Risikofaktoren und Behandlung von krebsassoziierten Schlaganfällen

Das Risiko von thromboembolischen Ereignissen wie unter anderem ischämischen Schlaganfällen ist bei Krebspatienten bekanntermassen signifikant erhöht. Eine paraneoplastische Gerinnungsstörung wird bei onkologischen Patienten häufig als primäre Ursache für Schlaganfälle, tiefe Venenthrombosen und Lungenembolien angesehen. Neben dieser paraneoplastischen Thrombusbildung trägt auch das Vorhandensein klassischer kardiovaskulärer Risikofaktoren, die Krebs- und Schlaganfallpatienten gemeinsam haben, erheblich zum Auftreten von Schlaganfällen bei Krebspatienten bei. Bestimmte Chemo-, Hormon- und Immuntherapien sowie Strahlentherapien im Bereich des Halses und des Gehirns erhöhen ebenso das Schlaganfallrisiko bei Krebspatienten. Es ist daher wichtig, die entsprechenden Krebspatienten mit einem erhöhten Schlaganfallrisiko zu erkennen und entsprechend zu sensibilisieren.

The risk of thromboembolic events is known to be increased in cancer patients. This also applies to cerebrovascular events such as strokes. Paraneoplastic coagulopathy is often regarded as the main cause of strokes and other thromboembolic events (venous thrombosis and pulmonary embolism) in cancer patients. In addition to paraneoplastic coagulopathy, the presence of classic cardiovascular risk factors, which cancer and stroke patients have in common, also contributes significantly to the occurrence of strokes in cancer patients. Certain chemo-, hormone- and immunotherapies and radiotherapy to the neck and brain also increase the risk of stroke in cancer patients. It is therefore crucial to be able to identify and provide care for cancer patients at increased risk of stroke.
Key words: Cancer-associated stroke, Hypercoagulability, Paraneoplastic coagulopathy, Secondary prevention, Anticoagulation therapy

Fallbericht

Eine 68-jährige Patientin wurde mit Verdacht auf einen Schlaganfall mit einer schweren Aphasie, einer leichtgradigen motorischen Hemiparese rechts und einer deutlichen Vernachlässigung (Neglekt) der linken Körperseite in ein Zentrumsspital eingeliefert. Einige Monate zuvor war bei der Patientin ein metastasierendes Bronchialkarzinom diagnostiziert worden. Bildgebende Untersuchungen zeigten das Vorliegen multipler zerebraler Infarkte in verschiedenen zerebralen Versorgungsgebieten, was auf eine proximal-embolische Genese schliessen liess (Abb. 1).
Die laborchemische Untersuchung zeigte eine ausgeprägte Gerinnungsaktivierung mit stark erhöhten D-Dimer-Werten von 9835 µg/L (Referenzbereich <500 µg/L), die nach Ausschluss einer tiefen Beinvenenthrombose und Lungen­embolie auf das Vorliegen einer paraneoplastischen Gerinnungsstörung zurückgeführt wurde. Auch das C-reaktive Protein (CRP) war mit 48 mg/L (Referenzbereich <5 mg/L) signifikant erhöht. In Abwesenheit weiterer Hinweise auf eine Infektion oder systemische Entzündung wurde dieser Anstieg ebenfalls im Kontext der zugrundeliegenden aktiven Krebserkrankung interpretiert. Zusätzlich wurde eine Anämie mit einem Hämoglobinwert von 108 g/L (Norm: 121-154 g/L) festgestellt, die mangels Anzeichen einer akuten Blutung als chronische Anämie gewertet und höchstwahrscheinlich im Zusammenhang mit der Krebserkrankung gesehen wurde.
Im Rahmen der ätiologischen Abklärung des Schlaganfalls konnten keine alternativen Ursachen festgestellt werden. Insbesondere fanden sich keine Hinweise auf eine kardiale Emboliequelle, welche häufig ein ähnliches multiterritoriales Verteilungsmuster der Schlaganfälle aufweist. Der Schlaganfall wurde letztlich ätiologisch der Krebserkrankung zugeschrieben. Als Sekundärprävention wurde nach 6 Tagen eine therapeutische Antikoagulation mit niedrigmolekularem Heparin (Clexane) in voller Dosierung eingeleitet.
Da die tägliche subkutane Injektion für die Patientin unangenehm war, entschied sie sich nach zwei Wochen, selbstständig die Antikoagulation abzusetzen. In der darauffolgenden Konsultation in der hausärztlichen Praxis wurde eine blutverdünnende Therapie mit Eliquis initiiert und diesmal konsequent fortgeführt.

Risikofaktoren für krebsassoziierte
Schlaganfälle

Krebsassoziierte Schlaganfälle werden neben allgemeinen kardiovaskulären Risikofaktoren auch durch spezifische Risikofaktoren beeinflusst, die sowohl mit der Tumor­erkrankung selbst als auch mit den therapeutischen Massnahmen zusammenhängen (Tab. 1).
Dabei treten die Schlaganfälle häufig innerhalb des ersten Monats nach der Krebsdiagnose auf, wobei das Risiko insbesondere in den ersten drei Monaten nach Diagnosestellung signifikant erhöht ist und anschliessend wieder abnimmt (1).

Hyperkoagulabilität und Krebs

Bestimmte Krebserkrankungen wie Lungen-, Pankreas-, Gastrointestinal- und Ovarialkarzinome, insbesondere in lokal fortgeschrittenen oder metastasierten Stadien, sind eng mit einem erhöhten Schlaganfallrisiko verbunden. Darüber hinaus weisen vor allem histologische Adenokarzinome eine deutliche Assoziation mit thromboembolischen Ereignissen auf (2–5). Es wird angenommen, dass alle diese spezifischen und fortgeschrittenen Krebsformen zu einer Hyperkoagulabilität führen, indem prothrombotische Elemente (z. B. von Willebrand-Faktor, Tissue Factor, Tumorantigene, zirkulierende Tumorzellen und entzündungsfördernde Zytokine) in den Kreislauf freigesetzt werden (3, 6, 7).
Diese prothrombotischen Prozesse führen zu einer verstärkten Umwandlung von Fibrinogen in Fibrin sowie zu einer erhöhten Thrombinaktivität wodurch die Thrombusbildung begünstigt wird (4, 8–10). D-Dimere, Abbauprodukte von Fibrin, werden daher häufig als Marker für eine Hyperkoagulabilität verwendet und sind bei Krebspatienten mit Schlaganfällen deshalb oft stark erhöht (5). Auch die mikroskopische Zusammensetzung von krebs­assoziierten Thromben weist entsprechend oft einen höheren Fibringehalt auf als bei anderen Schlaganfallursachen (11). Der detaillierte Pathomechanismus der paraneoplastischen Gerinnungsstörungen ist jedoch insgesamt noch zu wenig verstanden und weitere Studien sind notwendig, um konkrete Behandlungsansätze zu entwickeln.

Krebstherapie als Risikofaktor für Schlaganfall

Krebstherapien können das Schlaganfallrisiko erhöhen, da sie prothrombotische Nebenwirkungen haben und die Blutgefässe schädigen können (12–15). Dabei ist auch bei diesem Prozess weitere Forschung zum genauen Verständnis der Pathophysiologie notwendig.

1. Chemotherapie: Gewisse Chemotherapeutika (Cisplatin, Bevacizumab, Thalidomid) können eine prokoagulierende Aktivität oder Erhöhung der Blutviskosität verursachen und erhöhen daher das Risiko eines Schlaganfalls (16). Darüber hinaus sind einige Chemotherapeutika (Doxorubicin, Cyclophosphamid) direkt toxisch für das Gefässendothel, was die lokale Bildung von Thromben fördern kann.
Ebenso können die kardiotoxischen Nebenwirkungen verschiedener Chemotherapien (z.B. Anthrazykline oder Trastuzumab) durch die Entstehung einer akuten und/oder chronischen Kardiomyopathie oder Herzrhythmusstörungen zu Schlaganfällen führen (17).
2. Immuntherapien: Checkpoint-Inhibitoren (z. B. Pembrolizumab, Nivolumab) können durch beschleunigte Zunahme von Atherosklerose thrombotische Ereignisse begünstigen. CAR-T Cell Therapien wurden ebenfalls mit Schlaganfällen assoziiert, aber der Mechanismus ist derzeit noch nicht geklärt (18, 19).

3. Hormontherapien: Bei bestimmten Krebsarten, insbesondere Brust- und Prostatakrebs, werden häufig Hormontherapien eingesetzt. Diese Therapien (z.B. Tamoxifen, Aromatasehemmer [z. B. Anastrozol, Letrozol] und LHRH-Agonisten [z. B. Goserelin, Leuprolid]) stören das hormonelle Gleichgewicht und können dadurch einen prothrombotischen Zustand induzieren.
4. Strahlentherapie: Strahlentherapie bei Tumoren im Kopf-Hals-Bereich kann zur direkten Schädigung der zerebralen Gefässe führen und weiterhin auch atherosklerotische Gefässveränderungen durch Entstehung von Plaques begünstigen. Beide Phänomene erhöhen langfristig das Schlaganfallrisiko.

Kardiovaskuläre Risikofaktoren bei Krebsassoziierten Schlaganfällen

Neben der direkten Wirkung des Tumors und seiner Therapie spielen klassische kardiovaskuläre Risikofaktoren eine erhebliche Rolle bei der Entstehung von Schlaganfällen bei Krebspatienten. Patienten mit Krebs haben häufig eine Reihe zusätzlicher «gemeinsamer» Risikofaktoren mit Schlaganfallpatienten, die das Schlaganfallrisiko weiter erhöhen (20, 21). Hierbei sind vor allem Hyper­lipidämie, arterielle Hypertonie, Diabetes mellitus, Alkoholkonsum und Nikotinabusus aufzuführen.

Akuttherapeutische Möglichkeiten bei krebsassoziierten Schlaganfällen

Die Behandlung akuter Schlaganfälle bei Krebspatienten stellt eine besondere klinische Herausforderung dar, da die Hyperkoagulabilität und die vorliegenden kardiovaskulären Risikofaktoren dieser Patienten das Risiko von neuen thromboembolischen Ereignissen, Blutungen als auch von peri- und postinterventionellen Komplikationen erhöhen können (4, 13).

Intravenöse Thrombolyse

Studien haben gezeigt, dass die intravenöse Thrombolyse bei Schlaganfallpatienten mit Krebs im Thrombolysezeitfenster sicher durchgeführt werden kann. Krebspatienten zeigten nach einer Thrombolysebehandlung eine Verbesserung der Schlaganfall-Symptome. Allerdings besteht bei diesen Patienten ein erhöhtes Risiko für Nachblutungen, insbesondere bei metastatischen Erkrankungen oder bei fortgeschrittenem Tumorstadium (22, 23). Dabei wurde jedoch kein Unterschied zwischen symptomatischen intrakraniellen Nachblutungen nachgewiesen (24). Zusammenfassend ist die intravenöse Thrombolyse bei Schlaganfallpatienten mit Krebs eine sichere Behandlung, wobei jedoch aufgrund eines erhöhten Nachblutungsrisikos eine sorgfältige Abwägung der Risiken und Nutzen erforderlich ist.

Mechanische Thrombektomie

Im Allgemeinen haben Studien gezeigt, dass die Behandlung mittels mechanischer Thrombektomie von Schlaganfallpatienten mit Krebs sicher ist. Die langfristig
verbleibenden Defizite nach einer mechanischen Thrombektomie bei Schlaganfallpatienten mit Krebs waren
jedoch schlechter als bei Patienten ohne Krebs. Dieser Unterschied scheint aber hauptsächlich auf die Krebserkrankung selbst zurückzuführen zu sein und nicht primär auf das Ergebnis der mechanischen Thrombektomie an sich (25).

Prävention von krebsassoziierten Schlaganfällen

Primäre Prävention bei Krebspatienten zur Vermeidung von Schlaganfällen ist derzeit nicht indiziert (26, 27). Eine kürzlich veröffentlichte Literaturübersicht und eine Metaanalyse zeigten keine Reduktion der arteriellen Thrombosen (einschliesslich Schlaganfälle) bei Krebspatienten unter systemischer Therapie, die zur Primärprävention mit Antikoagulanzien behandelt wurden. Thrombozytenaggregationshemmer spielen eine Rolle bei der Primärprävention von arteriellen Thrombosen bei myelo­proliferativen Erkrankungen, werden aber nicht generell zur Primärprävention von Schlaganfällen empfohlen.

Sekundärprävention von krebsassoziierten Schlaganfällen

Post-hoc-Analysen von randomisierten klinischen Studien haben ergeben, dass es keine signifikanten Unterschiede zwischen direkten oralen Antikoagulanzien (DOAK) und Aspirin in der Sekundärprävention bei Schlaganfallpatienten mit Krebs gibt (28). Aufgrund der jeweiligen Studiengestaltung sind diese Ergebnisse allerdings nicht ausreichend, um evidenzbasierte Empfehlungen zur Sekundärprävention abzugeben.
Aktuell werden basierend auf der Annahme ihrer Wirksamkeit auf die paraneoplastische Hyperkoagulabilität bei Krebspatienten zumeist DOAKs nach krebsassoziiertem Schlaganfall als Sekundärprävention eingesetzt. Eine Studie hat gezeigt, dass eine Senkung des D-Dimer-Spiegels durch Antikoagulanzien mit einer reduzierten 1-Jahres-Mortalität verbunden ist, was diese Hypothese unterstützt (29, 30).
Die Langzeitdurchführung einer Antikoagulation mit niedermolekularem Heparin hingegen wurde aufgrund der unzureichenden Patienten-Compliance infrage gestellt (31). Die Anwendung von DOAKs gilt als sicher, erfordert jedoch weitere Evidenz (32). Generell ist bei der Wahl der Sekundärprävention das spezifische Blutungsrisiko des individuellen Patienten zu berücksichtigen (33).
Ebenso kommt auch der Behandlung von generellen kardiovaskulären Risikofaktoren eine wichtige Bedeutung zu, um das Schlaganfallrisiko insgesamt zu reduzieren.

Fazit für die ärztliche Praxis

Krebsassoziierte Schlaganfälle sind eine erhebliche Herausforderung in der klinischen Praxis, insbesondere aufgrund der komplexen Wechselwirkungen zwischen Krebserkrankungen und thromboembolischen Ereignissen.
Dabei werden krebsassoziierte Schlaganfälle neben gemeinsamen kardiovaskulären Risikofaktoren auch durch spezifische krebsbedingte Einflüsse verursacht. Besonders Patienten mit fortgeschrittenen oder metastasierten Tumoren weisen ein erhöhtes Schlaganfallrisiko auf. Das Schlaganfallrisiko ist hierbei insbesondere in den ersten Monaten nach der Krebsdiagnose erhöht.
Zudem können bestimmte Krebsbehandlungen prothrombotische Zustände begünstigen. Hinsichtlich der Akutbehandlung gelten sowohl die intravenöse Thrombolyse als auch die mechanische Thrombektomie bei Krebspatienten als sicher durchführbar. Entsprechend ist eine schnelle notfallmässige Vorstellung auf einer Notfallstation beim Auftreten von Schlaganfallsymptomen von entscheidender Bedeutung.
Eine Primärprophylaxe von krebsassoziierten Schlaganfällen ist aktuell nicht indiziert.
Die Wahl der Sekundärprophylaxe in Abwesenheit klarer Richtlinien bleibt oft in der Entscheidung des behandelnden Arztes. Während DOAKs bei vielen Patienten aufgrund der zugrundeliegenden Hyperkoagulation bevorzugt werden, zeigen aktuelle Studien keine klare Überlegenheit gegenüber Thrombozytenaggregationshemmer.

Dr. med. Moritz Kielkopf

Universitätsklinik für Neurologie
Inselspital Bern
Rosenbühlgasse 25
3010 Bern

Prof. Dr. med. Hakan Sarikaya

Universitätsklinik für Neurologie
Inselspital Bern
Rosenbühlgasse 25
3010 Bern

Dr. med. Morin Beyeler

Universitätsklinik für Neurologie
Inselspital Bern
Rosenbühlgasse 25
3010 Bern

  • Patienten mit fortgeschrittenen oder metastasierten
    Tumoren haben ein signifikant erhöhtes Risiko für Schlag­anfälle, insbesondere in den ersten drei Monaten nach der Krebs­diagnose. Diese sind oft durch paraneoplastische Gerinnungsstörungen verursacht.
  • Krebsassoziierte Schlaganfälle werden durch prothrombo­tische Mechanismen begünstigt, die von fortgeschrittenen Krebsformen ausgelöst werden, wie die Freisetzung von Tissue Factor und anderen entzündungsfördernden Faktoren. Stark erhöhte D-Dimer-Werte sind ein häufiger Marker für diese Prozesse.
  • Gewisse Chemotherapien, Immuntherapien, Hormon­therapien sowie Strahlentherapie können durch prothrombotische Nebenwirkungen und Gefässschädigungen das Schlaganfallrisiko erhöhen.
  • Sowohl die intravenöse Thrombolyse als auch die mechanische Thrombektomie sind bei krebsassoziierten Schlagan­fällen sicher, erfordern jedoch eine sorgfältige Abwägung der Risiken aufgrund eines erhöhten Blutungsrisikos bei meta­stasierten Tumoren.
  • Während DOAKs häufig zur Sekundärprävention bei krebs­assoziierten Schlaganfällen eingesetzt werden, gibt es keine klaren evidenzbasierten Empfehlungen. Eine individuelle Risiko-Nutzen-Abwägung, einschliesslich des Blutungs­risikos und der Patienten-Compliance, ist entscheidend.

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Risikofaktoren und Behandlung von krebsassoziierten Schlaganfällen

Das Risiko von thromboembolischen Ereignissen wie unter anderem ischämischen Schlaganfällen ist bei Krebspatienten bekanntermassen signifikant erhöht. Eine paraneoplastische Gerinnungsstörung wird bei onkologischen Patienten häufig als primäre Ursache für Schlaganfälle, tiefe Venenthrombosen und Lungenembolien angesehen. Neben dieser paraneoplastischen Thrombusbildung trägt auch das Vorhandensein klassischer kardiovaskulärer Risikofaktoren, die Krebs- und Schlaganfallpatienten gemeinsam haben, erheblich zum Auftreten von Schlaganfällen bei Krebspatienten bei. Bestimmte Chemo-, Hormon- und Immuntherapien sowie Strahlentherapien im Bereich des Halses und des Gehirns erhöhen ebenso das Schlaganfallrisiko bei Krebspatienten. Es ist daher wichtig, die entsprechenden Krebspatienten mit einem erhöhten Schlaganfallrisiko zu erkennen und entsprechend zu sensibilisieren.

The risk of thromboembolic events is known to be increased in cancer patients. This also applies to cerebrovascular events such as strokes. Paraneoplastic coagulopathy is often regarded as the main cause of strokes and other thromboembolic events (venous thrombosis and pulmonary embolism) in cancer patients. In addition to paraneoplastic coagulopathy, the presence of classic cardiovascular risk factors, which cancer and stroke patients have in common, also contributes significantly to the occurrence of strokes in cancer patients. Certain chemo-, hormone- and immunotherapies and radiotherapy to the neck and brain also increase the risk of stroke in cancer patients. It is therefore crucial to be able to identify and provide care for cancer patients at increased risk of stroke.
Key words: Cancer-associated stroke, Hypercoagulability, Paraneoplastic coagulopathy, Secondary prevention, Anticoagulation therapy

Fallbericht

Eine 68-jährige Patientin wurde mit Verdacht auf einen Schlaganfall mit einer schweren Aphasie, einer leichtgradigen motorischen Hemiparese rechts und einer deutlichen Vernachlässigung (Neglekt) der linken Körperseite in ein Zentrumsspital eingeliefert. Einige Monate zuvor war bei der Patientin ein metastasierendes Bronchialkarzinom diagnostiziert worden. Bildgebende Untersuchungen zeigten das Vorliegen multipler zerebraler Infarkte in verschiedenen zerebralen Versorgungsgebieten, was auf eine proximal-embolische Genese schliessen liess (Abb. 1).

Die laborchemische Untersuchung zeigte eine ausgeprägte Gerinnungsaktivierung mit stark erhöhten D-Dimer-Werten von 9835 µg/L (Referenzbereich <500 µg/L), die nach Ausschluss einer tiefen Beinvenenthrombose und Lungen­embolie auf das Vorliegen einer paraneoplastischen Gerinnungsstörung zurückgeführt wurde. Auch das C-reaktive Protein (CRP) war mit 48 mg/L (Referenzbereich <5 mg/L) signifikant erhöht. In Abwesenheit weiterer Hinweise auf eine Infektion oder systemische Entzündung wurde dieser Anstieg ebenfalls im Kontext der zugrundeliegenden aktiven Krebserkrankung interpretiert. Zusätzlich wurde eine Anämie mit einem Hämoglobinwert von 108 g/L (Norm: 121-154 g/L) festgestellt, die mangels Anzeichen einer akuten Blutung als chronische Anämie gewertet und höchstwahrscheinlich im Zusammenhang mit der Krebserkrankung gesehen wurde.

Im Rahmen der ätiologischen Abklärung des Schlaganfalls konnten keine alternativen Ursachen festgestellt werden. Insbesondere fanden sich keine Hinweise auf eine kardiale Emboliequelle, welche häufig ein ähnliches multiterritoriales Verteilungsmuster der Schlaganfälle aufweist. Der Schlaganfall wurde letztlich ätiologisch der Krebserkrankung zugeschrieben. Als Sekundärprävention wurde nach 6 Tagen eine therapeutische Antikoagulation mit niedrigmolekularem Heparin (Clexane) in voller Dosierung eingeleitet.
Da die tägliche subkutane Injektion für die Patientin unangenehm war, entschied sie sich nach zwei Wochen, selbstständig die Antikoagulation abzusetzen. In der darauffolgenden Konsultation in der hausärztlichen Praxis wurde eine blutverdünnende Therapie mit Eliquis initiiert und diesmal konsequent fortgeführt.

Risikofaktoren für krebsassoziierte Schlaganfälle

Krebsassoziierte Schlaganfälle werden neben allgemeinen kardiovaskulären Risikofaktoren auch durch spezifische Risikofaktoren beeinflusst, die sowohl mit der Tumor­erkrankung selbst als auch mit den therapeutischen Massnahmen zusammenhängen (Tab. 1).
Dabei treten die Schlaganfälle häufig innerhalb des ersten Monats nach der Krebsdiagnose auf, wobei das Risiko insbesondere in den ersten drei Monaten nach Diagnosestellung signifikant erhöht ist und anschliessend wieder abnimmt (1).

Hyperkoagulabilität und Krebs

Bestimmte Krebserkrankungen wie Lungen-, Pankreas-, Gastrointestinal- und Ovarialkarzinome, insbesondere in lokal fortgeschrittenen oder metastasierten Stadien, sind eng mit einem erhöhten Schlaganfallrisiko verbunden. Darüber hinaus weisen vor allem histologische Adenokarzinome eine deutliche Assoziation mit thromboembolischen Ereignissen auf (2–5). Es wird angenommen, dass alle diese spezifischen und fortgeschrittenen Krebsformen zu einer Hyperkoagulabilität führen, indem prothrombotische Elemente (z. B. von Willebrand-Faktor, Tissue Factor, Tumorantigene, zirkulierende Tumorzellen und entzündungsfördernde Zytokine) in den Kreislauf freigesetzt werden (3, 6, 7).

Diese prothrombotischen Prozesse führen zu einer verstärkten Umwandlung von Fibrinogen in Fibrin sowie zu einer erhöhten Thrombinaktivität wodurch die Thrombusbildung begünstigt wird (4, 8–10). D-Dimere, Abbauprodukte von Fibrin, werden daher häufig als Marker für eine Hyperkoagulabilität verwendet und sind bei Krebspatienten mit Schlaganfällen deshalb oft stark erhöht (5). Auch die mikroskopische Zusammensetzung von krebs­assoziierten Thromben weist entsprechend oft einen höheren Fibringehalt auf als bei anderen Schlaganfallursachen (11). Der detaillierte Pathomechanismus der paraneoplastischen Gerinnungsstörungen ist jedoch insgesamt noch zu wenig verstanden und weitere Studien sind notwendig, um konkrete Behandlungsansätze zu entwickeln.

Krebstherapie als Risikofaktor für Schlaganfall

Krebstherapien können das Schlaganfallrisiko erhöhen, da sie prothrombotische Nebenwirkungen haben und die Blutgefässe schädigen können (12–15). Dabei ist auch bei diesem Prozess weitere Forschung zum genauen Verständnis der Pathophysiologie notwendig.
1. Chemotherapie: Gewisse Chemotherapeutika (Cisplatin, Bevacizumab, Thalidomid) können eine prokoagulierende Aktivität oder Erhöhung der Blutviskosität verursachen und erhöhen daher das Risiko eines Schlaganfalls (16). Darüber hinaus sind einige Chemotherapeutika (Doxorubicin, Cyclophosphamid) direkt toxisch für das Gefässendothel, was die lokale Bildung von Thromben fördern kann.
Ebenso können die kardiotoxischen Nebenwirkungen verschiedener Chemotherapien (z.B. Anthrazykline oder Trastuzumab) durch die Entstehung einer akuten und/oder chronischen Kardiomyopathie oder Herzrhythmusstörungen zu Schlaganfällen führen (17).
2. Immuntherapien: Checkpoint-Inhibitoren (z. B. Pembrolizumab, Nivolumab) können durch beschleunigte Zunahme von Atherosklerose thrombotische Ereignisse begünstigen. CAR-T Cell Therapien wurden ebenfalls mit Schlaganfällen assoziiert, aber der Mechanismus ist derzeit noch nicht geklärt (18, 19).
3. Hormontherapien: Bei bestimmten Krebsarten, insbesondere Brust- und Prostatakrebs, werden häufig Hormontherapien eingesetzt. Diese Therapien (z.B. Tamoxifen, Aromatasehemmer [z. B. Anastrozol, Letrozol] und LHRH-Agonisten [z. B. Goserelin, Leuprolid]) stören das hormonelle Gleichgewicht und können dadurch einen prothrombotischen Zustand induzieren.
4. Strahlentherapie: Strahlentherapie bei Tumoren im Kopf-Hals-Bereich kann zur direkten Schädigung der zerebralen Gefässe führen und weiterhin auch atherosklerotische Gefässveränderungen durch Entstehung von Plaques begünstigen. Beide Phänomene erhöhen langfristig das Schlaganfallrisiko.

Kardiovaskuläre Risikofaktoren bei Krebsassoziierten Schlaganfällen

Neben der direkten Wirkung des Tumors und seiner Therapie spielen klassische kardiovaskuläre Risikofaktoren eine erhebliche Rolle bei der Entstehung von Schlaganfällen bei Krebspatienten. Patienten mit Krebs haben häufig eine Reihe zusätzlicher «gemeinsamer» Risikofaktoren mit Schlaganfallpatienten, die das Schlaganfallrisiko weiter erhöhen (20, 21). Hierbei sind vor allem Hyper­lipidämie, arterielle Hypertonie, Diabetes mellitus, Alkoholkonsum und Nikotinabusus aufzuführen.

Akuttherapeutische Möglichkeiten bei krebsassoziierten Schlaganfällen

Die Behandlung akuter Schlaganfälle bei Krebspatienten stellt eine besondere klinische Herausforderung dar, da die Hyperkoagulabilität und die vorliegenden kardiovaskulären Risikofaktoren dieser Patienten das Risiko von neuen thromboembolischen Ereignissen, Blutungen als auch von peri- und postinterventionellen Komplikationen erhöhen können (4, 13).

Intravenöse Thrombolyse

Studien haben gezeigt, dass die intravenöse Thrombolyse bei Schlaganfallpatienten mit Krebs im Thrombolysezeitfenster sicher durchgeführt werden kann. Krebspatienten zeigten nach einer Thrombolysebehandlung eine Verbesserung der Schlaganfall-Symptome. Allerdings besteht bei diesen Patienten ein erhöhtes Risiko für Nachblutungen, insbesondere bei metastatischen Erkrankungen oder bei fortgeschrittenem Tumorstadium (22, 23). Dabei wurde jedoch kein Unterschied zwischen symptomatischen intrakraniellen Nachblutungen nachgewiesen (24). Zusammenfassend ist die intravenöse Thrombolyse bei Schlaganfallpatienten mit Krebs eine sichere Behandlung, wobei jedoch aufgrund eines erhöhten Nachblutungsrisikos eine sorgfältige Abwägung der Risiken und Nutzen erforderlich ist.

Mechanische Thrombektomie

Im Allgemeinen haben Studien gezeigt, dass die Behandlung mittels mechanischer Thrombektomie von Schlaganfallpatienten mit Krebs sicher ist. Die langfristig verbleibenden Defizite nach einer mechanischen Thrombektomie bei Schlaganfallpatienten mit Krebs waren
jedoch schlechter als bei Patienten ohne Krebs. Dieser Unterschied scheint aber hauptsächlich auf die Krebserkrankung selbst zurückzuführen zu sein und nicht primär auf das Ergebnis der mechanischen Thrombektomie an sich (25).

Prävention von krebsassoziierten Schlaganfällen

Primäre Prävention bei Krebspatienten zur Vermeidung von Schlaganfällen ist derzeit nicht indiziert (26, 27). Eine kürzlich veröffentlichte Literaturübersicht und eine Metaanalyse zeigten keine Reduktion der arteriellen Thrombosen (einschliesslich Schlaganfälle) bei Krebspatienten unter systemischer Therapie, die zur Primärprävention mit Antikoagulanzien behandelt wurden. Thrombozytenaggregationshemmer spielen eine Rolle bei der Primärprävention von arteriellen Thrombosen bei myelo­proliferativen Erkrankungen, werden aber nicht generell zur Primärprävention von Schlaganfällen empfohlen.

Sekundärprävention von krebsassoziierten Schlaganfällen.

Post-hoc-Analysen von randomisierten klinischen Studien haben ergeben, dass es keine signifikanten Unterschiede zwischen direkten oralen Antikoagulanzien (DOAK) und Aspirin in der Sekundärprävention bei Schlaganfallpatienten mit Krebs gibt (28). Aufgrund der jeweiligen Studiengestaltung sind diese Ergebnisse allerdings nicht ausreichend, um evidenzbasierte Empfehlungen zur Sekundärprävention abzugeben.

Aktuell werden basierend auf der Annahme ihrer Wirksamkeit auf die paraneoplastische Hyperkoagulabilität bei Krebspatienten zumeist DOAKs nach krebsassoziiertem Schlaganfall als Sekundärprävention eingesetzt. Eine Studie hat gezeigt, dass eine Senkung des D-Dimer-Spiegels durch Antikoagulanzien mit einer reduzierten 1-Jahres-Mortalität verbunden ist, was diese Hypothese unterstützt (29, 30).

Die Langzeitdurchführung einer Antikoagulation mit niedermolekularem Heparin hingegen wurde aufgrund der unzureichenden Patienten-Compliance infrage gestellt (31). Die Anwendung von DOAKs gilt als sicher, erfordert jedoch weitere Evidenz (32). Generell ist bei der Wahl der Sekundärprävention das spezifische Blutungsrisiko des individuellen Patienten zu berücksichtigen (33).

Ebenso kommt auch der Behandlung von generellen kardiovaskulären Risikofaktoren eine wichtige Bedeutung zu, um das Schlaganfallrisiko insgesamt zu reduzieren.

Fazit für die ärztliche Praxis

Krebsassoziierte Schlaganfälle sind eine erhebliche Herausforderung in der klinischen Praxis, insbesondere aufgrund der komplexen Wechselwirkungen zwischen Krebserkrankungen und thromboembolischen Ereignissen.

Dabei werden krebsassoziierte Schlaganfälle neben gemeinsamen kardiovaskulären Risikofaktoren auch durch spezifische krebsbedingte Einflüsse verursacht. Besonders Patienten mit fortgeschrittenen oder metastasierten Tumoren weisen ein erhöhtes Schlaganfallrisiko auf. Das Schlaganfallrisiko ist hierbei insbesondere in den ersten Monaten nach der Krebsdiagnose erhöht.
Zudem können bestimmte Krebsbehandlungen prothrombotische Zustände begünstigen. Hinsichtlich der Akutbehandlung gelten sowohl die intravenöse Thrombolyse als auch die mechanische Thrombektomie bei Krebspatienten als sicher durchführbar. Entsprechend ist eine schnelle notfallmässige Vorstellung auf einer Notfallstation beim Auftreten von Schlaganfallsymptomen von entscheidender Bedeutung.

Eine Primärprophylaxe von krebsassoziierten Schlaganfällen ist aktuell nicht indiziert.

Die Wahl der Sekundärprophylaxe in Abwesenheit klarer Richtlinien bleibt oft in der Entscheidung des behandelnden Arztes. Während DOAKs bei vielen Patienten aufgrund der zugrundeliegenden Hyperkoagulation bevorzugt werden, zeigen aktuelle Studien keine klare Überlegenheit gegenüber Thrombozytenaggregationshemmer.

Copyright Aerzteverlag medinfo AG

Dr. med. Moritz Kielkopf

Universitätsklinik für Neurologie
Inselspital Bern
Rosenbühlgasse 25
3010 Bern

Pr Dr Hakan Sarikaya

Hôpital universitaire Inselspital
service de neurologie
Freiburgstrasse
3010 Berne

Dr. med. Morin Beyeler

Universitätsklinik für Neurologie
Inselspital Bern
Rosenbühlgasse 25
3010 Bern

Die Autoren haben keine Interessenskonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

  •  Patienten mit fortgeschrittenen oder metastasierten
    Tumoren haben ein signifikant erhöhtes Risiko für Schlag­anfälle, insbesondere in den ersten drei Monaten nach der Krebs­diagnose. Diese sind oft durch paraneoplastische Gerinnungsstörungen verursacht.
  • Krebsassoziierte Schlaganfälle werden durch prothrombo­tische Mechanismen begünstigt, die von fortgeschrittenen Krebsformen ausgelöst werden, wie die Freisetzung von
    Tissue Factor und anderen entzündungsfördernden Faktoren. Stark erhöhte D-Dimer-Werte sind ein häufiger Marker für diese Prozesse.
  • Gewisse Chemotherapien, Immuntherapien, Hormon­therapien sowie Strahlentherapie können durch prothrombotische Nebenwirkungen und Gefässschädigungen das Schlaganfallrisiko erhöhen.
  • Sowohl die intravenöse Thrombolyse als auch die mechanische Thrombektomie sind bei krebsassoziierten Schlagan­fällen sicher, erfordern jedoch eine sorgfältige Abwägung der Risiken aufgrund eines erhöhten Blutungsrisikos bei meta­stasierten Tumoren.
  • Während DOAKs häufig zur Sekundärprävention bei krebs­assoziierten Schlaganfällen eingesetzt werden, gibt es keine klaren evidenzbasierten Empfehlungen. Eine individuelle Risiko-Nutzen-Abwägung, einschliesslich des Blutungs­risikos und der Patienten-Compliance, ist entscheidend.

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Periphere Neuropathien

Periphere Neuropathien können Menschen in jedem Alter betreffen, treten jedoch am häufigsten bei Personen über 65 Jahren auf. Sie weisen eine Vielzahl von Beschwerden auf, die von rein sensiblen Symptomen bis hin zu schweren sensomotorischen Beeinträchtigungen reichen und sich unterschiedlich schnell entwickeln können. Periphere Neuropathien sind mit einer Vielzahl von Erkrankungen assoziiert. Die Diagnose erfordert einen systematischen Ansatz und eine umfassende Evaluation. Die Behandlung beinhaltet gezielte Therapie der zugrundeliegenden Erkrankung, Symptommanagement und Prävention, einschliesslich Schmerzlinderung bei schmerzhaften Neuropathien, Ergo- und Physiotherapie sowie der Verwendung von orthopädischen Hilfsmitteln.

Peripheral neuropathies can affect individuals at any age but are most prevalent in those over 65. They present with a variety of symptoms from purely sensory to severe sensorimotor impairment and can progress at varying rates. They can be the manifestation of a broad range of conditions. Diagnosis requires a systematic approach and comprehensive evaluation. Treatments focus on management of the underlying disease, symptom control and prevention, including pain relief for painful neuropathies, physical and occupational therapies, and the use of orthopaedic devices.
Key words: Sensible Neuropathie, Motorische Neuropathie, Diabetische Neuropathie, Guillain-Barré Syndrom, Schmerzmodulation

Periphere Neuropathien sind häufige Erkrankungen des peripheren Nervensystems mit einer Prävalenz von mindestens 7 % bei Menschen über 65 Jahren, wobei die tatsächlichen Zahlen wahrscheinlich höher liegen, da insbesondere milde Formen unentdeckt bleiben können.
Bei Polyneuropathien besteht in der Regel eine distal symmetrische, längenabhängige Beteiligung der sensomotorischen Nerven, mit klinisch sensibel-betonter Symptomatik und langsamer Progression. Bei der schmerzhaften multifokalen Neuropathie (Mononeuritis multiplex, meistens assoziiert mit Vaskulitis) liegt dagegen eine asymmetrische Beteiligung einzelner Nerven in unterschiedlichen Körperregionen vor, während Polyradikulopathien (wie z.B. das Guillain-Barré Syndrom) auch einen proximalen Befall und teilweise Hirnnervenbeteiligung aufweisen. Polyneuropathien sind zudem von Mononeuropathien zu unterscheiden, bei denen nur ein Nerv betroffen ist (wie z.B. das Karpaltunnelsyndrom) (Abb. 1).

Klassifikation

Periphere Neuropathien können klassifiziert werden nach:
► Beteiligung des Fasertyps (motorische Neuropathie, sensible Neuropathie, autonome Neuropathie, gemischt, Small-Fiber Neuropathie);
► Verteilungsmuster (distal-symmetisch, asymmetrisch, proximal, proximal und distal);
► Zeitlichem Verlauf (akut, subakut, chronisch);
► Pathophysiologie (primär axonal, primär demyelinisierend, gemischt) ;
► Zugrundeliegender Ätiologie (Abb. 2).
Die Anamneseerhebung sowie die klinische und paraklinische Diagnostik dienen der präziseren Zuordnung peripherer Neuropathien, um ein gezielteres therapeutisches Vorgehen zu ermöglichen.
Es muss jedoch betont werden, dass trotz ausführlicher Abklärungen die Ursache einer Neuropathie bei bis zu 27 % der Patienten unklar bleibt.

Anamneseerhebung und klinische Evaluation

Bereits bei der ersten allgemeinärztlichen Evaluation sollten der Symptombeginn und der zeitliche Verlauf erfragt werden, ebenso ob eine Seitenasymmetrie vorliegt oder eine Beteiligung der oberen Extremitäten. Da die meisten Patienten spontan über Sensibilitätsstörungen berichten, sollte auch nach einer Schwäche gefragt werden. Symptome einer autonomen Funktionsstörung umfassen insbesondere trophische Störungen, Orthostase, Ruhetachykardie, urogenitale Funktionsstörungen und gastrointestinale Störungen, die evaluiert werden sollten. Die Abfrage von Systemerkrankungen sowie eine Alkoholanamnese sind obligat, ebenso die Medikamentenanamnese. Insbesondere bei langsamer Progression und Fussdeformitäten sollte an eine hereditäre Ursache gedacht werden. In diesem Fall helfen weitere spezifische Fragen zur motorischen Entwicklung, zu Leistungen im Sport/Militär und zur Familienanamnese.

 Bei anamnestischen Hinweisen auf einen (sub)akuten Beginn mit aufsteigenden sensomotorischen Ausfällen und rascher Progredienz sollte an ein Guillain-Barré-Syndrom gedacht werden und eine notfallmässige neurologische Zuweisung erfolgen.

Die häufigsten Neuropathien zeigen eine sensomotorische und längenabhängige, somit distal-symmetrische und beinbetonte Beteiligung, wobei in der Regel zuerst sensible Störungen auftreten. Die Patienten berichten über Negativsymptome wie Taubheitsgefühle, oft beschrieben als ein Gefühl wie auf «Watte zu laufen». Dieses beginnt zunächst in den Zehen und kann im Verlauf den ganzen Fuss betreffen. Positive sensible Symptome können in unterschiedlicher Qualität und Ausprägung auftreten, von leichtem Druckgefühl über Berührungsintoleranz, Kribbelparästhesien, Brennen, Stechen und Elektrisieren bis hin zu starken Schmerzen. Ungewöhnlich ist jedoch eine ausgeprägte Schmerzsymptomtik im Vordergrund. In solchen Fällen sollte insbesondere an eine Vaskulitis, an Morbus Fabry oder an eine Amyloid-Neuropathie gedacht werden. Die Patienten mit Small-Fiber Neuropathie berichten auch über schmerzhafte Missempfindungen.

Bei einer Small-Fiber Neuropathie mit Beteiligung der dünn myelinisierten und unmyelinisierten Nervenfasern ist in der Regel das Temperatur- und Schmerzempfinden reduziert. Bei Beteiligung der grosskalibrigen myelinisierten Nervenfasern sind die Oberflächensensibilität und die Tiefensensibilität betroffen. In der klinischen Untersuchung sollte demnach die Beurteilung aller sensiblen Funktionen erfolgen, insbesondere das Berührungs-, Temperatur-, Schmerz- und Vibrationsempfinden sowie der Lagesinn sind zu berücksichtigen. Aufgrund der reduzierten Wahrnehmung können schmerzlose Wunden entstehen. Bei zunehmender Beteiligung der Tiefensensibilität entstehen ein unsicheres Gangbild, insbesondere im Dunkeln, ein erschwerter Seiltänzergang sowie ein positiver Romberg-Stehversuch. In schweren Fällen zeigt sich eine deutliche sensible Ataxie beim Gehen.

Die motorischen Symptome treten meistens erst im Verlauf auf und umfassen Muskelschwäche, Muskelschwund, Muskelkrämpfe und ggf. Muskelzuckungen. Passend dazu findet man in der Untersuchung eine distal- und beinbetonte Schwäche und Atrophie, initial eher mit Beteiligung der Zehenspreizung und Zehenhebung sowie eine Atrophie der kurzen Zehenextensoren, im Verlauf aber auch der Wadenmuskulatur. Erschwerte Gangprüfungen, wie der Fersen- und Zehengang, können ansonsten diskrete Fussheber- und Fusssenkerparesen deutlicher sichtbar machen. Das Testen des Aufstehens aus der Hocke sowie aus kniender Position liefert Informationen über eine mögliche Beteiligung auch der proximalen Beinmuskulatur. Bei Beteiligung der Hände zeigt sich oft eine Schwäche der Fingerspreizung und der Daumenabduktion mit Atrophie der kleinen Handmuskeln und des Thenars und Hypothenars. Die Reflexe sind schwach oder erloschen, insbesondere der Achillessehnenreflex. Man kann visuell Muskelkrämpfe und Faszikulationen beobachten.

Hinweise auf autonome Störungen findet man bei den meisten Patienten im Bereich der unteren Extremitäten.Diese sind reduzierte Behaarung, eine trockene Haut aufgrund der An- oder Hypohidrose, Ödeme sowie eine Veränderung der Hautfarbe mit Rubeosis plantaris. Pupillenstörungen sowie eine Ruhetachykardie können in der Untersuchung auffallen.

Skelettabnormalitäten sollten beurteilt werden. Insbesondere Fussdeformitäten wie ein Pes cavus, Pes planus, Hammerzehen, sowie Skoliose/Kyphose können auf eine genetische Ursache hindeuten. Bei deutlicher Diskrepanz zwischen einer ausgeprägten klinischen Ausfallsymptomatik und einem subjektiv milden Beschwerdebild sollte an eine lange bestehende, langsam fortschreitende Ätiologie im Sinne einer hereditären Ursache gedacht werden.
Die häufigsten Symptome und klinischen Untersuchungsbefunde sind in Tab. 1 abgebildet.

Diagnostische Tests

Labordiagnostik

Bereits im Rahmen der ersten Evaluation einer Polyneuropathie sollte eine Basis-Labordiagnostik mit Bestimmung folgender Parameter erfolgen:

 Differentialblutbild, Chemogramm inkl. Elektrolyte, Leber- und Nierenwerte, CRP, TSH, HbA1c, Vitamin B12-Stufendiagnostik, Immunelektrophorese.
Weitere optionale Analysen: CDT, Vitamin B1, Vitamin B6, ANA, ANCA, Rheumafaktor, Kryoglobuline, Hepatitis B- und C-Serologie, HIV-Serologie, Borrelien-Serologie, Anti-MAG Antikörper, paraneoplastische Antikörper.

Bei Patienten mit einer bekannten Grunderkrankung, die mit einer Neuropathie in Verbindung gebracht werden kann, ist die oben beschriebene Basisdiagnostik ebenfalls sinnvoll, da mehrere Ursachen gleichzeitig vorliegen können (so wird z.B. Vitamin B12-Mangel bei Patienten mit Diabetes Mellitus häufig beobachtet).

Lumbalpunktion

Die Nervenwasseruntersuchung gehört nicht zur Routinediagnostik und wird nur bei Verdacht auf eine inflammatorische oder eine maligne/paraneoplastische Genese durchgeführt.

Elektrodiagnostik

Die Evaluation mittels Neurographie ermöglicht die Differenzierung zwischen axonalem und demyelinisierendem Nervenschaden und auch, ob eine motorische, sensible oder gemischte Beteiligung vorliegt. Zudem kann der Schädigungsort identifiziert werden. Bei einer Small-Fiber-Neuropathie bleibt die Neurographie dagegen unauffällig, da in dieser Untersuchung nur die Funktion der grosskalibrigen myelinisierten Fasern erfasst wird.

Bei Verdacht auf eine Small-Fiber Beteiligung wird Sudoscan angewendet, eine sensitive Methode zur Messung der elektrochemischen Hautleitfähigkeit der Hände und Füße mittels reverser Iontophorese.

Die Nadelmyographie liefert Informationen über die Chronizität und hilft auch bei der weiteren differentialdiagnostischen Zuordnung. Die Elektrodiagnostik kann auch longitudinal durchgeführt werden, um die Progression sowie ein mögliches Therapieansprechen zu beurteilen.

Bildgebende Verfahren

Der Nervenultraschall ist eine schnelle und kostengünstige Untersuchung, die eine wichtige Rolle insbesondere in der Zusatzdiagnostik der inflammatorischen Neuropathien spielt. Mit dieser Methode können (insbesondere bei inflammatorischen, aber auch bei vielen hereditären Neuropathien) vergrösserte Nervenschnittflächen der Nerven und/oder Nervenwurzeln nachgewiesen werden. In den letzten Jahren hat sich auch die MR-Neurographie als wertvolles diagnostisches Tool erwiesen.

Nervenbiopsie

Die Nervenbiopsie ist eine invasive Diagnostik und wird an einem sensiblen Nerv durchgeführt (in der Regel dem Nervus suralis). Residuelle Taubheitsgefühle distal der Biopsiestelle sind zu erwarten. Eine residuelle Schmerzsymptomatik tritt mit variabler Häufigkeit (0-60 %) auf. Die Untersuchung wird nur in begründeten Fällen durchgeführt, wie bei Verdacht auf eine vaskulitische Genese, maligne Genese oder Amyloid-Neuropathie.

Hautbiopsie

Die minimalinvasive Hautbiopsie kann im Rahmen der Abklärung einer Small-Fiber-Neuropathie ergänzt werden. Dadurch erfolgt die Quantifizierung der intraepidermalen Innervation, die eine hohe Sensitivität aufweist.

Quantitative sensorische Testung

Die Quantitative Sensorische Testung (QST) ist ein semiobjektives Verfahren zur Bestimmung der Detektionsschwellen für mechanische und thermische Reize und sollte bei Patienten mit Verdacht auf eine Small-Fiber Beteiligung ergänzend eingesetzt werden.

Autonome Testung

Ein Schellong-Test beantwortet die Frage nach einer orthostatischen Hypotonie oder einem posturalen orthostatischen Tachykardiesyndrom (POTS). Auch eine Frequenzstarre kann auffallen.

Genetische Testung

Abhängig von der klinischen Präsentation, Zusatzbefunde und der Familienanamnese wird bei Verdacht auf eine hereditäre Ursache eine gezielte oder umfassende genetische Panel-Diagnostik im Rahmen einer genetischen Beratung durchgeführt.
Für einen empfohlenen diagnostischen Ablauf zur Evaluation einer Polyneuropathie durch den Allgemeinarzt siehe Abb. 3.

Die wichtigsten Neuropathien auf einen Blick

Diabetische Neuropathie

Mit der Zeit weist jeder zweite Patient mit Diabetes Mellitus (Typ 1 oder Typ 2) eine periphere Nervenbeteiligung auf, so dass Diabetes die häufigste Ursache einer Polyneuropathie in der westlichen Welt ist. Zu den Risikofaktoren gehören unter anderem die Krankheitsdauer, das Alter, der HbA1c-Spiegel, das Vorliegen eines metabolischen Syndroms, Mangel an körperlicher Aktivität sowie Nikotin- und Alkoholkonsum. Bereits eine pathologische Glukosetoleranz kann eine Small-Fiber-Beteiligung hervorrufen, mit in diesem Fall im Vordergrund stehenden Schmerzen, sodass bereits der Prädiabetes mit einer peripheren Nervenbeteiligung verbunden ist. Typischerweise besteht jedoch bei Diabetes-Patienten eine chronische, sensomotorische, axonal-betonte Polyneuropathie mit überwiegend sensiblen Symptomen, während motorische Ausfälle in der Regel erst später auftreten. Wichtige potenzielle Komplikationen sind der diabetische Fuss sowie die kardiovaskuläre autonome Neuropathie. Letztere kann zu einer bis zu vierfach erhöhten Mortalität führen, bedingt durch plötzlichen Herztod, Arrhythmien, stumme Ischämien oder eine Kardiomyopathie.

Alkoholtoxische Neuropathie

Der chronische Alkoholkonsum führt bei bis zu 66 % der Patienten zu einer Polyneuropathie und ist die zweithäufigste erworbene Ätiologie. Die Dauer des Alkoholmissbrauchs und die Menge des konsumierten Alkohols sind wichtige beeinflussende Faktoren, wobei >100 g/Tag über mehrere Jahre als wahrscheinlich pathogene Grenze gesehen wird. Die Patienten leiden oft auch an Mangelernährung und konsekutivem Vitamin-B-Mangel (B1, B6, B12), was zur Polyneuropathie beiträgt. Meistens besteht eine langsam progrediente, sensomotorische und axonale Polyneuropathie, die oft auch mit Schmerzen verbunden ist. Eine begleitende sensible Ataxie kompliziert nicht selten gleichzeitig bestehende zerebelläre Defizite.

Vitamin-B12-Mangel

Die Vitamin-B12-Defizienz führt zu einer rein sensiblen Neuropathie mit einem subakuten Beschwerdebild, das Kribbeln, Hypästhesie und sensible Ataxie umfasst. Es muss beachtet werden, dass es alleine nicht ausreicht Vitamin-B12-Spiegel zu messen, sondern bei grenzwertigen Befunden auch der Holotranscobalamin-Spiegel bestimmt werden sollte. Zudem ist bei Patienten mit neurologischen Symptomen die für Vitamin-B12-Mangel typische makrozytäre Anämie oft nicht nachweisbar. Patienten nach einem bariatrischen Eingriff sind besonders anfällig für ernährungsbedingte Komplikationen und somit auch für Vitamin-B-Mangel.

Medikamentös-toxische Neuropathien

Polyneuropathien können durch eine Vielzahl von Medikamenten ausgelöst werden. Die häufigsten sind die chemotoxischen Neuropathien, insbesondere bei der Anwendung von Platinderivaten, Vinca-Alkaloiden, Taxanen, Proteasom-Inhibitoren und Antikörper-basierten Therapien. Die Häufigkeit einer Neuropathie unter Chemotherapie variiert zwischen 10 % und 90 %, abhängig von der Einzeldosis, Gesamtdosis und Therapiedauer.

Klinisch zeigt sich eine sensible-betonte axonale Neuropathie mit sensiblen Ausfällen und Schmerzen, die Wochen bis Monate nach Beginn der Behandlung auftreten. Neue Therapieansätze mit Checkpoint-Inhibitoren können zudem akute und chronische Immunneuropathien induzieren.

 Die tägliche Zufuhr von Vitamin B6 (hohe Dosen können unter anderem Sport- und Energiegetränke sowie Multivitaminpräparate enthalten) sollte 12 mg für Erwachsene nicht überschreiten, um eine Vitamin-B6-assoziierte Neurotoxizität zu vermeiden.

Guillain-Barré-Syndrom

Die akut-inflammatorische demyelinisierende Poly(radikulo)neuropathie, bekannt als Guillain-Barré-Syndrom, tritt in 2/3 der Fälle nach einer vorausgehenden (1-3 Wochen) respiratorischen oder gastrointestinalen Infektion auf. Es entwickeln sich innerhalb von Stunden bis zu 4 Wochen distal beginnende und proximal aufsteigende Lähmungen in den Armen und Beinen, begleitet von Sensibilitätsstörungen, Hypo- oder Areflexie sowie Schmerzen. In etwa 50 % der Fälle sind die Hirnnerven betroffen, und bei 2/3 der Patienten kommt es zu autonomen Funktionsstörungen mit kardiovaskulärer Dysregulation. Etwa 25 % der Patienten benötigen eine Beatmung. Aufgrund der Schwere ist das Guillain-Barré-Syndrom ein medizinischer Notfall, der häufig eine initiale Überwachung der Vitalfunktionen auf einer Intensivstation erfordert.

Bei anfänglich teilweise milden und diffusen Beschwerden kommt es weiterhin vor, dass manche Patienten fälschlicherweise als funktionell eingestuft werden. Daher sollte bis zum Ausschluss einer organischen Ursache entsprechend abgeklärt werden. Die chronische Form einer inflammatorischen demyelinisierenden Poly(radikulo)neuropathie wird als CIDP bezeichnet.

Amyloid-Neuropathie

Die Amyloid-Neuropathie ist die periphere Beteiligung einer systemischen Amyloidose, verursacht durch Mutationen im Transthyretin (ATTR)-Gen oder Leichtketten-Amyloidose. Es handelt sich um eine progressive, längenabhängige Polyneuropathie mit vorwiegender Beteiligung der Small-Fibers und der autonomen Nervenfasern, sodass neuropathische Schmerzen, Sensibilitätsstörungen und autonome Störungen im Vordergrund stehen. Paresen treten aufgrund des progredienten Verlaufs bereits innerhalb von 2 Jahren auf. Im Falle einer progressiven Neuropathie mit beidseitigem Karpaltunnelsyndrom, autonomer Dysfunktion, kardialer Beteiligung, Proteinurie sowie unklarem Gewichtsverlust sollte eine diagnostische Abklärung zum Ausschluss einer Amyloidose erfolgen.

Hereditäre Neuropathie

Die genetisch-bedingten Neuropathien umfassen eine klinisch und genetisch heterogene Gruppe mit motorischer, und/oder sensibler sowie autonomer Beteiligung. Derzeit sind mehr als 100 Gene und über 1500 Mutationen bekannt, die mit autosomal-dominant, autosomal-rezessiv, X-chromosomal oder mitochondrial vererbten Neuropathien in Zusammenhang stehen. Aufgrund des breiten klinischen Spektrums der hereditären Neuropathien sowie der phenotypischen Überlappung mit anderen neuromuskulären Erkrankungen in vielen Fällen, erfolgt in der Regel die weitere Abklärung mittels breiter Paneldiagnostik im Rahmen eines genetischen Beratungstermins.

Therapie

Die Therapie einer Neuropathie besteht als erstes darin, Risikofaktoren zu vermeiden oder bei bekannten Ursachen gezielt zu behandeln. Bei diabetischer Neuropathie sollte eine strenge glykämische Kontrolle in Kombination mit Bewegung, Diät und regelmässiger Fusskontrolle erfolgen. Bei alkoholassoziierter Neuropathie sind Abstinenz sowie die Korrektur der Mangelernährung mit Vitamin-B-Sub­stitution entscheidend. Bei Vitamin-B12-Mangel sollte eine entsprechende Substitutionstherapie durchgeführt und regelmässig der Spiegel kontrolliert werden. Medikamentös-toxische Neuropathien erfordern häufig das Absetzen/Umstellung der entsprechenden Medikamente, einschliesslich Chemotherapie nach interdisziplinärer Entscheidung. Entzündliche Neuropathien werden mit immunmodulatorischen oder immunsuppressiven Medikamenten behandelt, im Falle eines chronischen Verlaufes oft langfristig. Bei einer Leichtketten-Amyloidose, assoziiert zu einer monoklononalen Gammopathie unklarer Signifikanz oder Malignome, werden Chemotherapeutika oder eine autologe Stammzelltransplantation verwendet.

Symptomatisch werden Begleitschmerzen mit Antikonvulsiva oder Antidepressiva (Gabapentin, Pregabalin, Duloxetin, Venlaflaxin, trizyklische Antidepressiva) als erste Wahl behandelt. Zudem kommen topische Therapien wie Lidocain- oder Capsaicin-Pflaster je nach Grösse des Schmerzbereichs zur Anwendung (zweite Wahl). Schwache und starke Opioide (zweite und dritte Wahl) sollten nicht bei Behandlungsbeginn verwendet werden. Bei therapieresistenten Schmerzen ist eine schmerzmedizinische Konsultation empfehlenswert, um weitere intensivierte oder invasive Therapiemethoden wie die Implantation eines Neurostimulators zu evaluieren.

 Es gibt keine Evidenz für die breite Verwendung von Vitamin-B-Präparaten bei neuropathischen Beschwerden ohne nachweisbarem Vitamin-B-Mangel, sodass eine gezielte Substitution nur bei nachgewiesenem Defizit erfolgen sollte.

Insbesondere bei begleitenden Gleichgewichtsstörungen und Paresen ist eine ergo- und physiotherapeutische Begleitung sinnvoll, um Mobilität und Koordination, somit die Lebensqualität zu verbessern. Fussheberorthesen sind bei höhergradigen Fussheberparesen sinnvoll, ebenso orthopädische Schuheinlagen bei Fussdeformitäten, und Gehhilfen (Gehstock, Rollator) bei erhöhtem Sturzrisiko. Eine neurorehabilitative Evaluation im ambulanten oder stationären Setting kann hilfreich sein.

Bei einzelnen genetisch-bedingten Polyneuropathien kommen therapeutische Ansätze in Frage, unter anderem bei hereditärer Amyloidose.

Prognose

Die Prognose der Neuropathien variiert je nach Ursache und Schweregrad der Erkrankung. Der frühe Therapiebeginn ist entscheidend, um bleibende Schäden zu vermeiden.

Eine Glukosekontrolle ist bei Patienten mit Diabetes Mellitus effektiv, um das Fortschreiten der Erkrankung, mehr bei Typ 1 als bei Typ 2, zu kontrollieren.

Die Vitamin-B12-Substitution kann innerhalb weniger Monate zu einer Rückbildung der Neuropathie führen.

Auch bei Alkoholabstinenz kann sich die Neuropathie innerhalb von Monaten bis Jahren zurückbilden. Nach dem Absetzen des toxischen Medikaments kann sich die Neuropathie ebenfalls stabilisieren oder zurückbilden, wobei vor allem bei Platin-haltigen Präparaten zunächst eine weitere Verschlechterung nach Absetzen der Substanz auftreten kann.

Die Mortalität bei Guillain-Barré-Syndrom liegt aufgrund autonomer Komplikationen bei bis zu 10 %, wobei 80 % der Betroffenen die Fähigkeit zurückgewinnen, selbstständig zu gehen. Bei chronisch-inflammatorischen Neuropathien behalten die meisten Patienten Defizite trotz langjähriger Therapie.

Bei einer hereditären Neuropathie ist mit einer stetigen, langsamen Progression zu rechnen, weshalb die langfristige symptomatische und supportive Behandlung von grosser Bedeutung ist.

Copyright Aerzteverlag medinfo AG

Dr. med. Sara Nagy, MSc

Oberärztin Neuromuskuläres Zentrum
Neurologische Klinik und Poliklinik
Universitätsspital Basel
Petersgraben 4
4031 Basel

Die Autorin hat keine Interessenskonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

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Normaldruckhydrozephalus – Ein Fallbericht

Der Normaldruckhydrozephalus (NPH) ist eine wichtige Diagnose, da er zu den behandelbaren Demenzen und Gangstörungen gehört. Die klassische Trias muss nicht immer vollständig erfüllt sein. Die Diagnostik erfolgt mit einer Bildgebung, wo sich erweiterte innere Liquorräume zeigen, die über das Ausmass einer generalisierten Atrophie hinausgehen. Mit einem Liquorablass von mind. 30-50ml mit standardisierter Testung von Gangbild und kognitiven Funktionen kann die Diagnose erhärtet und der Therapieeffekt abgeschätzt werden.

Normal pressure hydrocephalus (NPH) is an important diagnosis because it is one of the treatable dementias and gait disorders. The classic triad does not always have to be completely fulfilled. The diagnosis is made with imaging, which shows enlarged internal CSF spaces that go beyond the extent of generalised atrophy. With a CSF drain of at least 30-50 ml with standardised testing of gait and cognitive functions, the diagnosis can be confirmed and the therapeutic effect assessed.
Key Words: Normal pressure hydrocephalus (NPH), treatable dementias, gait disorders, CSF spaces, CSF drain

Fallbericht

Eine 77-jährige Patientin war lange aufgrund von Rücken- und Beinschmerzen bei degenerativen Veränderungen der Wirbelsäule bei Schmerzmedizinern und Rheumatologen in konservativer Behandlung. Im weiteren Verlauf entwickelte die Patientin eine Gangataxie, die primär auf die Wirbelsäulenveränderungen mit Affektion neuraler Strukturen zurückgeführt wurde. Einige Monate später traten jedoch auch kognitive Störungen mit Einschränkungen des Kurzzeitgedächtnisses hinzu. Anamnestisch wurde auch eine intermittierende Urininkontinenz berichtet, was somit das klassische Bild einer Hakim-Trias vervollständigte. Sodann erfolgte die Vorstellung bei einem neurologischen Kollegen, welcher die bildgebende Diagnostik veranlasste. Das MRI zeigte eine typische Erweiterung aller vier Ventrikel und zusätzliche Zeichen einer beginnenden Liquordiapedese der Vorderhörner in der FLAIR- und T2-Sequenz. Nach zweimaliger Liquor-Punktion und Liquorablassversuch von ca. 35-40 ml Liquor zeigte die Patientin jedoch keine klare Besserung der Symptomatik und es wurden Zweifel an der Diagnose des NPH erhoben. Sieben Monate später wurde die Patientin aufgrund zunehmender Vigilanz-Schwankungen und Zunahme der Gangataxie erneut zugewiesen. Die cerebrale Bildgebung zeigte eine Zunahme der inneren Liquorräume. In der Folge wurde die Indikation zur Einlage einer lumbalen Drainage im Rahmen einer stationären Abklärung gestellt. Ein Tag nach Implantation der lumbalen Drainage (mit einem Fluss von 5-10 ml/Stunde) zeigte die Patientin eine signifikante Besserung des Gangbildes und der Kognition. Nach Entfernung der kontinuierlichen Lumbaldrainge kam es wieder zu einer Verschlechterung der Symptomatik. Damit wurde die Indikation für die VP-Shunt-Einlage gestellt. Der peri- und postoperative Verlauf gestaltete sich komplikationslos und die Patientin konnte im Verlauf bei deutlicher Besserung der Symptomatik, mit selbständigem und sicherem Gang, entlassen werden.

Bei der ersten postoperativen Kontrolle nach 6 Wochen gab die Patientin zwar eine Besserung der Hakim-Trias an, beklagte jedoch starke positionsabhängige Kopfschmerzen. Das Schädel-CT zeigte typische radiologische Zeichen einer Überdrainage mit sehr schmalen Seitenventrikeln und subduralen Hygromen. Nach Umstellungen des Shunt-Ventil-Druckes auf höhere Drücke verschlechterte sich die Gangataxie weiter und es konnte keine Besserung der positionsabhängigen Überdrainage erreicht werden. Somit wurde die Indikation zur Implantation eines positionsabhängigen Antisiphon-Gravitationsventils gestellt und in Lokalanästhesie infraklavikulär im distalen Shunt-Schlauch zwischengeschaltet. Die Patientin zeigte bereits nach 2-3 Tagen eine komplette Regredienz der Kopfschmerzsymptomatik bei gleichzeitiger Normalisierung des Gangbildes. Nach 6 Wochen hatte die inzwischen klinisch unauffällige Patientin auch im Schädel-CT eine komplette Resorption der subduralen Hygrome sowie eine Normalisierung der inneren Liquorräume. Ein Jahr postoperativ zeigte die Patientin weiterhin einen sehr erfreulichen Verlauf mit völliger Selbstständigkeit im Alltag, wobei weiterhin leichte kognitive Einschränkungen vorhanden waren.

Klinische Präsentation & Differentialdiagnostik

Die klassische Hakim-Trias beinhaltet eine Gangstörung, eine dementielle Entwicklung sowie eine Blasenfunktionsstörung (1, 2). Die Symptome können auch sequentiell auftreten, wie in dem beschriebenen Fall, oder müssen nicht zwingend vollständig vorliegen.

Gangstörung

Die Gangstörung ist sicherlich führend, wobei sich meist eine Verlangsamung zeigt, mit breitbasigem, kleinschrittigem Gangbild. Das Gangbild ähnelt dem «lower body parkinsonism», wie wir es von den vaskulären Parkinsonformen kennen (3). Die Differentialdiagnose zu einem Parkinson-Syndrom ist somit naheliegend, wobei die NPH-Patienten meist eine gesteigerte Mitbewegung der Arme zeigen (4). Generell ist eine Beteiligung des Oberkörpers für einen NPH äusserst untypisch. Wenn sich ein deutlicher Rigor an den Armen oder sogar ein Ruhetremor zeigt, muss eher an ein Parkinson-Syndrom gedacht und probatorisch mit L-Dopa behandelt werden. In der späteren Phase können auch Instabilität und Stürze auftreten, mit einer Retropulsionstendenz, wobei wiederum eine Progressive supranukleäre Blickparese (PSP) davon abzugrenzen ist (5).

Dementielle Entwicklung

Praktisch alle Patienten weisen auch kognitive Defizite auf, wobei sicherlich auch hier die Verlangsamung als Zeichen einer subkortikalen Demenz im Vordergrund steht. Daneben können sich auch frontale Zeichen finden, bis hin zur Disinhibition. Nichtsdestotrotz können die kognitiven Störungen sehr heterogen sein und machen es deswegen nicht selten schwierig, die richtigen Tests sowohl für den Liquorablass, als auch für den postoperativen Verlauf (Outcome) zu wählen. Folgende Hauptbereiche sind meist beteiligt: globale Funktion, exekutive Funktionen, Kurzzeitgedächtnis und Lernen, psychomotorische Geschwindigkeit und räumliche Wahrnehmung (6). Es ist naheliegend, dass sich entsprechend nicht der Minimentalstatus (MMSE), sondern eher der MoCA-Test anbietet, nicht zuletzt, weil Letzterer auch in unterschiedlichen Varianten vorliegt, sodass kurzfristige Lerneffekte vermieden werden können (1).

Blasenfunktionsstörung

Die Urininkontinenz wird bei weniger als 50% der Patienten beobachtet, vor allem im späteren Verlauf. Als frühes Zeichen findet sich eine autonome Blasenentleerungsstörung mit Detrusorüberaktivität, d.h. Drang-, respektive Urgesymptomatik (7).

Pathophysiologie

Zugrunde liegt wahrscheinlich eine Liquorresorptionsstörung, welche idiopathisch, aber auch symptomatisch – z.B. nach Trauma, SAB oder Meningitis – auftreten kann. Nicht selten verstreichen hierbei mehrere Jahre zwischen dem auslösenden Agens und der klinischen Entwicklung. Leichte oder transiente Druckerhöhungen, resp. das Auftreten von Scherkräften führen allmählich zur Ausweitung der Liquorräume und zur Liquordiapedese durch die Ventrikelwände. Mit der Ausweitung kann sich der Druck wieder normalisieren. Eine schwedische Studie fand erhöhte Neurofilament-Leichtketten und niedrigere Amyloid-Vorläufer- und Tau-Proteine (8). Die Autoren interpretieren ihre Daten als Hinweis für einen reduzierten periventrikulären Metabolismus, keine wesentliche kortikale Degeneration, jedoch periventrikuläre axonale Degeneration. Die Liquorbiomarker unterschieden sich charakteristisch von älteren gesunden Kontrollen und Patienten mit Alzheimer-Demenz.

Diagnostik

Im Vordergrund der Diagnostik steht natürlich wie immer die passende Anamnese und die klinische Untersuchung. Als entscheidende Zusatzdiagnostik folgt dann eine zerebrale Bildgebung und bei entsprechendem Verdacht auf einen NPH ein Liquorablassversuch (Tab. 1).

Bildgebung

Neben den klinischen Kriterien müssen auch die radiologischen Befunde zur Vervollständigung der Diagnostik des NPH hinzugezogen werden. Obwohl in einem CT die Erweiterung der Ventrikel und eine Hirnatrophie gut darstellbar sind, wird empfohlen, für die Diagnostik des NPH möglichst immer ein MRI des Schädels zu veranlassen, um insbesondere sonstige Parenchymläsionen und die Liquorkommunikation im Ventrikelsystem besser dazustellen. Eindeutige radiologische Unterscheidungskriterien zwischen einem idiopathischen und sekundären NPH gibt es nicht. Da jedoch die Patienten mit einem idiopathischen NPH in der Regel älter sind, zeigen sich dort häufiger Zeichen einer Hirnatrophie.

Typischerweise ist beim NPH eine überproportionale Erweiterung der Seitenventrikel mit Ballonierung der Frontalhörner, Temoralhörner und des dritten Ventrikels zu beobachten (Abb. 1-3). Als quantitative Kriterien haben sich einerseits ein erhöhter Evans-Index >0.3 (Verhältnis zwischen maximaler Weite der Vorderhörner und dem maximalen inneren Schädeldurchmesser auf einem axialen Schnittbild, vgl. Abb. 1) sowie der Corpus-callosum-Winkel etabliert (1, 9, 10). Zur genauen Berechnung des Corpus-Callosum-Winkels bedarf es einer 3-D-Rekonstruktion, was aufgrund der Praktikabilität im Alltag eher sekundär ist und idealerweise von radiologischen Kollegen bei der Fragestellung berechnet wird. Dabei wird auf einer koronaren Schicht auf die Commissura posterior zentriert und exakt zur AC-PC Orthogonal-Linie und Fissura longitudinalis cerebri ausgerichtet. Auf dieser Schichtebene wird dann der Winkel zwischen der medialen Wand des Seitenventrikels gemessen (Normalwerte 100-120°, NPH 50-80°, Cut Off 90°). Das Sulcus cinguli-Zeichen ist eine neuere MR-Beschreibung, wobei sich der posteriore Anteil enger als der anteriore darstellt (11).

Liquorablass (Miller Fisher-Test)

Der Liquorablass kann in der Regel unproblematisch in der neurologischen Praxis durchgeführt werden. Wichtig ist hierbei, dass neben allfälliger Liquordiagnostik (Ausschluss Meningitis, Blutungsresiduen, pathologische Tumorzellen des ZNS, ggf. Demenzdiagnostik) und der Druckmessung, v.a. ausreichend Liquor (mind. 30-50ml) abgelassen und genügend lange bis zur Reevaluation gewartet wird. Effekte vor einer Stunde sind nicht zu erwartet, wenn sich noch keine Veränderungen zeigen, sollte zwischen 24 und 48 Stunden nochmals nachuntersucht werden.

Als relativ kurzdauernde, pragmatische Verlaufsparameter bietet sich ein vorgegebener Gehtest mit maximaler Geschwindigkeit an. In einer kürzlichen Studie erwies sich der TUG (Timed Up & Go) als bester Test für Geschwindigkeit, Gleichgewicht und Ausdauer (12). Aber auch Flurlängenmessungen auf Zeit, mit Dokumentation der Schrittzahl, bieten sich an. Im Weiteren soll auch die kognitive Veränderung vor und nach dem Ablass dokumentiert werden (z.B. MoCA-Test oder als pragmatische Lösung auch Frauen-, resp. Männernamen in einer Minute aufzählen).
Letztlich sollte zwingend der Patient, resp. die Angehörigen über den subjektiven Eindruck gefragt werden, insbesondere was die Blasenstörung angeht.

Der Liquorablass kann bereits länger anhaltende therapeutische Wirkung haben.

Lumbale Liquordrainage zur Diagnostik

Bei Situationen, wo die einmalige Lumbalpunktion mit Liquorablass keine eindeutige Diagnostik zulässt, stellt die Einlage einer lumbalen Drainage in einem stationären Setting eine zusätzliche diagnostische Möglichkeit dar (13). Das Gangbild zeigt manchmal erst nach 24 Stunden eine eindeutige Besserung. Insbesondere die Beurteilung der kognitiven Leistung ist nach 2-3 tägiger Liquordrainge gegenüber einer einmaligen Liquorpunktion überlegen (14). Ein weiterer Vorteil ist, dass der postpunktielle Kopfschmerz nach Ablassen von einer relativ grossen Liquormenge von 30-40 ml in relativ kurzer Zeit bei der Einmal-Punktion im Vergleich zur langsamen kontinuierlichen Drainage seltener ist. Die Einlage der lumbalen Drainage erfolgt im Rahmen eines stationären Aufenthalts. Hierbei wird unter sterilen Bedingungen ein lumbaler Spinalkatheter ca. 15 cm intrathekal eingelegt und an ein externes Ableitungssystem mit einem Auffangrohr zur Messung der Liquormenge angeschlossen. Die Menge der Liquordrainage wird über die Höhe des Auffangrohres im Verhältnis zum Gehörgang eingestellt und wird 2-stündlich dokumentiert, um eine Überdrainage zu vermeiden (max. 5-10 ml/h). Somit wird ca. 120-240 ml/24 h drainiert. Bei Mobilisation des Patienten für den Toilettengang, Essen oder Gangprüfung kann die Drainage abgeklemmt werden. Somit sind die Patienten nicht an eine strikte Bettruhe gebunden. Eine Thromboseprophylaxe erfolgt in der Regel mit niedermolekularem Heparin (z.B. 1x täglich Fragmin 5000 I.E.).

Gangprüfung und kognitive Testung werden nach jeweils 24 und 48 Stunden gemäss standardisiertem Protokoll durchgeführt. Danach wird die lumbale Drainage entfernt und nach 4-stündiger Bettruhe können die Patienten nach Hause. Weitere diagnostische Tests, wie der Infusionstest, die kontinuierliche Liquordruckmessung und hämodynamische Tests, haben sich aufgrund der Praktikabilität und fehlendem Vorteil der Vorhersage hinsichtlich des Erfolges einer Shunt-Operation bis heute nicht durchgesetzt.

Operative Therapie & Prognose

Während Mumenthaler und Mattle vor 25 Jahren noch darauf hinwiesen, dass die Diagnose eher zu häufig gestellt wurde und entsprechend zu viele Patienten einen Shunt erhielten, spricht die aktuelle Leitlinie der DGN eine deutlich andere Sprache (15, 1). Die ventrikuloperitoneale Drainage (VP-Shunt) stellt heute den Goldstandard zur operativen Behandlung des idiopathischen NPH dar. Es gibt allerdings für besondere klinische Konstellationen folgende alternative OP-Techniken: die endoskopische Dritt-Ventrikulostomie, der ventrikulo-atriale Shunt (Herzvorhof) oder sehr selten auch ein lumboperitonealer Shunt. Der lumboperitonale Shunt wird aufgrund von signifikant höheren Komplikationsraten (ca. 30% LP versus ca. 10% bei VP) nur in Ausnahmefällen eingesetzt (16). Zur Vermeidung von Implantat-assoziierten Komplikationen wurde die «implantatlose» endoskopische Ventrikulostomie des dritten Ventrikels (ETV) bei der Behandlung des idiopathischen NPH untersucht (17, 18). Bei dieser Methode wird über einen endoskopischen Zugang eine Verbindung zwischen dem dritten Ventrikel und der präpontinen Zisterne zur internen Umleitung des Liquorflusses hergestellt. Die ETV führte bei ca. 2/3 der Patienten zu einer initialen klinischen Besserung. Klinische Studien zeigen jedoch eine signifikante Überlegenheit der VP-Shunt-Gruppe, sodass die ETV bei idiopathischem NPH nicht primär indiziert ist (19, 20). Bei Patienten mit vielen intraperitonealen Voroperationen, Infekten des Peritonealraumes oder Dauerimplantation einer abdominellen Ableitung (z.B. PEG-Sonde, Zystofix, Anus-Präter) wird eine VP-Shunt-Einlage nicht empfohlen. Hier kann alternativ eine ETV versucht werden. Falls sich die Symptomatik nicht verbessert, besteht die Option einer ventrikulo-atrialen (VA) Drainage bei gesunder Herzfunktion.

Etwa 10-15% der Patienten zeigen eine positionsabhängige Überdrainage nach der VP-Shunt-Einlage. In einigen Kliniken wird bei jeder NPH-OP ein Gravitationsventil (Anti-Siphon-Device) implantiert. Da jedoch auch ein grosser Teil der Patienten ohne dieses Zusatzventil gute Resultate zeigt, wird eine sekundäre Implantation eines solchen Ventils erst bei klinischer Manifestation einer positionsabhängigen Überdrainage bevorzugt.

Prognose und Komplikationen

Das Resultat der postoperativen Verbesserung der Symptomatik hängt entscheidend von der Patientenselektion und präoperativ korrekten Abklärung ab. Weiterhin ist die postoperative, interdisziplinäre Betreuung der Shunt-Patienten essentiell. Dadurch kann gewährleistet werden, dass die für den Patienten individuell angepasste Ventil-Druck-Einstellung gefunden wird. Hinreichende Erfahrung im Umgang mit Komplikationen und korrekte Diagnostik der potentiellen Shunt-Dysfunktionen sind ergänzend wichtig. Die Erfolgsraten der Shunt-Operationen variieren in der neusten Literatur zwischen 75-90% (16, 21). Während die perioperative Mortalitätsrate mit nahezu 0% angegeben ist, beträgt das Risiko einer Nebenwirkung oder Komplikation ca. 11% und das Risiko für bleibende neurologische Defizite bei ca. 6% (16). Pujari et al. 2008 zeigten bei einem Follow-up bis 7 Jahre eine Verbesserung des Gangbildes, der Kognition und der Inkontinenz bei jeweils 87%, 84% und 80% der Patienten (22). Bei knapp einem Viertel der Patienten sind im Langzeit-Verlauf Revisionsoperationen notwendig (16, 21, 23, 24).

Historisches

Salomón Hakim Dow (1922-2011) war ein kolumbianischer Neurochirurg mit libanesischen Wurzeln (25). Nach seinem PhD in Harvard beschrieb er zusammen mit dem Neurologen und Neuropathologen Raymond Delacy Adams (1911-2008) seine Beobachtungen. Als er einen 16-jährigen Jungen mit schwerem Schädelhirntrauma nach Verkehrsunfall nach einem Monat wiedersah, vermutete er einen Hydrozephalus als Ursache der persistierenden Somnolenz. Der Liquordruck war jedoch bei 15cm CSF. Trotzdem liess er 15ml CSF ab, worauf der Patient aufklarte. Im Pneumoencephalogramm stellte er einen inneren Hydrozephalus fest. Weil sich der Zustand des Jungen am kommenden Tag wieder verschlechterte, entschloss er sich im Verlauf, einen Ventrikelshunt einzulegen. Der Junge verbesserte sich fortan so gut, dass er nach vier weiteren Monaten wieder in die Regelschule zurückkehren konnte.

Mit zwei weiteren Fällen beschrieben die beiden erstmalig die Trias aus «mental dullness, inattentiveness, psychomotor retardation, unsteadiness of gait, and incontinence of urine», also mentale Trägheit, Gangataxie und Urininkontinenz (2). Im selben Jahr folgte dann auch die Beschreibung des atraumatischen, resp. idiopathischen Normaldruckhydrozephalus bei drei über 60-jährigen Patienten (26).

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PD Dr. med. Ali Reza Fathi

Neurochirurgie Fathi AG
Schachen 22
5000 Aarau

Prof. Dr. med. Andreas R. Gantenbein

Facharzt Neurologie
Neurologie am Untertor
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8180 Bülach
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andreas.gantenbein@zurzachcare.ch

Die Autoren haben keine Interessenskonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

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