausmass der Reduktion abhängig von der Art der Intervention stark variierte. Die intensive Einstellung auf die Zielwerte zeigte im Vergleich zu herkömmlicher Einstellung auch bei multifaktoriellen Interventionen, einschliesslich Lifestyle-Anpassung und medikamentöse Behandlung, eine signifikante langfristige Verringerung der Mortalität infolge kardiovaskulärer Ereignisse. In dieser Hinsicht war die STENO-2-Studie wahrscheinlich die aufschlussreichste Studie.
Die im Folgenden vorgestellte, im New England Journal of Medicine veröffentlichte Studie liefert zusätzliche Informationen bezüglich der Wirkung des kardiovaskulären Risikofaktorenmanagements auf das Morbiditäts- und Mortalitätsrisiko bei einer nationalen Gruppe von Typ-2-Diabetespatienten in Schweden. Ziel der Studie war es, den Zusammenhang zwischen der Qualität der Risikofaktorkontrolle und kardiovaskulären Ereignissen abzuschätzen.
Die Studie umfasste 271´174 Patienten mit Typ-2-Diabetes im Vergleich zu 1´350´870 nach Alter und Geschlecht vergleichbaren Patienten. Analysiert wurden die Risikofaktoren Diabetes (beurteilt anhand des HbA1c), LDL-Cholesterin, Albuminurie, Rauchen und Blutdruck, deren Grad der Kontrolle und schliesslich die Wirkung der Kontrolle auf Mortalität, Herzinfarktrisiko, Schlag-anfall und Krankenhausaufenthalt wegen Herzinsuffizienz.
Der mediane Follow-up betrug 5,7 Jahre, währen welchem es zu 175´345 Todesfällen kam. Eine optimale Kontrolle jedes der untersuchten Risikofaktoren war mit einem Rückgang der Mortalität und kardiovaskulärer Ereignisse verbunden. Diabetiker, die alle fünf Risikofaktoren zielgerecht eingestellt hatten, wiesen eine ähnliche Mortalitätsrate sowie ein ähnliches Risiko für Herzinfarkt und Schlaganfall auf wie die Kontrollpersonen. Dagegen war das Hospitalisationsrisiko wegen Herzinsuffizienz bei diabetischen Patienten höher als bei nicht-diabetischen, unabhängig vom Grad der Kontrolle der Risikofaktoren. Ein HbA1c-Anstieg war der beste Indikator für Schlaganfall und Infarkt, während Rauchen die wichtigste Determinante für Sterblichkeit war.
Diese Kohortenstudie aus einem schwedischen Register zwischen
1998 und 2012 zeigt, dass Patienten mit Typ-2-Diabetes mit guter Kontrolle der kardiovaskulären Risikofaktoren ein ähnliches Risiko für Mortalität, Schlaganfall und Myokardinfarkt haben wie die Gesamtbevölkerung. Diese Studiendaten sind äusserst wichtig, denn sie zeigen, dass Ärzte die Morbidität und Mortalität ihrer Patienten durch ein ausgezeichnetes Management der Risikofaktoren entscheidend beeinflussen können. Die Studie zeigte jedoch auch, dass das Herzinsuffizienz-Risiko diabetischer Patienten unabhängig von der Kontrolle kardiovaskulärer Risikofaktoren höher ist als das der Gesamtbevölkerung.
Andererseits erhöht eine schlechte Kontrolle der kardiovaskulären Risikofaktoren die Sterblichkeit um das 3-5-Fache, das Risiko für Herzinfarkt um das 4-8-Fache, für Schlaganfall um das 3-6-Fache und für Herzinsuffizienz um das 2-4-Fache im Vergleich zu gut kontrollierten diabetischen Patienten, die selbst ein 2-3-fach höheres Risiko haben als nicht-diabetische Patienten. Prädiktoren für Hospitalisierung wegen Herzinsuffizienz waren Vorhofflimmern, ein hoher Body-Mass-Index (BMI), schlechte Diabeteskontrolle und reduzierte Nierenfunktion.

Kommentar

Diese schwedische Studie liefert uns zwei Hauptbotschaften. Zum einen, dass eine sehr gute Kontrolle der kardiovaskulären Risikofaktoren Morbidität und kardiovaskuläre Ereignisse signifikant auf ein ähnliches Niveau wie bei nicht-diabetischen Patienten reduzieren kann. Zum anderen ist das Risiko für Herz-insuffizienz bei Diabetikern höher und sollte uns veranlassen, entsprechende Symptome und gefährdete Patienten besser zu identifizieren, da eine frühzeitige Identifizierung die langfristige Prognose verbessern sollte.

Die zukünftige Behandlung des Diabetes mellitus Typ 2

Neuere Interventionsstudien mit neuartigen antidiabetischen Molekülen haben gezeigt, dass einige davon mit einer Reduktion der Mortalität und kardiovaskulärer Ereignisse verbunden sind. Die EMPA-REG- und CANVAS-Studien, die den Nutzen einer Empagliflozin- bzw. Canagliflozin-Therapie zusätzlich zur Standard-Antidiabetestherapie untersuchten, zeigten, dass diese beiden Gliflozine Sterblichkeit, kardiovaskuläre Ereignisse und insbesondere Hospitalisationen infolge Herzinsuffizienz reduzieren können. Ebenso zeigten zwei neuere Studien mit den GLP-1-Analoga Liraglutid und Semaglutid, LEADER und SUSTAIN-6, dass diese Substanzen als add-on zur Standard-Antidiabetestherapie die kardiovaskuläre Mortalität reduzieren können.
Beide Wirkstoffklassen sind mit Gewichtsreduktion und leichtem Abfall des Blutdrucks verbunden, ohne Hypoglykämien zu verursachen. Es war daher logisch, sich vorzustellen, dass die Kombination dieser Substanzklassen nicht nur die Diabeteskontrolle verbessern, sondern auch mit einer signifikanten Gewichtsabnahme einhergehen und möglicherweise die kardiovaskuläre Morbidität weiter reduzieren könnte.
Hierzu wurden kürzlich mehrere vergleichende Studien durchgeführt, die ein GLP-1-Analogon und ein Gliflozin kombinieren. Eine ist die DURATION-8-Studie, die Sicherheit und Wirksamkeit von Exenatid, subkutan injiziert, in Kombination mit Dapagliflozin im Vergleich zu Exenatid allein oder Dapagliflozin allein auf der Basis einer Metforminbehandlung bei Patienten mit Typ-2-Diabetes untersuchte. Die Dauer der Studie betrug 52 Wochen.
695 Patienten wurden randomisiert mit einem durchschnittlichen HbA1c von 9,3%. Nach 52 Wochen war die Reduktion des glykosylierten Hämoglobins mit der Kombination von Exenatid und Dapagliflozin (-1,75%) grösser als mit Exenatid allein (-1,38%) und/oder Dapagliflozin allein (-1,23%). In den drei Gruppen betrug der durchschnittliche HbA1c-Wert 6,9% mit der Kombination; 7,2% mit Exenatid und 7,4% mit Dapagliflozin. Auch der Gewichtsverlust war mit der Kombination (-3,3 kg) im Vergleich zu den beiden anderen Gruppen (-1,5 kg bzw. -2,28 kg) höher, ebenso der Blutdruck tiefer. 5 bis 10% der Patienten klagen über Übelkeit mit Exenatid und 1 bis 5% der Patienten stoppten die Studie wegen Nebenwirkungen.

Kommentar

Diese Studie zeigt, dass neue Therapeutika wie Gliflozine und GLP-1-Analoga nicht nur zu einer besseren Diabeteskontrolle, sondern auch zu Gewichtsverlust und niedrigerem Blutdruck führen, dies sowohl allein als auch in Kombination, ohne Hypoglykämie zu verursachen. In dieser Studie konnte die Kombination von Exenatid und Dapagliflozin, obwohl sie wirksamer war als die Monosubstanzen, keinen zusätzlichen Effekt im Vergleich zu denjenigen erzielen, die bei der Monotherapie zusätzlich zu Metformin beobachtet wurden. Trotz dieser Enttäuschung ist diese Kombination wahrscheinlich die effektivste in der aktuellen Behandlung von Typ-2-Diabetes zur Blutzuckereinstellung, Gewichtskontrolle und möglicherweise bei kardiovaskulären Ereignissen. Es ist auch wahrscheinlich, dass bei Substanzen, die stärker als Exenatid sind, wie z.B. Semaglutid, die Wirksamkeit noch höher ist, was die glykämische Kontrolle, das Gewicht und die kardiovaskulären und renalen Komplikationen betrifft. Die Zukunft wird es uns sagen, aber diese Kombination scheint heute die beste Therapie zu sein.

Prof. Dr. med.Roger Lehmann

UniversitätsSpital Zürich
Rämistrasse 100
8091 Zurich

Roger.Lehmann@usz.ch

Prof. Dr. med. Jacques Philippe

Hôpitaux universitaires de Genève
Clinique d’endocrinologie, diabétologie et hypertension
Rue Gabrielle Perret-Gentil 4
1205 Genève

Jacques.Philippe@hcuge.ch

JP: Forschungsförderung durch Novo Nordisk, Teilnahme an Advisory Boards und Referentenhonorare von Novo Nordisk, Sanofi, Boehringer Ingelheim, Astra Zeneca und Johnson & Johnson.
RL: Teilnahme an Advisory Boards und Referentenhonorare von Novo Nordisk, Sanofi, MSD, Boehringer Ingelheim, Servier und Astra Zeneca.

Literatur:
Rawshani A et al, Risk Factors, Mortality, and Cardiovascular Outcomes in Patients with Type 2 Diabetes. N Engl J Med 379:633-4

Jabbour SA et al. Safety and efficacy of exenatide once weekly plus dapgliflozin once daily versus exenatide or dapagliflozin alone in patients with type 2 diabetes inadequately controlled with metformin monotherapy : 52-week results of the DURATION-8 randomized controlled trial. Diabetes Care 2018;41:2136-46

Psychische Symptomatik unter Kortikosteroiden

Ein damals 82-jähriger Internist und Hobbymaler von kon-struktiv-konkreter Kunst erinnert sich an eine dunkle Periode seines Lebens. Wegen einer Fehlbeurteilung wurde er erfolglos über Monate mit Kortikosteroiden in hohen Dosen behandelt. An Nebenwirkungen entwickelte sich neben einem insulinpflichtigen Diabetes eine psychische Symptomatik mit eindrücklichem Einfluss auf sein künstlerisches Schaffen.

HKS: Herr Kollege, wie sind Sie als erfahrener Internist zur konstruktiv-konkreten Kunst gekommen?

XY: Meine Liebe zur Geometrie und zu Farben, insbesondere Spektral- und Komplementärfarben, geht bereits auf die Gymnasialzeit zurück und hat mich schon früh zum konstruktiven Zeichnen verführt. Mein Lieblingsmaler war Henri Matisse. In meiner Assistenzarztzeit hatte ich Gelegenheit, eine Ausstellung mit Serigraphien des Malers Serge Poliakoff zu besuchen, dessen Bilder mich sehr beeindruckt und massgeblich beeinflusst haben. Eine Begegnung mit Max Bill, dem damaligen Exponenten der Zürcher konkreten Kunst, war in den 60-er Jahren für mein weiteres Schaffen prägend – hat er sich doch über meine ersten Werke wohlwollend lobend geäussert.

HKS: Nun zu Ihrer Krankheit. Welches waren die ersten Symptome, die zur Behandlung mit Kortikosteroiden geführt haben?

XY: Ich erwachte an einem Morgen an Schmerzen und Schwäche der Beine, verspürte Unsicherheit beim Gehen, wankte hin und her und stürzte wiederholt. Dabei bestanden keine Lähmungen, ich konnte die Beine im Liegen frei bewegen. Darauf wurde ich notfallmässig auf der Neurologie hospitalisiert, wo nach vielen Abklärungen die Diagnose einer chronisch inflammatorischen demyelinisierenden Polyneuropathie (CIDP) gestellt wurde. Die Behandlung umfasste Prednison hochdosiert, initial parenteral und Imurek® sowie im Verlauf Gabapentin (Neurontin®), Pregabalin (Lyrica®), Tizanidin (Sirdalud®), Amitriptylin (Saroten®), Opiate u.a. Ich war enttäuscht, dass meine Beschwerden trotz dieser ausgedehnten Medikation in keiner Art und Weise besserten.

HKS: Wie ist es dann weiter gegangen?

XY: Die intensivsten Schmerzen blieben unverändert, dazu gesellten sich eine Gewichtszunahme, im Spiegel erkannte ich mich kaum wieder wegen Schwellungen unter den Augen und sah fast aus wie ein Vollmond, daneben Müdigkeit sowie eine Zuckerkrankheit, die mit Insulin behandelt werden musste. Vor allem aber wurde ich schwer depressiv, das Leben schien mir total sinnlos. Ich erkannte mich selbst nicht mehr. Meinen engsten Mitmenschen gegenüber benahm ich mich unmöglich, hässig, aufbrausend, brüllte grundlos die Nachbarskinder an bis sie weinten.
Meine Wahrnehmungen veränderten sich vollständig, ich transformierte zu einer asozialen, bösartigen Person. Ich erinnere mich, dass ich dem Kätzchen des Nachbars, das ich immer geliebt und gestreichelt habe, grundlos einen Fusstritt versetzte, obwohl ich mir selbst nicht erklären konnte, warum. Die Situation wurde immer unerträglicher. Ich mied jeglichen Kontakt zu meiner Umgebung. Die normale Empathie war völlig abhandengekommen, ich hasste mich und alle in meiner Umgebung, sah überall nur Feinde. Ich verspürte das Bedürfnis, meine Aggressionen mit Hammer und Meissel abzureagieren und ging mit verschiedenen Skizzen zu einem Bildhauer, in dessen Werkstatt ich dann während vier Wochen auf einen Stein einhämmerte. Das niedergedrückte Leben im stockdunklen Tunnel empfand ich als hoffnungslos und ich versuchte, mich selbst umzubringen, um mich nur aus dieser schrecklichen Situation zu befreien.

HKS: Welchen Einfluss hatte dieser Zusatnd auf Ihre Malerei?

XY: Meine depressive, völlig veränderte Wahrnehmung, meine negative Stimmung, mein aussichtsloses Leben verübten einen sehr merkwürdigen Einfluss. Ich hatte den Eindruck, dass die konstruktiv-konkrete, strenge Geometrie mir meine künstlerische Freiheit rauben oder zumindest einschränken würde. Ich wollte frei klecksen, Farbe verschmieren – ohne imaginäre Vorschriften – freche Farbkombinationen nach Belieben zufällig auf die Leinwand bringen. Alle Lineale, Massstäbe und Winkel warf ich in den Backofen und formte daraus meine erste «Akrylglas» Plastik.

HKS: Nun, heute sind Sie ohne Schmerzen, lediglich mit einem Stock unterwegs. Was brachte die Heilung.

XY: Eine ärztlich Neubeurteilung führte nach über einem Jahr endlich zur Diagnose einer hochgradigen degenerativen Spinalkanalstenose L3-5. Ich wurde notfallmässig operiert und erfuhr nach der Dekompressions-Operation, dass sich zahlreiche Fragmente einer prolabierten Diskushernie in die Cauda equina abgesenkt hätten und äusserst mühsam herausgespült werden mussten. Bereits in der ersten Nacht nach der Operation realisierte ich, dass die Schmerzen verschwunden waren. Glücklicherweise erholte ich mich allmählich wieder vollständig und alle Medikamente konnten abgesetzt werden, wobei sich interkurrent noch Symptome einer Unterfunktion der Nebennierenrinde entwickelt haben. Rückblickend ist klar, dass die Medikamente aufgrund einer Fehlbeurteilung eingesetzt wurden, was aber offensichtlich an ihrer Möglichkeit, schwere Nebenwirkungen zu bewirken, nichts geändert hat.

HKS: Ich danke Ihnen, dass Sie uns Einblick in Ihre Leidensgeschichte gewähren.

Kurzkommentar aus medizinhistorischer und kunstgeschichtlicher Sicht

Bei diesem Patienten wurde aufgrund eines akut aufgetretenen Schmerzsyndroms in beiden Beinen zuerst die Diagnose einer chronisch inflammatorischen demyelinisierenden Polyneuropathie gestellt. Deren Prävalenz liegt bei ca. 0.8 bis 0.9 pro 100‘000 und es ist bekannt, dass diese Diagnose tendenziell zu häufig gestellt wird. Vor allem dem zeitlichen Verlauf der Symptomentwicklung kommt bei der vorliegenden Fehlbeurteilung eine Bedeutung zu; während sich die Symptomatik bei einem Guillain-Barré-Syndrom oder bei einer akuten inflammatorischen demyelinisierenden Polyneuropathie eher rasch entwickelt, ist bei der chronischen Form eine schleichende Entwicklung über Wochen typisch, wobei der genaue Beginn der Symptomatik oft nicht angegeben werden kann. Bei einer Betrachtungsweise, die auch apriorische Wahrscheinlichkeiten berücksichtigen würde, müsste auch die Tatsache der hohen Prävalenz von degenerativen Skelettveränderungen im Alter ins Kalkül einbezogen werden.

Diese Krankengeschichte eines klassischen iatrogenen M. Cushing mit einem steroidinduzierten Diabetes mellitus und psychischer Begleitsymptomatik lässt ältere Generationen von Kollegen namentlich aus dem Raum Zürich sofort an den Namen Bleuler denken.
In seinem Lehrbuch findet sich die Diagnose im Kapitel «Geistesstörungen in engem Zusammenhang mit Körperkrankheiten» als «Endokrines Psychosyndrom». Die Schilderung der Symptomatik, die vom oben geschilderten Patienten stammen könnte und welche weitgehend gleichartig sei wie diejenige eines «Hirnlokalen Psychosyndroms» lautet folgendermassen: «Das Psychosyndrom ist gekennzeichnet durch Störungen der Antriebhaftigkeit, der Stimmungen und der Einzeltriebe, bei völligem oder weitgehendem Erhaltenbleiben der intellektuellen Funktionen. Besonders charakteristisch ist ein plötzliches, unvermitteltes Einschiessen von Trieben oder Verstimmungen. Menschen sitzen untätig herum, vernachlässigen ihre Körperpflege in schauderhafter Art. Sie können ihre Umgebung furchtbar quälen, anspucken u.s.w. In leichteren Fällen macht sich die Veränderung der Antriebhaftigkeit und der Stimmungen nach aussen vor allem in einem Abbau des Verantwortungsbewusstseins, des Taktgefühls, der Rücksichtnahme auf andere, des persönlichen Hingabewillens, der Voraussicht und Stete im Planen und Handeln geltend». Weiter: «Bei der Anwendung von Cortison werden erwartungsgemäss wechselhafte Verstimmungen und Störungen der Antriebshaftigkeit beobachtet, jedoch nur bei ungefähr 1% der Behandelten treten ausser Verstimmungen, Erregungen und apathischen Zuständen eigentliche Psychosen mit Verwirrung, Halluzinationen und Wahnideen auf».

Das Lehrbuch der Psychiatrie von Eugen Bleuler erlebte von der Erstpublikation 1916 bis 1983 insgesamt 15 Auflagen, wobei ab der 7. Auflage seinem Sohn Manfred die Aufgabe zufiel, das «Lehrbuch mit den Fortschritten der Zeit Schritt halten» zu lassen. Die wunderbaren, blumigen und stimmigen Beschreibungen von pathologischen Zustandsbildern, die sich engrammartig ins Gedächnis des Lesers einprägen, gelten heute als überholt – sie machen im Zeichen der Zeit Platz für eine distanziert-nüchterne Klassifizierung, z.B. nach ICD-10 F06.

Künstlerisch-kreative Schöpfungen von psychisch Erkrankten finden seit langer Zeit Interesse sowohl bei Kunstschaffenden als auch im Rahmen der Kunstgeschichte und der Psychiatrie. So etablierten sich im Lauf des 20. Jahrhunderts spezialisierte Sammlungen wie diejenige des Heidelberger Psychiaters und Kunsthistorikers Hans Prinzhorn (1886–1933), die seit 2001 der breiten Öffentlichkeit zugänglich ist, oder die von Jean Dubuffet initiierte Collection de l’Art Brut, die 1975 als Schenkung nach Lausanne gelangte und 1976 für das Publikum geöffnet wurde. Noch bekannter ist namentlich in der Deutschschweiz das Werk von Adolf Wölfli, das im Rahmen der Adolf Wölfli-Stiftung im Kunstmuseum Bern seit 1975 in Einzel- und Gruppenausstellungen sowie Publikationen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird.
Die vorliegende Fallvorstellung zeigt eindrücklich, wie auch eine reversible psychische Erkrankung infolge einer somatischen Medikation einen markanten Ausdruck im künstlerischen Schaffen finden kann.

Dr. med. Hans-Kaspar Schulthess

Facharzt FMF Innere Medizin und Gastroenterologie
Neuhausstrasse 18
8044 Zürich

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