Kardiologisches Management in der Schwangerschaft bei Long-QT 2 Syndrom

Das Long-QT-Syndrom (LQTS) ist eine angeborene Ionenkanalerkrankung, die eine verlängerte ventrikuläre Repolarisation verursacht und sich im Oberflächen EKG mit einer verlängerten QT-Zeit präsentiert. Diese Erkrankung prädisponiert für lebensbedrohliche ventrikuläre Arrhythmie sowie den plötzlichen Herztod. Das LQTS ohne entsprechende Therapie stellt während der Schwangerschaft und in der postnatalen Phase aufgrund der mit der Gestation verbundenen physiologischen Veränderungen ein zusätzlich erhöhtes Risiko für einen plötzlichen Herztod dar. Wir präsentieren einen Fallbericht einer 30-jährigen schwangeren Frau mit bekanntem Long-QT-Syndrom Typ 2 (LQT2) und dem konsekutiven kardiologischen Management.

Einführung

Das angeborene Long-QT-Syndrom ist eine genetische Erkrankung der Ionenkanäle (Kanalopathie), charakterisiert durch eine prolongierte ventrikuläre Repolarisation (QT- Zeit Verlängerung im Ruhe EKG, siehe Abbildung 1). Bei adrenerger Aktivierung kann diese verlängerte Repolarisation – insbesondere bei LQTS 1 und 2 – zu polymorphen ventrikulären Tachykardien bekannt als ,,Torsade de pointes” mit konsekutiven Synkopen bis hin zu einem plötzlichen Herztod führen können [1,2,3].

Die korrekte Diagnose des Long-QT-Syndroms (LQTS) basiert auf der herzfrequenzkorrigierten QT-Zeit (QTc), einer Reihe anderer elektrokardiographischer Parameter sowie Informationen aus der Anamnese und Familienanamnese und ggf. der genetischen Untersuchung. Diagnosekriterien nach Schwartz et al. sind state-of-the-art. Wichtig ist zudem das Fehlen von strukturellen Herzerkrankungen, QT-Zeit verlängernden Medikamenten (siehe Abbildung 2) und anderen prädisponierenden Faktoren wie Hypokaliämie [4,5,6].

Es gibt verschiedene Methoden zur Messung der QT-Zeit, die zu unterschiedlichen Grenzwerten führen, in der Literatur am besten validiert ist die Bazett- Formel (siehe Abbildung 3). Darüber hinaus sollte, obwohl die U-Welle bei LQTS-Patienten ebenfalls abnorm sein kann, die U-Welle nicht in die QT-Zeit Messung einbezogen werden [6].

Zusätzlich sollten die Kriterien nach Priori et al. berücksichtigt werden, welche bei zutreffen von einer oder mehreren der folgenden Kriterien von einem LQTS ausgehen [7]:

  • Bei einem Vorliegen von einem LQTS-Risikowertes ≥3,5 (siehe Abbildung 2) in Abwesenheit einer sekundären Ursache für QT-Verlängerung und/oder
  • bei Vorliegen einer zweifelsfrei pathogenen Mutation in einem der LQTS-Gene oder
  • bei Vorliegen eines, unter Verwendung von Bazett- Formel korrigierten, QT-Intervalls (QTc) von ≥500 ms in wiederholten 12-Kanal-Elektrokardiogrammen (EKG) und in Abwesenheit einer sekundären Ursache für QT- Zeit Verlängerung.
  • Zudem kann LQTS diagnostiziert werden, wenn in wiederholten 12-Kanal-EKGs bei einem Patienten mit ungeklärter Synkope in Abwesenheit einer sekundären Ursache für QT-Verlängerung und in Abwesenheit einer pathogenen Mutation eine QTc- Zeit zwischen 480–499 ms vorliegt.

Das durchschnittliche Alter der ersten Symptome bei LQTS beträgt 14 Jahre. Das jährliche Risiko für einen plötzlichen Herztod (SCD) bei asymptomatischen, unbehandelten LQTS-Patienten wurde auf weniger als 0,5% beziffert, während das jährliche Risiko für einen plötzlichen Herztod auf etwa 5% bei Patienten mit bereits erlittenen Synkopen in der Vorgeschichte ansteigt [6]. Bei symptomatischen Index Patienten beträgt die unbehandelte 10-Jahres-Sterblichkeitsrate sogar um 50% [8]. Es wurden bis dato 11 Gene mit LQTS in Verbindung gebracht, die Prävalenz liegt bei 1:2500 [4,7,10]. Die häufigsten Gene sind diejenigen, die LQT1, LQT2 und LQT3 verursachen: KCNQ1, KCNH2 und SCN5A, welche jeweils gen-spezifische Auslöser wie körperliche Anstrengung (LQT1), emotionalen Stress (LQT2) und Schlaf (LQT3) aufweisen. Die genetische Untersuchung identifiziert eine Mutation bei 75% der LQTS-Fälle, wobei die drei Hauptgene für 90% der positiv genotypisierten Fälle verantwortlich sind [9]. LQT1-Patienten entwickeln meist bereits in der Kindheit Symptome und sind überwiegend männlich, während LQT2- und LQT3-Patienten Symptome etwas später, meist in der Pubertät, entwickeln und überwiegend weiblich sind [9].

Fallbericht

Wir präsentieren einen Fallbericht über eine schwangere Patientin mit einem zuvor diagnostiziertem LQT2 und erläutern die angewendeten Behandlungsstrategien für eine sichere Schwangerschaft, Entbindung und postpartale Phase.
Unsere Patientin hatte zwei Schwestern, von denen eine im Jahr 2012 im Alter von 17 Jahren plötzlich in einem Skilager in den Anden im Schlaf verstarb. 3 Monate vor ihrem Tod erlitt die Schwester unserer Patientin eine Synkope. Die Synkope ereignete sich während des Tages beim Aufstehen vom Mittagstisch, die Schwester verlor plötzlich das Bewusstsein. Während dieses Vorfalls knirschte sie mit den Zähnen, atmete nicht und zeigte tonisch-klonische Bewegungen, die insbesondere die oberen Gliedmaßen betrafen. Offenbar hatte sie keinen tastbaren Puls, aber nach 2 externen Beatmungen erlangte sie das Bewusstsein zurück und erholte sich rasch. Sie wurde in einem örtlichen Krankenhaus in der Schweiz untersucht und ein EKG zeigte eine ausgeprägte Verlängerung des QT-Intervalls von über 500 ms und morphologische Abnormalitäten der T-Welle in mehreren Ableitungen. Ein Holter-Monitor zeigte ebenfalls eine Verlängerung des QT-Intervalls und morphologische Abnormalitäten der T-Welle. Es wurde jedoch keine Diagnose gestellt, wenige Monate danach verstarb die Schwester.
Es wurde eine Autopsie durchgeführt, die jedoch unauffällig ausfiel. Eine molekulare Autopsie ergab eine pathogene heterozygote Variante in KCNH2: Trp100X, die Long QT Typ 2 verursacht und den plötzlichen Herzstillstand erklärt. Eine kaskadenartige genetische Untersuchung ergab, dass die Patientin und ihre noch lebende, jüngere Schwester ebenfalls heterozygote Träger der Variante KCNH2: Trp100X sind. Beide wurden mit Nadolol behandelt. Auch die beiden Eltern wurden getestet. Die Mutter war genetisch negativ, während der Vater positiv für Mosaikismus von KCNH2: Trp100X war. Er zeigte jedoch keine phänotypischen Merkmale.

Unsere Patientin wurde zunächst mit 40 mg/Tag Nadolol behandelt, aber die Medikation wurde aufgrund von Müdigkeit abgesetzt. Nach dem Absetzen der Betablocker-Therapie hatte sie einen „epileptiformen“ Synkopen-Anfall, der durch das Klingeln eines Weckers ausgelöst wurde. Daher wurde Nadolol in einer reduzierten Dosis von 20 mg/Tag erneut verordnet. Seitdem war die Patientin beschwerdefrei. Nach der Synkope wurde ein Event-Rekorder implantiert, um potentielle weitere ventrikuläre Rhythmusstörungen aufzeichnen und die Therapie entsprechend anpassen zu können.

Die Patientin wies eine normale QT-Zeit im Ruhezustand auf. Signifikante QT-Zeit Verlängerungen und T-Wellen- Abnormalitäten traten beim Stehen und während der Erholung nach körperlicher Anstrengung auf. Dies deutete auf ein verborgenes Long-QT-Syndrom hin, das durch einfache Manöver manifest wurde. Die T-Wellen-Morphologie war mit einem Long-QT-Typ 2 vereinbar (Abbildung 5).

Verlauf der Schwangerschaft und postnatale Periode

Die Patientin zog im Alter von 29 Jahren in die Schweiz und äusserte einen Kinderwunsch. Es erfolgte ein Beratungsgespräch einige Monate vor der Schwangerschaft, welches die Risiken, die mit LQT2 während der Schwangerschaft verbunden sind, aufzeigte. Die Patientin wurde über die Wichtigkeit der täglichen Medikamenteneinnahme informiert. Nach dem Eintritt der Schwangerschaft wurde die Patientin alle 2-3 Monate mittels EKG und Elektrolytkontrollen in der kardiologischen Praxis kontrolliert. Der Betablocker wurde langsam auf die Zieldosis von Nadolol 1mg/kg (aufgeteilt auf eine Morgen- und Abenddosis) gesteigert, um in der für die Patientin vulnerabelsten Phase, während des Peripartum, die Zieldosis zu erreichen. Aufgrund der erwarteten Gewichtszunahme während der Schwangerschaft wurde die Dosis angepasst. Während der Verlaufskontrollen wurde der Event-Rekorder regelmässig abgefragt und zwischenzeitlich Daten remote übermittelt. Im 3. Trimester verspürte die Patientin Palpitationen, die durch den Event- Rekorder aufgezeichnet wurden. Hier zeigten sich in der Abfrage isolierte ventrikuläre Extrasystolen und eine ventrikuläre Salve über 4 Schläge. Ein gesundes Baby wurde vaginal entbunden, und die postnatale Phase unter Betablocker (Nadolol 1 mg/kg aufgeteilt auf eine Morgen- und Abenddosis) verlief ereignislos. Jedoch kam es 2 Monate nach der Entbindung unter optimaler Betablocker Dosierung zu einer nicht anhaltenden Torsade de Pointes Tachykardie. Die Betablocker Therapie wurde um 10 mg/Tag (von 80 mg auf 90 mg) erhöht und die Möglichkeit einer primärpräventiven ICD-Implantation mit der Patientin diskutiert. Die erhöhte Dosierung des Betablockers wurde erst nach der Aufteilung in 3 Tagesdosen toleriert. Ausserdem wurde die tägliche Einnahme von Magnesium erst nach Wechsel auf eine stärkere Verdünnung eingehalten. In den folgenden Monaten wurden keine Rhythmusstörungen verspürt bzw. vom Event-Rekorder aufgezeichnet. Daher wurde vorerst weiterhin von einer ICD-Implantation abgesehen.

Diskussion

Anhand dieses Falles lässt sich die Wichtigkeit eines Kaskadenscreenings nach diagnostiziertem Index bei Patienten darstellen. Nach der korrekten Diagnosestellung sowie genetischer Untersuchung und Beratung, ist die weitere kardiologische Begleitung in allen Lebenslagen notwendig.

Behandlungsstrategien

Die Grundlage der Behandlung von Patienten mit Long-QT-Syndrom (LQTS) stellt die Betablocker-Therapie dar. Entgegen der gängigen Meinung sind nicht alle Betablocker gleich wirksam. Die beiden effektivsten sind zweifellos Nadolol und Propranolol. Metoprolol und Atenolol sind weniger wirksam und sollten vermieden werden [5,6]. Daher werden ausschliesslich die nicht-selektiven Betablocker Nadolol und Propranolol als die wirksamsten Medikamente empfohlen [6].
Die neuen HRS Leitlinien von 2023 sprechen sich ausserdem klar für eine durchgehende Einnahme einer Betablockade bei schwangeren Patientinnen mit Long-QT-Syndrom aus. Diese sollte auch in der postpartalen Phase einschließlich des Stillens als Zeit mit erhöhtem Risiko für kardiale Ereignisse fortgesetzt werden (Evidenz Grad I, Empfehlungsgrad B) [12]. Propanolol wird dabei deutlich weniger in der Muttermilch ausgeschieden als Nadolol [13]. Jedoch zeigte eine Studie bei 68 Lebendgeburten von 31 Frauen mit LQTS der Cleveland Clinic in 2022, dass die Betablockade, insbesondere mit Nadolol, nicht mit einer höheren Inzidenz von intrauteriner Wachstumsretardierung assoziiert war. Darüber hinaus waren neonatale Bradykardien selten und Hypoglykämien wurde nicht beobachtet [14].
Nadolol hat eine längere Halbwertszeit als Propanolol, was anstatt einer dreimaligen eine zweimalige tägliche Einnahme ermöglicht, normalerweise in einer Dosierung von 1 bis 1,5 mg/kg pro Tag. Propranolol sollte in einer Dosierung von 2 bis 3 mg/kg pro Tag, verabreicht werden [5]. Metoprolol und Atenolol sind weniger wirksam und sollten vermieden werden. Die antiarrhythmische Wirkung der Betablocker bei LQTS beruht darauf, sogenannte frühe Nachdepolarisationen zu verhindern, indem sie den Einstrom von Kalzium-ionen reduzieren. Nadolol ist in der Schweiz nicht erhältlich und muss nach einer Kostengutsprache oder auf eigene Kosten aus dem Ausland importiert werden.

Betablocker Nebenwirkungen und Stillzeit

Bei Schwangerschaften, in denen die Mutter einen Beta-blocker einnimmt, ist es notwendig, ein Monitoring auf eine intrauterine Wachstumsretardierung des Fötus während der Schwangerschaften durchzuführen [12]. Bei Neugeborenen, die in utero mit Betablockern behandelt wurden, besteht potentiell ein Risiko für postnatale Symptome einer Betablockade wie Hypoglykämie und Bradykardien. Die Betablockade hemmt die Glykogenolyse, die durch die Aktivierung des sympathischen Nervensystems verursacht wird. Insbesondere anhaltende Hypoglykämien können bei Neugeborenen schwere Hirnverletzungen verursachen, daher ist es wichtig, auch das Neugeborene im Wochenbett und während der Stillzeit regelmässig zu überwachen [13]. Sollte dies unter Nadolol der Fall sein, müsste ggf. auf Propanolol bei der Mutter gewechselt werden, sollte das Stillen weiter gewünscht sein. Der Schutz der Mutter vor Rhythmusstörungen ist dann etwas geringer [13]. Der Kinderarzt sollte im Voraus informiert werden und Mutter und Kind sollten nach der Entbindung 5 Tage im Krankenhaus zur Überwachung verbleiben [1]. Wenn das Kind jedoch ebenso von einem Long-QT-Syndrom betroffen ist, hat es durch die Einnahme der Mutter von Nadolol ebenso eine Behandlung bis zur Geburt bzw. in der Stillzeit.

Weitere Behandlungsstrategien

Eine weitere, eskalierende Therapieform besteht in der linkskardialen sympathischen Denervation (Entfernung der ersten 3 bis 4 Ganglia thoracica idealerweise durchgeführt via extrapleuralem Zugang, der einen Thorakotomie-Eingriff unnötig macht) des linken herznahen sympathischen Nervensystems (LCSD), was eine Alternative bei Betablocker-resistenten Patienten darstellt. Tatsächlich hat LCSD keinen negative Einfluss auf die kardiovaskuläre Leistung [3]. Der Expertenkonsens der HRS/EHRA/APHRS empfiehlt, LCSD bei Hochrisiko-Patienten mit der Diagnose LQTS durchzuführen, wenn die ICD-Therapie kontraindiziert ist, abgelehnt wird oder trotz maximal tolerierter kombinierter Therapie mit Betablocker nicht wirksam bei der Verhinderung von Synkopen/Arrhythmien ist. LCSD ist besonders wirksam bei LQTS1-Patienten [7].
Eine vaginale Geburt wird als eine sichere Entbindungsstrategie bei Patientinnen mit LQTS angesehen, wobei randomisierte Studien fehlen und die Empfehlungen auf Fallberichten und Expertenmeinungen fussen [2].
Die Schwangerschaft und die ersten 9 Monate nach der Geburt bei Patientinnen mit bekanntem LQTS bergen ein deutlich erhöhtes Risiko für lebensbedrohliche Arrhythmien [3]. Es wird angenommen, dass die Veränderungen in der adrenergen Aktivität in der peripartalen Phase zu einer Zunahme kardialer Ereignisse führen kann. Erklärend könnte die Zunahme der sympathischen Aktivität sein, die mit dem Stress und vor allem veränderten Schlafmuster bei der Betreuung eines Neugeborenen einhergeht. Diese könnte die ventrikulären Arrhythmien bei Patienten mit LQT1- und LQT2-Genotypen triggern [3]. Die Östrogen- und Progesteronspiegel sind während der Schwangerschaft hoch und fallen deutlich unter die normale Werte, wenn die Mutter ihr Kind stillt. Diese Veränderung der Hormonspiegel könnte die adrenergen Reaktionen der mutierten Ionenkanäle bei LQTS beeinflussen [10].
LQTS-Patientinnen bedürfen rund um die Schwangerschaft einer engmaschigen kardiologischen Verlaufskontrolle, um potentiell lebensbedrohliche Rhythmusstörungen durch eine gute Betablocker Einstellung weitestgehend zu verhindern. Eine Schwangerschaft ist jedoch möglich und sollte bei entsprechendem Patientinnen-Wunsch, wenn immer medizinisch vertretbar, befürwortet werden. In diesem Fallbericht wird die Herausforderung der Behandlung der Patientin – auch bei Nebenwirkungen des Betablockers –
beleuchtet. Die Therapie regelmässig an das Gewicht anzupassen ist gerade in der Schwangerschaft und postnatalen Phase essentiell.
Die Entbindung sollte in einem Spital erfolgen und es müssen unmittelbare Wiederbelebungsmassnahmen verfügbar sein, einschließlich eines externen Defibrillators [6,11]. Es wird empfohlen, frühzeitig einen Anästhesisten hinzuzuziehen, um eine sichere Analgesie während der Wehen und der Geburt zu planen. Die Entscheidung über eine Epiduralanästhesie und eine assistierte Entbindung sollte auf der Grundlage einer geburtshilflichen Indikation getroffen werden; diese Eingriffe sind aufgrund eines vorliegenden LQTS nur selten indiziert. Während der Entbindung ist es wichtig, Umstände zu vermeiden, die das Risiko für ventrikuläre Arrhythmien erhöhen könnten wie z. B.: Elektrolytstörungen, starke Blutungen oder QT-Zeit verlängernde Medikamente (siehe diesbezüglich crediblemeds.org). Bei Patientinnen mit LQTS wird empfohlen, in einer ruhigen Umgebung zu entbinden. Das Neugeborene hat, aufgrund der autosomal dominanten Vererbung, ein Risiko von 50%, ebenfalls von einem LQTS betroffen zu sein. Die frühzeitige Diagnose ist bei Kindern wichtig, denn sie hat therapeutische Konsequenzen. Eine genetische Testung des Neugeborenen kann via Blut aus der Nabelschnur durchgeführt werden. Diesbezüglich sollte am besten vor der Schwangerschaft eine genetische Beratung stattfinden.

Schlussfolgerung

Ein Long-QT-Syndrom stellt keine Kontraindikation für eine Schwangerschaft dar, das Risiko von Herzrhythmusstörungen wird durch eine Therapie mit Betablockern drastisch reduziert. Bei Patientinnen mit LQTS ist eine vaginale Entbindung möglich, eine Hausgeburt wird nicht empfohlen [1]. Eine regelmässige kardiologische Mitbetreuung ist unabdingbar, bezüglich des Kontrollintervalls ist eine kardiologische Konsultation alle 4-6 Wochen sinnvoll, eventuell ergänzt durch das Monitoring eines Event-Rekorders.

Abkürzungen

LQTS = Long-QT-Syndrom
LQT1 = Long–QT-Syndrom 1 (Genotyp 1 mit einer Mutation im KCNQ1-Gen)
LQT2 = Long-QT-Syndrom 2 (Genotyp 2 mit einer Mutation im KCNH2-Gen)
LQT3 = Long-QT-Syndrom 3 (Genotyp 3 mit einer Mutation im SCN5A -Gen)
EKG = Elektrokardiogramm
SCD = sudden cardiac death, plötzlicher Herztod
QT = Zeitintervall vom Anfang des QRS-Komplexes bis zum Ende der
T-Welle
QTc = frequenzkorrigierte QT- Zeit (in diesem Artikel nach Bazett- Formel)
ICD = Implantierbarer Kardioverter-Defibrillator
LCSD = linkskardiale sympathische Denervation
HRS = Heart Rhythm Society: Die Heart Rhythm Society
EHRA = European Heart Rhythm Association
APHRS = Asia Pacific Heart Rhythm Society

Dr. med. univ. (A) Greta Hametner

Adlerstrasse 1
8600 Dübendorf

Es bestehen keine Interessenskonflikte.

Historie:
Manuskript eingereicht: 03.11.2023
Nach Revision angenommen: 06.12.2023

  • Eine Schwangerschaft ist auch mit bekanntem Long-QT- Syndrom unter Betablocker-Therapie und engmaschigen kardiologischen Kontrollen möglich.
  • Eine primärpräventive Versorgung mit einem ICD ist nur dann notwendig, wenn kein Betablocker toleriert wird oder unter adäquater Betablockade Rhythmusstörungen auftreten.
  • Nicht selektive Betablocker, vor allem Nadolol wirken bei Long-QT Patienten am effektivsten, alternativ kann auch Propanolol verabreicht werden.

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Panhypopituitarismus mit Diabetes insipidus und Knochen­schmerzen – Steckt eine Systemerkrankung dahinter?

Der 27-jährige Patient stellte sich aufgrund von einseitigen Beinschmerzen vor. In der Vorgeschichte war ein Diabetes insipidus respektive Panhypopituitarismus bekannt. Laboranalytisch bestand eine unzureichende Hormonsubstitution. Im MRI fiel eine grosse Kontrastmittel-aufnehmende Raumforderung in der Hypophyse mit Ausdehnung bis in den Hypothalamus auf. Mittels FDG-PET/CT konnte eine hypermetabole Läsion im Bereich des Femurschaftes links dargestellt werden. Nach Biopsie der Läsion konnte die Diagnose einer multisystemischen Langerhans-Zell-Histiozytose gestellt werden.

Anamnese und Befunde

Der 27-jährige Patient stellte sich aufgrund von Oberschenkelschmerzen linksseitig vor. Die Beschwerden hätten seit einigen Wochen bestanden und an Intensität zugenommen. Die Schmerzen seien in Ruhe von dumpfer Qualität, bei Belastung stechend mit Ausstrahlung in das Knie. Der Patient betreibt regelmässig Kampfsport und fühlte sich durch die Schmerzen eingeschränkt. Die eingenommenen Schmerzmittel (Paracetamol, Ibuprofen) hätten nicht geholfen.
Als Vorerkrankung wurde beim Patienten im Alter von 15 Jahren ein Diabetes insipidus diagnostiziert. Die Abklärungen wurden aufgrund einer zunehmenden Schwäche mit begleitendender Polyurie und Polydipsie veranlasst. Im damals durchgeführten MRI des Neurocraniums wurde ein verdickter Hypophysenstiel mit diffuser Kontrastmittelanreicherung der Hypophyse festgestellt. Das Ganzkörper MRI war unauffällig. Es wurde ein Diabetes insipidus am ehesten im Rahmen einer lymphozytären Hypophysitis festgehalten. Einige Jahre nach Diagnosestellung entwickelte der Patient weitere Hormonausfälle (Hypocortisolismus, Hypothyreose, Hypogonadismus, Wachstumshormonmangel), so dass retrospektiv ein Panhypopituitarismus diagnostiziert wurde. Der Patient hatte allerdings keine regelmässigen endokrinologischen Kontrollen, sodass bislang nur eine Behandlung des Diabetes insipidus mit Desmopressin erfolgte und die übrigen Hormonachsen nicht substituiert wurden.
Systemanamnestisch lagen keine B-Symptome vor. Seit einigen Jahren bestand vermehrte Müdigkeit, keine Visusstörungen und kein regelmässiger Alkohol- oder Nikotinkonsum.
Im Status wies der Patient einen adipösen Habitus (BMI 34 kg/m2) mit fahlem Hautkolorit und spärlicher Körperbehaa­rung auf. Die klinische Untersuchung (inklusive Hirnnerven­status) war unauffällig. Im Bereich der beklagten Schmerzen am linken Bein war keine Hautrötung, keine Druckdolenz oder Überwärmung festzustellen und die Untersuchungen von Hüfte und Knie waren blande. Laboranalytisch fanden sich bis auf den Panhypopituitarismus mit inadäquater Hormonsubstitution keine Auffälligkeiten, insbesondere keine erhöhten Entzündungswerte und keine Blutbildveränderungen.
Zusammenfassend handelt es sich um einen 27-jährigen Patienten mit einseitigen Beinschmerzen und einem langjährig vorbekannten, nicht adäquat substituierten Panhypopituitarismus mit Diabetes insipidus in der Annahme einer durchgemachten lymphozytären Hypophysitis.

Differenzialdiagnostische Überlegungen

Muskuloskelettale Beschwerden sind ein häufiges Problem im klinischen Alltag. (Post)traumatische Ursachen, meist im Bereich von Gelenken, sind bei jungen, respektive aktiven Patienten die häufigste Ursache. Eine solche Anamnese liegt jedoch bei unserem Patienten nicht vor. Bei atypischer Lokalisation und länger anhaltenden unerklärten Knochenschmerzen, muss auch an eine neoplastische Genese gedacht werden. Bei jungen Patienten sind das in erster Linie primäre Knochentumore, bei älteren Patienten sind Metastasen (Prostata-, Mamma-, Bronchialkarzinom) oder Manifestationen eines Multiplen Myeloms zu erwarten.
Im Gegensatz zu den Knochenschmerzen ist ein zentraler Diabetes insipidus, respektive ein Panhypopituitarismus sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen ein sehr seltenes Krankheitsbild. Die häufigste Ursache des zentralen Diabetes insipidus ist idiopathisch. Bekannte Auslöser sind primäre Tumore (meist Kraniopharyngeom) oder sekundäre intrakranielle Neoplasien (Metastasen, Lymphome, Langerhans-Zell-Histiozytose (LCH)), infiltrative oder entzündliche Erkrankungen (Sarkoidose, Granulomatose mit Polyangiitis, autoimmune lymphozytäre Hypophysitis) oder traumatische Ursachen (Fraktur, neurochirurgischer Eingriff) [1] (Tabelle1). Bei allen Formen können magnetresonanztomographisch unspezifische Veränderungen (Verdickung des Hypophysenstiels, gesteigerte Kontrastmittel-Anreicherung) auftreten, so dass die bildmorphologischen Veränderungen bezüglich der Diagnosefindung oft nicht weiterhelfen. Aufgrund der Lokalisation ist die Abklärung mittels Gewebeuntersuchung eingeschränkt und oft nicht vertretbar.

Weitere Abklärungsschritte und Verlauf

Aufgrund des nicht adäquat substituierten Panhypopituitarismus erfolgte zur Standortbestimmung ein MRI des Neurocraniums. Hier konnte eine atrophierte Hypophyse mit fadendünnem Hypophysenstiel und fehlendem Hypophysenhinterlappen-Signal dargestellt werden. Des Weiteren bestand eine deutlich Kontrastmittel-aufnehmende Raumforderung im Bereich des Hypothalamus, des Chiasmas und Tractus opticus beidseits (Abb.1A und B).
Diese Befunde eines jungen Patienten mit Diabetes insipidus mit progredientem Hormonausfall, atrophierter Hypophyse mit fadendünnem Hypophysenstiel und deutlich Kontrastmittel aufnehmender Raumforderung im Hypothalamus und atraumatischen Knochenschmerzen passen zu einer Manifestation einer multisystemischen LCH, weshalb wir im nächsten Schritt ein Ganzkörper 18F-fluorodeoxyglucose (FDG)PET/CT durchführten. Die Untersuchung zeigte eine intensive FDG-Aufnahme in der hypothalamischen Raumforderung. Im Bereich der beklagten Schmerzen (Femurdiaphyse links) fand sich eine intensiv FDG-avide Raumforderung in der Muskulatur rund um die Femurdiaphyse mit lokalen Arrosionen der angrenzenden Kortikalis, ohne gesteigerte Stoffwechselaktivität im Knochenmark (Abb. 1C und D). Diese Läsion am Femur links war gut zugänglich für eine CT-gesteuerte Biopsie.

Diagnose

Mittels CT-gesteuerter Biopsie konnte Gewebe perifemoral gewonnen werden. In der histopathologischen Aufarbeitung zeigte sich ein Eosinophilen-reiches Entzündungsinfiltrat mit proliferierten atypischen Zellen mit „Kaffeebohnen-artigen“ Kernen. Die Immunhistochemie mit dem Nachweis der typischen Marker CD1a, Langerin, S100 und CD68 führte zur Diagnose einer LCH (Abb. 2). Somit wurde die Diagnose einer multisystemischen LCH mit Hirn und Weichteilbeteiligung gestellt.

Kommentar

Die LCH gehört zusammen mit der Erdheim-Chester Erkrankung zu den häufigsten histiozytären Erkrankungen, wobei es sich insgesamt um sehr seltene Krankheitsentitäten handelt. Die Inzidenz wird auf 1 Fall/1.5 Millionen Menschen pro Jahr geschätzt [2]. Sowohl Kinder als auch Erwachsene können betroffen sein, mit höherer Inzidenz bei Kindern.
Historisch wurde die LCH als entzündliches Geschehen betrachtet und war auch bekannt unter dem Namen „Histiozytosis X“ oder „Hand-Schüller Christian“ Krankheit. Mittlerweile konnte jedoch gezeigt werden, dass die LCH durch eine unkontrollierte Proliferation von Antigen präsentierenden Zellen, den Langerhans Zellen, entsteht. Heutzutage ist bekannt, dass >50% der LCH Fälle eine BRAF p.V600E Mutation[3] und >90% der LCH/ECD Fälle eine aktivierende Mutation im Mitogen-activated-protein kinase/extracellular-signal-regulated kinase (MAPK/ERK) Signalweg aufweisen[4]. Nach diesen Erkenntnissen wurden die histiozytären Erkrankungen 2017 den hämatopoietischen Neoplasien gemäss WHO zugeordnet [5].
Klinisch handelt es sich um ein sehr heterogenes Krankheitsbild mit unterschiedlichem Verlauf vom radiologischen Zufallsbefund bis zum Multiorganversagen. Grundsätzlich wird zwischen einer unifokalen und multifokalen/multisystemischen Erkrankung mit Mehrorganbeteiligung unterschieden. Am häufigsten manifestiert sich die Krankheit im Knochen, meistens in Form von Osteolysen und in der Hypophyse mit prädominantem Diabetes insipidus, der den weiteren Manifestationen viele Jahre vorausgehen kann. Die LCH der Lunge im frühen Stadium präsentiert sich meist in Form von peribronchialen, pulmonalen Noduli mit Transformation zu Zysten im Verlauf der Erkrankung[6]. Die pulmonale LCH ist meist mit Nikotinkonsum assoziiert und wird als Spezialentität betrachtet [7]. Letztlich können aber alle Organe betroffen sein. Die Beschwerden sind meist unspezifisch, was zu einer Verzögerung der Diagnose über Jahre führen kann.
Bei unserem Patienten wurde im Kindesalter ein Diabetes insipidus festgestellt. Eine Systemerkrankung wurde zum Diagnosezeitpunkt gesucht, jedoch nicht gefunden. Aufgrund der Lokalisation (Hypophyse) wäre eine Biopsie mit nicht vertretbarer Morbidität verbunden gewesen. Wie bei unserem Patienten kommt es bei einem hypophysären Befall der LCH häufig als erstes zu einem Ausfall der Hormone aus dem Hypophysenhinterlappen, im Verlauf zu einem progredienten Hormonausfall aus dem Hypophysenvorderlappen und Jahre später zur Beteiligung weiterer Organe (in unserem Fall Weichteile). Die ossäre Beteiligung der LCH ist relativ häufig, dabei ist ein Weichteilbefall typischerweise die Folge einer Ausbreitung aus dem benachbarten Knochen/Knochenmark. Eine primäre Weichteilbeteiligung mit sekundärer Arrosion der benachbarten Kortikalis, wie bei unserem Patienten, ist in der Literatur selten beschrieben. Die Diagnose einer LCH stützt sich auf den histopathologischen Nachweis der Langerhans-Zell-Infiltrate. Eine Biopsie der Hypophyse wird in der Regel nicht durchgeführt, so dass bei einer Hypophysen Manifestation und Verdacht auf eine LCH ein Ganzkörper FDG-PET/CT die Standarduntersuchung ist[7]. Da LCH Läsionen häufig sehr stark FDG-avide sind, wird versucht die Läsion mit dem stärksten Hypermetabolismus zu biopsieren. Aufgrund der unterschiedlichen Zellularität und Beimischung von Entzündungszellen sind grosszügige Biopsien für eine korrekte Diagnose erforderlich.
Histopathologisch sind LCH Läsionen durch proliferierte Zytoplasma-reiche Zellen mit Kaffeebohnen-artigem Kern mit häufig länglicher Membranfurchung charakterisiert. Je nach Aktivität der Langerhans-Zell-Histiozytose finden sich beigemischte eosinophile Granulozyten unterschiedlicher Dichte sowie Lymphozyten und Plasmazellen. Die diagnostischen immunohistochemischen Marker für Langerhans-Zellen sind CD1a und Langerin (CD207). Da >50% der LCH eine BRAF pV600E Mutation aufweisen [3], ist auch die BRAF-V600E Immunhistochemie diagnostisch hilfreich. Bei fehlender immunhistochemischer Expression von BRAF, respektive negativer Mutationsanalyse wird meist ein NGS für Gene, welche im MAPK-ERK Signalweg involviert sind, durchgeführt [7].
Bei unserem Patienten konnte weder eine BRAF Mutation noch eine Alteration der Gene MAP2K1, KRAS, NRAS oder PIK3CA nachgewiesen werden.
Die therapeutischen Möglichkeiten unterscheiden sich stark. Eine unifokale LCH ist bei Erwachsenen Patienten häufig kurativ behandelbar, wobei es verschiedene lokale Therapien gibt (z.B. Radiotherapie, chirurgische Resektion, Steroidinfiltration). Im Spezialfall der Single-system pulmonalen LCH sollte zwingend ein Rauchstopp empfohlen werden. Dies alleine kann bereits zu einem vollständigen Rückgang der LCH Läsionen führen [7].
Da die Krankheit sehr selten ist und es nur äusserst wenige prospektive Studien gibt, ist der optimale Behandlungsalgorithmus der multisystemischen Krankheit unklar. Bei Patienten mit asymptomatischer Erkrankung und ohne Beteiligung von kritischen Organen (wie Hirn, Leber und Lunge) oder Vorliegen einer Endorgan-Dysfunktion kann vorerst beobachtet werden. Bei Patienten mit symptomatischer Erkrankung oder Beteiligung von Hirn, Leber und Lunge gibt es verschiedene therapeutische Möglichkeiten von konventionellen Chemotherapeutika, Bisphosphonaten (bei Knochen prädominanter Erkrankung), Immunmodulatoren, Hydroxyurea, Methotrexat, Hochdosistherapie mit ASCT und zielgerichteten Therapien wie BRAF-und MEK-Inhibitoren. Aufgrund des schnellen Ansprechens und der hohen Ansprechrate wird bei Befall von kritischen Organen (Hirn, Leber, Milz) eine zielgerichtete Therapie favorisiert [7].
Unser Patient ist sehr jung und hatte einen „kritischen Organbefall“ (Gehirn), sodass wir eine MEK-Inhibitor Therapie mit Cobimetinib empfohlen haben. Nach wenigen Wochen Behandlung war unser Patient schmerzfrei. Im FDG-PET/CT konnte nach drei Monaten eine vollständige metabolische Remission der LCH Manifestation am Femurschaft und eine deutliche Re-gredienz der Läsion im Hypothalamus und Hypophyse festgestellt werden. Nach Einleitung der Substitutionstherapie mit Levothyroxin, Testosteron und Hydrocortison verbesserte sich die Leistungsfähigkeit des Patienten markant. Trotz des guten Therapieansprechens wird der Patient lebenslang auf eine Hormonsubstitutionstherapie angewiesen sein.

Im Artikel verwendete Abkürzungen
LCH Langerhans-Zell-Histiozytose
MAPK/ERK Mitogen-activated-protein kinase/extracellular-signal-reulated kinsase
MRI Magnetresonanztomographie
NGS Next-generation sequencing
(FDG) PET/CT 18F-fluorodeoxyglucose Positronen Emissions Tomographie/Computer Tomographie

 

Dr. med. Martina Bertschinger

Medizinische Onkologie und Hämatologie
Kantonsspital Winterthur
Brauerstrasse
8401 Winterthur

Martina.bertschinger@ksw.ch

Es bestehen keine Interessenskonflikte.

Historie
Manuskript eingereicht: 30.07.2023
Nach Revision angenommen: 18.10.2023

 

  • Bei einem Diabetes insipidus/Panhypopituitarismus und Osteolysen soll an eine LCH gedacht werden.
  • Die LCH ist eine myeloide Neoplasie und die häufigste histiozytäre Erkrankung.
  • Eine bioptische Untersuchung soll erzwungen werden, zur Diagnosesicherung und Mutationsanalyse.
  • Für die LCH existieren unterschiedliche, teils sehr effektive Therapieformen.

1. Maghnie M, Cosi G, Genovese E, et al. Central diabetes insipidus in children and young adults., N Engl J Med. 2000;343(14):998-1007.
2. Makras P, Stathi D, Yavropoulou M, et al, The annual incidence of Langerhans cell histiocytosis among adults living in Greece. Pediatr Blood Cancer. 2020;67(9):e28422.
3. Badalian-Very G, Vergilio J, Degar B, et al. Recurrent BRAF mutations in Langerhans cell histiocytosis. Blood. 2010;116(11):1919-1923.
4. Diamond EL, Durham B, Haroche J, et al. Diverse and targetable kinase alterations drive histiocytic neoplasms. Cancer Discov. 2016;6(2):154-165.
5. Swerdlow SH, Campo E, Harris NL, et al. WHO Classification of Tumours of Haematopoietic and Lymphoid Tissues: International Agency for Research on Cancer, 2017
6. Brauner MW, Grenier P, Tijani K, Battesti JP, Valeyre D. Pulmonary Langerhans cell histiocytosis: evolution of lesions on CT scans. Radiology. 1997;497-502.
7. Goyal G, Tazi A, Go RS, et al., International expert consensus recommendations for the diagnosis and treatment of Langerhans cell histiocytosis in adults, Blood. 2022;139 (17): 2601–2621.

Miktionsstörung bei jungen Patientinnen

Dieser Praxis-Fall beschreibt eine 28-jährige Patientin, die unter unklarer Restharnbildung leidet. In der urogynäkologischen Untersuchung zeigt sich eine stark hyperkapazitäre Blase bei atonem Detrusor. Nach Ausschluss weiterer gynäkologischer und neurologischer Differentialdiagnosen wurde die Diagnose des Fowler-Syndroms gestellt. Dabei handelt es sich um eine schmerzlose Restharnbildung bei typischem Beckenboden-EMG mit Beckenbodendyskoordination. Die Diagnose kann nur durch eine vollständige Urodynamik mit Beurteilung der Miktionsphase, der Druckflusskurve einschliesslich EMG-Ableitung gestellt werden. Kausale Therapien existieren keine. Sakrale Neuromodulation, perkutane tibiale Nervenstimulation oder intermittierende Selbstkatheterisierung sind mögliche Therapieansätze.

Anamnese und Befunde

Zuweisung der 28-jährigen Patientin in die urogynäkologische Sprechstunde bei rezidivierenden Harnwegsinfektionen aufgrund erhöhter Restharnwerte. Im Rahmen einer regulären gynäkologischen Kontrolle zeigte sich im transvaginalen Ultraschall eine stark gefüllte Harnblase, unmittelbar nach Spontanmiktion. Ebenso traten in den letzten Monaten rezidivierende Harnwegsinfektionen (HWI’S) auf, die stark symptomatisch waren und antibiotisch behandelt werden mussten. Auf Nachfrage berichtete die junge Patientin, dass sie seit 2-3 Jahren die Blase nicht mehr richtig entleeren könne und Restharngefühl bestehe.
In der Anamnese hatte die Patientin beim ersten Kind eine sekundäre Sectio caesarea, das 2. Kind kam per Spontangeburt. Zudem besteht eine bekannte peritoneale Endometriose sowie ein Uterus myomatosus mit einem Hinterwandmyom von 40mm. Die Antikonzeption wird mittels Hormonspirale durchgeführt. 2017 litt die Patientin an Nephrolithiasis mit vorübergehender Harnableitung mittels Doppel-J-Katheter links.
Zur weiteren Abklärung der erhöhten Restharnwerte erhielt die Patientin ein Aufgebot in die urodynamischen Spezialsprechstunde. Die urogynäkologische Untersuchung zeigte sich bis auf eine Zystozele I° und schwache Levatorenschenkel unauffällig. Unauffällige Urethralkalibrierung bis Charr 25. In der Untersuchung fiel eine, für eine so junge Patientin, ausgeprägte Blasenentleerungsstörung mit stark erhöhten Restharnwerten auf. Im Uroflow zeigte sich eine mehrgipflige verlängerte Spontanmiktion von 413ml mit deutlich erniedrigtem Flow sowie stark erhöhtem Restharnwert von 250ml (Normwert <100ml) (Abbildung 1). Zystotonometrisch zeigte sich eine hyperkapazitäre Blase von 619ml (Normwert 500ml) mit einem normalen ersten Harndrang bei einer Füllmenge von 319ml. In der Entleerungsphase fiel ein atoner Detrusor auf. Die Miktion erfolgte hauptsächlich über die Bauchpresse. In der Beckenboden-Elektromyographie (EMG) zeigte sich eine verstärkte Aktivität im Sinne einer Detrusor-Sphinkter-Dyskoordination (Abbildung 2). Kein Hinweis einer Obstruktion. Die Urethro-Zystoskopie fiel unauf­fällig aus (Abbildung 3). Ebenso zeigte sich im Urin­status ein erneuter Harnwegsinfekt, der resistenzgerecht antibiotisch therapiert wurde. Zusammenfassend zeigte sich somit eine unklare Blasenentleerungsstörung, die zu rezidivierenden HWI’s führt. Als erste Therapieoption wurde mit der Patientin eine getimte Miktion alle 2-3 Stunden sowie eine Beckenbodenphysiotherapie mit Biofeedback und Trink- und Miktionstraining besprochen.


Differentialdiagnostische Überlegungen

Grundsätzlich müssen differentialdiagnostisch die verschiedenen Mechanismen, die zur unvollständigen Blasenentleerung führen, beachtet werden. Hierbei können neurologische von nicht-neurologischen Ursachen unterschieden werden (1).

Neurologische Ursachen

Eingeschränkte Detrusoraktivität

Grundsätzlich tritt mit zunehmendem Alter eine signifikante Reduktion Nervenfunktionalität und folglich der Muskelaktivität auf mit ggf. erhöhten Restharnwerten.
Ein Diabetes mellitus kann alleine, oder insbesondere in Kombination mit hohem Alter, die Detrusoraktivität durch eine zunehmende Neuropathie einschränken (2).
Weitere neurologische Krankheitsbilder mit eingeschränkter Detrusoraktivität können eine Multiple Sklerose oder eine Parkinson-Erkrankung sein. Insbesondere bei jungen Patient_innen sollte eine Multiple Sklerose ausgeschlossen werden. Eine Parkinson-Erkrankung kann ebenso zu einer Blasenentleerungsstörung führen, wenn auch öfters zur über­aktiven Blase (1,3).
Neurologische Krankheitsbilder mit Schädigung der Cauda equina und des sakralen Rückenmarks können zu einer Blasenatonie (Schädigungen des Gehirns hingegen zu einer Detrusorhyperreflexie und im Bereich des Rüchenmarks zu einer Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie) führen. Viele Patient_innen leiden nach Wirbelsäulentraumata (Spinalkanalstenosen, mediale Diskushernien und traumatische Verletzungen) unter erhöhtem Restharn. Zusätzlich kann es als Folge ausgedehnter gynäkologischer und viszeralchirurgischer Operationen zur iatrogenen Denervierung der Blase kommen (1).

Nicht-neurologische Ursachen

Obstruktion

Unter den obstruktiven Differentialdiagnosen werden anatomische Gegebenheiten zusammengefasst, die zu einer
Obstruktion der Urethra führen. Einerseits kann ein Beckenbodendeszensus (vor allem eine Zystozele) zu einem Quetsch-­­ hahnphänomen und somit zu einem Abknicken der Urethra führen. Andererseits können Raumforderungen im kleinen Becken zu einer externen Obstruktion der Urethra führen. Dabei sollte vor allem an Uterusmyome, Adnexbefunde aber auch Darmpathologien und -tumore gedacht werden.
Intrinsische Ursachen einer Urethraobstruktion sind Urethrastrikturen (iatrogen und idiopathisch) und –divertikel. Ebenso sollten intraluminale Befunde der Urethra wie Steine, Malignome, aber auch ein erodiertes Band nach suburethraler Schlingeneinlage, ausgeschlossen werden (1).

Weitere Abklärungsschritte und Verlauf

Die junge Patientin wurde im Anschluss engmaschig in die urogynäkologische Sprechstunde angebunden. Da sich in der klinischen Untersuchung eine Zystozele I° zeigte, wurde zum Ausschluss eines Quetschhahnphänomens eine Pessartherapie versucht. Bei fehlender Besserung der Symptomatik trotz Pessar wurde die Therapie im Verlauf auf Wunsch der Patientin wieder gestoppt. Zum Ausschluss einer neurologischen Ursache, insbesondere einer Multiplen Sklerose, wurde die Patientin den Kolleginnen der Neurologie zugewiesen. Die klinische Untersuchung zeigte sich dabei unauffällig, ebenso wurde ein unauf­fälliges MRI Neurocranium inkl. Wirbelsäule durchgeführt.
Im Verlauf wurde bei hohem Leidensdruck der Patientin und fehlender Besserung durch die Physiotherapie und getimte Miktion eine medikamentöse Therapie mit einem blasentonisierenden Medikament versucht, ebenfalls ohne deutliche Besserung. Zwischenzeitlich traten wiederholt symptomatische Harnwegsinfektionen mit der Notwendigkeit einer antibiotischen Therapie auf. Konservative prophylaktische Therapieversuche zur Reduktion der HWI’s waren ebenfalls frustran. Es wurden wiederholt Uroflow-Messungen durchgeführt. Dabei zeigte sich, dass die Restharnwerte umso grösser waren, je höher das gesamte Blasenvolumen war. Maximal zeigte sich eine stark hyperkapazitäre Blase mit einem Volumen von 1500ml, wobei über 900ml als Restharn in der Blase verblieben (Bild 4).
Bei hohem Leidensdruck der Patientin aufgrund der erhöhten Restharnwerte und der folgenden HWIs erfolgte die interdisziplinäre Vorstellung und Besprechung des Falles.


Diagnose

Aufgrund der multiplen unauffälligen Abklärungen wurde bei unklarer Blasenentleerungstörung der jungen Patientin die Diagnose des seltenen Fowler-Syndroms gestellt. Das Krankheitsbild präsentiert sich mit schmerzlosem Harnverhalt aufgrund einer fehlenden Urethrasphinkter-Relaxation. Es können sich Restharnmengen von über einem Liter zeigen (4,5).

Kommentar

Beim Fowler-Syndrom handelt es sich um eine seltene Erkrankung, die typischerweise bei jungen Frauen (Durchschnittsalter 27 Jahre) auftritt und sich durch unerklärten, schmerzlosen Harnverhalt manifestiert. Die hohen Restharnwerte prädisponieren für rezidivierende Harnwegsinfektionen, mit hohem Leidensdruck der jungen Patientinnen. Da es sich beim Fowler-Syndrom um eine Ausschlussdiagnose handelt, besteht oft ein jahrelanger Leidensweg bis die Diagnose gestellt wird. In der Literatur wird eine Assoziation mit dem polyzystischen Ovarialsyndrom beschrieben. Dies war bei unserer Patientin nicht der Fall. Die Aetiologie des Fowler-Syndroms ist unklar. Es besteht keine kausale Therapie (4). Mögliche Therapieansätze sind die sakrale Neuromodulation. Dabei kommt es zur Schrittmacheranlage, der durch externe Impulse die Sakralnerven ansteuert. Alternativ kann eine perkutane tibiale Nervenstimulation erfolgen, dabei wird der Nervus tibialis im Bereich des Fusses extern stimuliert. Als weniger invasive Therapieoption kann mit den Patient*Innen die intermittierende Selbstkatheterisierung besprochen werden (4). Wir haben mit der Patientin die verschiedenen Therapieoptionen besprochen und sie zur Besprechung der definitiven Therapie den Kolleg_innen der Urologie zugewiesen.

Im Artikel verwendete Abkürzungen
EMG Elektromyographie
HWI’s Harnwegsinfektionen

Dr. med. Désirée Abgottspon

Kantonsspital St. Gallen
Rorschacherstrasse 95/Haus 06
9007 St. Gallen

desiree.abgottspon@kssg.ch

Historie
Manuskript eingereicht: 25.09.2023
Manuskript akzeptiert: 01.11.2023

Interessenskonflikte
Es bestehen keine Interessenskonflikte.

Unvollständige Blasenentleerung kann zu rezidivierenden Harnwegsinfektionen und somit zu einem hohen Leidensdruck führen. Bei unauffälliger urogynäkologischer und neurologischer Abklärung soll, insbesondere bei jungen Frauen, an das Fowler-Syndrom gedacht werden. Kausale Therapieoptionen bestehen keine. Es gibt jedoch vielversprechende Therapieansätze, die zu einer deutlichen Verbesserung der Lebensqualität der Patientinnen führen.

1. Ihnenfeld I, Blick N, Passweg D. Störung der Harnblasenent­leerung bei der Frau. info@gynäkologie, Volume 23, Augsgabe 3, 2023. p. 11 – 15.
2. Olujide LO, O’Sullivan SM. Female voiding dysfunction. Best Pract Res Clin Obstet Gynaecol. 2005;19(6):807-28.
3. Griebling TL. Urologic Issues in Geriatric Health Care. Clin Geriatr Med. 2015;31(4):xiii-xiv.
4. Szymanski JK, Słabuszewska-Józwiak A, Jakiel G. Fowler’s Syndrome-The Cause of Urinary Retention in Young Women, Often Forgotten, but Significant and Challenging to Treat. Int J Environ Res Public Health. 2021;18(6).
5. Fowler CJ, Christmas TJ, Chapple CR, Parkhouse HF, Kirby RS, Jacobs HS. Abnormal electromyographic activity of the urethral sphincter, voiding dysfunction, and polycystic ovaries: a new syndrome? BMJ. 1988;297(6661):1436-8.

Kleine Zecke – Grosse Gefahr

Wir berichten über einen 23-jährigen Patienten, der sich aufgrund persistierender Kopfschmerzen sowie Fieber und Erbrechen in der Hausarztpraxis vorstellte. Im weiteren Verlauf kamen eine rechtsbetonte Tetraparese, eine Dysphagie sowie eine Dysarthrie hinzu und es kam zu einem generalisierten tonisch-klonischen Krampfanfall. Weitere Abklärungen bestätigten eine FSME-Enzephalomyelitis und Polyradikulitis. Auch nach zweimonatiger Rehabilitation blieben beim ungeimpften Patienten sowohl neuropsychologische wie auch fokal-neurologische Residuen bestehen.

Anamnese und Befunde

Der 23-jährige, bisher gesunde Patient, meldete sich im Spätsommer erstmals in der Hausarztpraxis wegen starken, bitemporalen Kopfschmerzen mit Lichtempfindlichkeit, welche seit einer Woche bestanden. Bei Verdacht auf migräneartige Kopfschmerzen erfolgte eine symptomatische Therapie mit einem Salicylat (ASPÉGIC forte® 1000 mg) in Kombination mit Paracetamol (Dafalgan® 1g). Darunter kam es lediglich zu einer leichten Regredienz der Beschwerden, weshalb nach drei Tagen eine Wiedervorstellung in der hausärztlichen Praxis erfolgte. Der Patient klagte nun über persistierende, neu auch occipitale Kopfschmerzen (NRS 8/10) sowie über Übelkeit mit rezidivierendem Erbrechen – gemäss Angaben des Patienten ohne Fieber. Ebenfalls gab der Patient auf Nachfrage an, gegen Frühsommer-Meningoenzephalitis (FSME) geimpft zu sein und keinen Zeckenstich bemerkt zu haben.
Bei der klinischen Untersuchung zeigte sich ein febriler (38.8°C) Patient in deutlich reduziertem Allgemeinzustand und erhöhter Atemfrequenz, bewusstseinsklar und allseits orientiert. Klinisch fand sich kein eindeutiger Fokus für einen Infekt, insbesondere war die Abdomenuntersuchung unauffällig und epigastrisch war lediglich eine diffuse Druckdolenz eruierbar. Neurologisch zeigte sich ein fraglicher, höchstens endständiger Meningismus bei unauffälligem Hirnnerven-Status sowie normaler Sensorik und Motorik in allen vier Extremitäten.
Im Labor (Tabelle 1) waren eine Leukozytose (12.85 G/l) sowie Granulozytose (9.75 G/l) zu sehen, bei normwertigem C-reaktivem Protein (CRP). Das restliche Blutbild war unauf­fällig (Abbildung 1).

Differentialdiagnosen

Die Symptome lassen primär an eine Meningitis respektive Enzephalitis denken, wobei ein Spannungskopfschmerz bei zusätzlicher Infektion im Magen-Darm-Bereich als Ursache der Beschwerden nicht auszuschliessen ist. Weiter könnte man an eine (septische) Sinusvenenthrombose denken (Tabelle 2).

Weitere Abklärungsschritte und Verlauf

Aufgrund des sichtlich reduzierten Allgemeinzustandes des Patienten mit Kopfschmerzen sowie Erbrechen ohne eindeutigen Fokus und Bestehen eines möglichen Meningismus’ erfolgte die notfallmässige Zuweisung auf die Notfallstation eines Zentrumsspitals zur weiteren Diagnostik und Therapie. Durch die Angehörigen wurde dort ergänzend eine vermehrte Vergesslichkeit des Patienten in letzter Zeit beschrieben. Wie sich herausstellte, war der Patient nicht gegen FSME geimpft. In der neuerlichen neurologischen Beurteilung fielen sodann zusätzlich ein Absinken des rechten Armes (ohne Pronation) im Vorhalteversuch sowie symmetrisch schwache Muskeleigenreflexe auf.
Sowohl eine Computertomografie (CT) des Neurocraniums als auch die ergänzende CT-Angiographie waren ohne pathologische Befunde. Nach wiederholt frustraner Lumbalpunktion erfolgte bei dringendem Verdacht auf eine infektiöse ZNS-Erkrankung eine empirische Therapie mit Ceftriaxon, Dexamethason sowie Aciclovir. MR-tomografisch zeigte sich sodann ein diskret vermehrtes Enhancement zerebellär beidseits, passend zu einer Leptomeningitis (Abbildung 2).

In der im Verlauf erfolgreich durchgeführten Liquoranalyse (Tabelle 2) war eine Pleozytose mit erhöhtem Proteinanteil sichtbar, bei einer leicht- bis mittelschweren Störung der Bluthirnschranke. Zweizeitig bestimmte FSME-Serologien (sowohl IgM- als auch IgG-Antikörper) fielen jeweils positiv aus (mit deutlichem Titeranstieg (Ausgangswert IgG-Antikörper: 159 U/ml; im Verlauf 1756 U/ml)), während der HSV-Typ 1/2- sowie VZV-PCR negativ ausfiel (Tabelle 3). Die empirische Therapie mit Rocephin, Aciclovir sowie Dexamethason wurde folglich gestoppt.

Bereits zu Beginn erfolgte eine Verlegung des Patienten auf die Intensiv- und Pflegestation wo der Patient im Verlauf eine zunehmende rechts- und proximalbetonte Tetraparese (Armabduktion rechts M2, Hüftbeuger M3, sonst M4-5) entwickelte, was bei erhaltenen bis lebhalten Reflexen im Rahmen einer Enzephalomyelitis interpretiert wurde. Der Allgemeinzustand des Patienten verschlechterte sich sodann erneut, wobei es im Verlauf passend zu einer Enzephalopathie zu einer Vigilanzminderung mit Benommenheit und zu einer Dysarthrie sowie Dysphagie kam, weshalb eine Intubation sowie später eine Tracheotomie erforderlich wurden. Erschwerend kam ein Harnwegsinfekt dazu, welcher den erneuten Einsatz von Antibiotika (Piperacillin/Tazobactam) während einer Woche erforderlich machte. Nach Auftreten eines generalisierten tonisch-klonischen Anfalls zeigte eine durchgeführte Bildgebung mittels CT des Neurocraniums keine neuen Aspekte. Ein ergänzende Magnetresonanztomografie (MRT) long spine zeigte den Befund einer spinalen Leptomeningitis sowie einer Polyradiukulitis (Abbildung 3 und 4). Ebenfalls bestand eine motorische Unruhe im Sinne einer Akathisie. Es erfolgte eine weiterführende symptomatische sowie supportive Therapie, worunter es zu einer Besserung der Beschwerden kam. Nach 4 Wochen, während denen der Patient 18 Tage IPS-pflichtig war, konnte dieser in stabilem Allgemeinzustand in die Rehabilitation entlassen werden. Während den 8 Wochen der stationären Rehabilitation wurde die initial noch bestehende Dysphagie mittels Logopädie deutlich verbessert. Obwohl ein selbständiges Gehen ohne Hilfsmittel nach Absolvierung der Rehabilitation wieder möglich war, persistierten eine verminderte Schritthöhe sowie fehlende Schutzschritte. Motorisch bestand zudem weiter eine starke Einschränkung der Abduktion des rechten Armes – ein Aufstehen vom Boden ohne Hilfsmittel war zudem weiterhin nicht möglich.

Im Artikel verwendete Abkürzungen
BWS Brustwirbelsäule
CRP C-reaktives Protein
CT Computertomografie
fs Fettsättigung
FSME Frühsommer-Meningoenzephalitis
hs-CRP high-sensitive CRP
HSV Herpes simplex Virus
HWI Harnwegsinfekt
HWS Halswirbelsäule
IPS Intensiv- und Pflegestation
KM Kontrastmittel
KSSG Kantonsspital St. Gallen
li links
LWS Lendenwirbelsäule
MRT Magnetresonanztomographie
n/a nicht anwendbar
NRS Numerische Ratingskala
PCR Polymerase chain reaction
re rechts
TBE Tick-borne encephalitis
VZV Varizella Zoster Virus

Prof. Dr. med. Beat Knechtle

Facharzt FMH für Allgemeinmedizin
Medbase St. Gallen Am Vadianplatz
Vadianstrasse 26
9001 St. Gallen
Switzerland

beat.knechtle@hispeed.ch

Historie
Manuskript akzeptiert: 27.09.2023

Interessenskonflikte
Es bestehen keine Interessenskonflikte.

Danksagung
Wir danken dem Kantonsspital St. Gallen (KSSG) für das zur Verfügung stellen der MRT- sowie CT-Bilder.

  • Infektionen mit dem FSME-Virus können auch bei jungen und gesunden Menschen zu schweren Verläufen mit Enzephalomyelitis und Polyradikulitis führen.
  • Die dreifache Impfung gegen FSME bietet einen umfassenden Schutz von schätzungsweise 90-99%.
  • Bei Fieber ohne Fokus mit Kopfschmerzen sollte auch bei unspektakulären Labor-Werten und nicht erinnerlichem Zeckenstich an eine ZNS-Infektion gedacht werden.

1. Lindquist L, Vapalahti O. Tick-borne encephalitis. Lancet. 2008; 371:1861-1871.
2. R˚užek D, Vancová M, Tesarˇová M, Ahantarig A, Kopecký J, Grubhoffer L. Morphological changes in human neural cells following tick-borne encephalitis virus infection. J Gen Virol. 2009;90:1649-1658.
3. Zens KD. Frühsommer-Meningoenzephalitis – Virale Übertragung und Überlegungen zur Impfung. Therapeutische Umschau. 2022; 79:471-481.
4. Kollaritsch H, Dobler G, Schmidt AJ, Krech T, Steffen R. Frühsommer-Meningoenzephalitis (FSME) – Grundlagen. Therapeutische Umschau. 2022;79:463-470.
5. Bundesamt für Gesundheit (BAG). Frühsommer-Meningoenzephalitis (FSME): Ausweitung der Risikogebiete. BAG-Bulletin. 2019; 6:12-14. www.bag.admin.ch/dam/bag/de/dokumente/mt/i-und-b/richtlinien-empfehlungen/empfehlungen-spezifische-erreger-krankheiten/zeckenenzephalitis/zeckenenzephalitis-impfung-risikogebiet.pdf.download.pdf/zeckenenzephalitis-impfung-risikogebiet-de.pdf; letzter Zugriff: 01.05.2023.
6. Bundesamt für Gesundheit (BAG). Zeckenübertragene Krank- heiten – Lagebericht Schweiz. www.bag.admin.ch/bag/de/home/krankheiten/ausbrueche-epidemien-pandemien/aktuelle-ausbrue che-epidemien/zeckenuebertragene-krankheiten.html; letzter Zugriff: 01.05.2023
7. World Health Organization. Tick-borne Encephalitis. www.who.int/health-topics/tick-borne-encephalitis#tab=tab_2; letzter Zugriff: 01.05.2023.
8. Bogovic P, Strle F. Tick-Borne Encephalitis [Internet]. Meningoencephalitis – Disease Which Requires Optimal Approach in Emergency Manner. InTech. 2017.
9. World Health Organization. Immunization -Tick-borne Encephalitis. www.who.int/teams/immunization-vaccines-and-biologicals/diseases/tick-borne-encephalitis, letzter Zugriff: 01.05.2023.
10. Baroutsou V, Zens KD, Sinniger P, Fehr J, Lang P. Analysis of Tick-borne Encephalitis vaccination coverage and compliance in adults in Switzerland, 2018. Vaccine. 2020;38:7825-7833.
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Antibiotikatherapie, Chirurgie oder beides?

Die 90-jährige Patientin wurde mit zunehmenden lumbalen Rückenschmerzen bei bekannter rheumatoider Arthritis und Spinalkanalstenose zur Optimierung der Schmerztherapie zugewiesen. Bei klinisch auffallender Druck­dolenz im Unterbauch sowie deutlich erhöhten Entzündungsparametern erfolgte eine weitere Diagnostik mittels Computer­tomografie des Abdomens, wobei sich eine gedeckt perforierte Appendizitis mit perityphlitischem Abszess zeigte. Die konservative Therapie mittels Abszess-Drainage und Antibiotika war erfolgreich.

Anamnese und Befunde

Die elektive Zuweisung der 90-jährigen Patientin erfolgte zur Optimierung der analgetischen Behandlung chronischer lumbaler Rückenschmerzen im Rahmen einer hochgradigen spinalen Stenose L4/5 und L1/2. Die Patientin berichtete, dass sie bereits seit mehreren Monaten an lumbalen Rückenschmerzen mit Ausstrahlung nach gluteal sowie in die dorsalen Oberschenkel leide. Die Schmerzen hätten in den letzten Tagen so stark zugenommen, dass eine selbstständige Mobilisation nicht mehr möglich sei. In der persönlichen Anamnese der Patientin bestand eine rheumatoide Arthritis mit langjähriger Therapie mit Leflunomid, das wegen Diarrhö sistiert und zwei Wochen vor Eintritt durch Methotrexat 10 mg subkutan ersetzt worden war. Als Nebendiagnosen hatte die Patientin eine arterielle Hypertonie, die mit Valsartan und Hydrochlorothiazid gut eingestellt war, sowie ein chronisches Vorhofflimmern/
-flattern. Die orale Antikoagulation mit Rivaroxaban hatte die Patientin wegen Epistaxis selbstständig abgesetzt.
Bei Krankenhauseintritt präsentierte sich die Patientin grenzwertig hypoton (Blutdruck 107/68 mmHg), knapp normokard (Herzfrequenz 97/min) und afebril (Temperatur 37,0 °C) in leicht reduziertem Allgemein- und adipösem Ernährungszustand. In der klinischen Untersuchung fiel eine deutliche Druckdolenz im Unterbauch sowie eine Klopfdolenz paravertebral beidseits im Bereich der unteren Lumbalwirbelsäule auf. Laboranalytisch imponierten ein deutlich erhöhtes C-reaktives Protein von 214 mg/l (< 5 mg/l) sowie eine Panzytopenie (Tabelle 1).

Differenzialdiagosen

Unsere hochbetagte Patientin präsentierte sich mit zunehmenden lumbalen Schmerzen, einer abdominalen Druckdolenz sowie mit einem laboranalytisch nachgewiesenen Entzündungszustand und einer Panzytopenie. Wegen der wenig spezifischen Präsentation ergeben sich verschiedenste Differenzialdiagnosen. Aufgrund der langjährigen Vorgeschichte besteht neben einer Exazerbation der Schmerzen im Rahmen der bekannten Spinalkanalstenose die Möglichkeit einer Spondylarthritis. Dagegen spricht das hohe Alter der Patientin sowie eine fehlende Besserung der Symptomatik durch Bewegung im Verlauf des Tages. Eine weitere Differenzialdiagnose aus dem rheumatologischen Formenkreis ist eine Kristallarthropathie, am ehesten eine Calciumpyrophosphat-Ablagerungserkrankung. Dafür passend sind das hohe Alter und das Geschlecht der Patientin. Üblicherweise sind hier eher die peripheren Gelenke betroffen, und bei einer akuten Arthritis kommt es zu einer Schwellung und Rötung des betroffenen Gelenks.
In Zusammenhang mit der in der klinischen Untersuchung festgestellten Druckdolenz im Unterbauch kamen differenzialdiagnostisch auch abdominale Infektionen in Frage. Kolitiden unterschiedlicher Ätiologie verursachen in der Regel neben abdominalen Schmerzen auch Stuhlveränderungen wie Diarrhö, Schleimbildung oder Blutbeimengung und führen selten oder nur in Schüben zu so deutlich erhöhten Entzündungsparametern. Sowohl eine Cholezystitis, Divertikulitis als auch eine Appendizitis kommen aufgrund der Symptomatik und des deutlich erhöhten C-reaktiven Proteins als infektiologische Differenzialdiagnosen in Frage.
Die Panzytopenie wurde am ehesten im Rahmen der Therapie mit Methotrexat der bekannten rheumatoiden Arthritis mit Aggravation im Rahmen des akuten Entzündungszustands gewertet. Differenzialdiagnostisch muss an eine neo- oder dysplastische hämatologische Erkrankung gedacht werden.

Weitere Abklärungen und Verlauf

Zur Suche eines möglichen Infektfokus erfolgte aufgrund der Druckdolenz im Unterabuch eine Computertomografie des Abdomens. Hierbei zeigte sich der Verdacht auf eine gedeckt perforierte Appendizitis mit perityphlitischer Abszedierung und beginnender Peritonitis (Abb. 1). Aufgrund des hohen Patientenalters wurde in Rücksprache mit den Kolleginnen und Kollegen der Viszeralchirurgie auf eine notfallmässige Appendektomie verzichtet. Nach Abnahme von Blutkulturen wurde mit einer intravenösen antibiotischen Therapie mit Amoxicillin/Clavulansäure begonnen. Am Folgetag erfolgte durch die interventionellen Radiologen eine perkutane Drainageeinlage in den perityphlitischen Abszess. Darunter kam es zu einer raschen Besserung der Schmerzsymptomatik und die Entzündungs­parameter waren rückläufig. In den Kulturen der Abszess-Drainage wurden pansensible Escherichia coli nachgewiesen. Unter einer parenteralen antibiotischen Therapie mit Amoxicillin/Clavulansäure kam es zu einer Normalisierung der Leuko- und Thrombozyten. Bei weiter persistierender makrozytärer Anämie konnte in der weiteren Diagnostik ein schwerer Vitamin-B12-Mangel von 71 pmol/l (141–189 pmol/l) nachgewiesen werden. Es wurde mit einer parenteralen Substitution begonnen.

Diagnose

Bei unserer hochbetagten Patientin wurde computertomografisch eine komplizierte Appendizitis mit perityphlitischem Abszess diagnostiziert. Die eingeleitete konser­vative Therapie mit Abszess-Drainage und antibiotischer Therapie mit Amoxicillin/Clavulansäure war erfolgreich.

Kommentar

Die genaue Pathophysiologie der Appendizitis ist nicht vollständig geklärt. Am ehesten entwickelt sich eine Appendizitis durch eine Obstruktion des Lumens mit Sekretansammlung, Steigerung des intraluminalen Drucks und Bakterienvermehrung. Die venöse und die lymphatische Drainage werden gestört, was zu einer Ischämie führt. Die Folgen sind Gangrän, Perforation mit Freisetzung von Darmbakterien (insbesondere Enterobacteriaceae und Anaerobier) bis hin zu perityphlitischem Abszess, Peritonitis und Sepsis. Je nach Ausprägungsgrad wird die Appendizitis als unkompliziert oder kompliziert bezeichnet: Bei der unkomplizierten Form beschränkt sich Inflammation auf den Appendix. Die komplizierte Form ist jede ­Appendizitis mit periappendikulärer Phlegmone, freier ­Flüssigkeit oder Abszess, mit oder ohne Perforation. Die sichere Einteilung im klinischen Alltag ist oft erst intraoperativ oder sogar nur durch den histologischen Befund möglich. Trotz hoher Zuverlässigkeit der Computertomografie in der Diagnosestellung einer Appendizitis ist die Differenzierung der unkomplizierten und komplizierten Appendizitis nicht immer möglich.
Die Appendizitis ist der weltweit häufigste abdominelle chirurgische Notfall. Jährlich erkrankt eine von 1000 Personen an einer Appendizitis. Das Lebenszeitrisiko beträgt bei Männern 8,6 %, bei Frauen 6,7 %. Am häufigsten erkranken Jugendliche im Alter von 10–19 Jahren. Bei älteren Personen > 65 Jahre, wie im Fall unserer Patientin, ist eine Appendizitis oft mit milderen und unspezifischen Symptomen, einem protrahierten Verlauf und einer höheren Perforationsrate verbunden [1]. Die Herausforderung für die Klinikerin und den Klinker besteht bei älteren Pa­tientinnen und Patienten darin, aus einem atypischen klinischen Beschwerdebild und orientierenden Laboruntersuchungen (CRP, Blutbild) an eine Appendizitis zu denken und die entsprechende bildgebende Diagnostik zu veranlassen.
Historisch besteht die Meinung, dass die Appendizitis eine irreversible Krankheit ist, die unbehandelt unweigerlich zur Perforation und Peritonitis führt. Aus diesem Grund wird eine Appendizitis praktisch in allen Fällen operativ behandelt. In der internationalen Beobachtungsstudie POSAW von 2018 wurden von 4282 Personen mit Appendizitis 95,7 % operativ (51,7 % laparoskopisch und 42,2 % offen) und nur 4,3 % konservativ behandelt [2].
Die Appendektomie als einzige Behandlungsoption der unkomplizierten Appendizitis wird jedoch immer häufiger hinterfragt. Als alternative Therapieoption kommt die konservative Therapie mittels Antibiotika in Frage. In einer Metaanalyse von fünf randomisierten Studien mit insgesamt 1351 Personen betrug die Effektivität der Therapie nach einem Jahr 98,3 % bei Appendektomie im Vergleich zu 75,9 % bei der konservativen Therapie (p < 0,0001). Im Antibiotika-Arm erlitten 22,5 % der Betroffenen innerhalb des ersten Jahrs ein Rezidiv und mussten doch noch operiert werden [3]. In der CODA-Studie aus dem Jahr 2020 mit 1552 Teilnehmenden (je 50 % in der Appendektomie- und in der Antibiotikagruppe) zeigte sich, dass der Gesundheitszustand der Teilnehmenden nach 30 Tagen gleich gut war, unabhängig von der Therapiemethode. 29 % der Teilnehmenden mit primärer Antibiotika-Behandlung wurden jedoch bis zum Tag 90 doch noch appendektomiert; wenn ein Appendikolith nachgewiesen wurde, waren es sogar
41 %. [4].
Zusammenfassend kann eine unkomplizierte Appendizitis beim Erwachsenen primär antibiotisch behandelt werden. Die Effektivität der chirurgischen Therapie bleibt jedoch höher. Der Eingriff ist komplikationsarm, und bei rund 1 % der Appendektomien werden unerwartete Neoplasien diagnostiziert. Bei einer komplizierten akuten ­Appendizitis mit freier Perforation sollte eine Appendektomie unverzüglich durchgeführt werden. Bei der Appendizitis mit einer lokalen Komplikation (Abszess oder Phlegmone) kann bei stabilen Patientinnen und Patienten, wie in unserem Fall, eine initial konservative Therapie mit Antibiotika und allenfalls Drainage durchgeführt ­werden, gefolgt bei Bedarf von einer Appendektomie nach 6–8 Wochen. Bei diesem Vorgehen kommt es zu weniger Komplikationen als bei einer Notfalloperation [5].
Antibiotika sind wichtige Bestandteile der Appendizitis, Therapie und sollten gegen Gram-negative Bakterien und Anaerobier wirksam sein (Tabelle 2). Die notwendige Dauer der Antibiotikatherapie im Rahmen der nicht-­operativen Therapie orientiert sich hauptsächlich am ­klinischen Verlauf und der Dynamik der Entzündungsparameter; in der Regel wird vorerst eine parenterale Antibiotikatherapie über 1–3 Tage empfohlen, die für weitere 5–7 Tage mit oralen Antibiotika fortgeführt wird [2]. Perioperativ sollten Antibiotika immer, unabhängig davon, ob eine unkom­plizierte oder komplizierte Appendizitis vorliegt, angewendet werden. Dadurch werden Wundinfek­tionen und ­Abszesse reduziert. Die postoperative Fortsetzung der Antibiotikatherapie über 5–7 Tage ist nur bei der komplizierten Appendizitis, vor allem beim Vorliegen eines Abszesses indiziert.

Im Artikel verwendete Abkürzungen
CRP C-reaktives Protein
L1/2 Segment 1 und 2 der Lendenwirbelsäule
L4/5 Segment 4 und 5 der Lendenwirbelsäule

PD Dr. med. Alexia Cusini

Leitende Ärztin für Infektiologie
Kantonsspital Graubünden
Loëstrasse 170
7000 Chur

alexia.cusini@ksgr.ch

Historie
Manuskript akzeptiert: 20.02.2023

Interessenskonflikte
Es bestehen keine Interessenskonflikte.

ORCID
Meret Joanna Zehnder
https://orcid.org/0000-0003-1299-8122
Alexia Cusini
https://orcid.org/0000-0001-5086-0293

  • Je nach Ausprägungsgrad wird eine unkomplizierte Appendizitis (Inflammation des Organs) von einer komplizierten Appendizitis (Abszess, Phlegmone, freie Flüssigkeit, mit/ohne Perforation) unterschieden.
  • Bei älteren Personen präsentiert sich eine Appendizitis oft mit milderen und unspezifischen Symptomen, einem protrahierten Verlauf und einer höheren Perforationsrate.
  • Die Appendektomie bleibt auch bei der unkomplizierten Appendizitis die Standardbehandlung, weil es ein effektiver und komplikationsarmer Eingriff ist.
  • Bei stabilen Patientinnen und Patienten mit komplizierter Appendizitis und einer lokalen Komplikation kann eine initial konservative Therapie mit Antibiotika und allenfalls Drainage durchgeführt werden mit nachfolgender Appendektomie.

Wenn das Hirn den Takt angibt

In seltenen Fällen kann eine HSV-Enzephalitis zu einer Sinusknotendysfunktion führen. So auch im vorliegenden Fall einer 70-jährigen Patientin, die rezidivierende Synkopen erlitt. Bei beobachteten Sinusbradykardien und kurzzeitigen Sinusarrests wurden die Synkopen initial einer kardialen Ursache zugeschrieben. Als im Verlauf Fieber und neurologische Beschwerden hinzukamen, konnte eine HSV-1-Enzephalitis nachgewiesen werden. Der Zusammenhang hierfür, so zeigt die Literatur-Recherche, ist nicht abschliessend geklärt. In Versuchen konnte gezeigt werden, dass der Befall des Inselkortex, der Prädilektionsstelle einer zerebralen HSV-Infektion, Einfluss auf das autonome Nervensystem hat. Im vorliegenden Fall vermuten wir jedoch eine iktale Genese, unter anderem, weil die Arrhythmien nach Einleitung einer antiepileptischen Therapie sistierten. Der vorliegende Fall betont die Bedeutung differenzialdiagnostischer Überlegungen bei Synkopen.

Fallbericht

Die 70-jährige, bis auf eine bekannte arterielle Hypertonie gesunde und selbständig lebende Patientin wurde nach einer Synkope auf die Notfallstation zugewiesen. Beim Spielen mit den Enkelkindern hatte sie Nausea verspürt und war plötzlich bewusstlos geworden. Bis auf passagere, ungewöhnlich starke Kopfschmerzen am Vorabend wurden keine weiteren Beschwerden registriert. Die Patientin präsentierte sich wach, orientiert und ohne neurologische Ausfälle. Auf der Notfallstation kam es erneut zu einer Synkope, wobei eine ca. 20-sekündige Asystolie aufgezeichnet werden konnte (Abb. 1a, b, c). Im Intervall liess sich ein normales EKG ableiten. Laboranalytisch zeigte sich einzig eine leichte Leukozytose. CT-grafisch erfolgte eine Thorax- sowie eine Schädelaufnahme zum Ausschluss einer Lungenarterienembolie oder einer intrazerebralen Blutung. Die Patientin wurde zur Rhythmusüberwachung auf die Überwachungsstation aufgenommen. Bei Verdacht auf kardiale Synkope bei dokumentierter Asystolie wurde eine Schrittmacher-Implantation geplant. Auf der Überwachungsstation kam es rezidivierend zu kurzanhaltenden Sinusbradykardien und insgesamt zu fünf weiteren Episoden eines Sinusarrests mit begleitenden Synkopen. Zweimalig musste Atropin verabreicht und aufgrund der Bradykardien mit konsekutiver Hypotonie und Verschlechterung des neurologischen Zustandsbildes ein Isoprenalin-Perfusor eingesetzt werden.
Bereits am ersten Tag der Hospitalisation fieberte die Patientin bis 38,2 °C auf ohne klinischen Fokus (insbesondere kein Meningismus). Der SARS-CoV2-Abstrich sowie die Blutkulturen waren unauffällig. Bei Klebsiellen im Urin starteten wir, bei Verdacht auf einen febrilen Harnwegsinfekt und vor geplanter Schrittmacher-Implantation, eine Antibiotika­therapie mit Ceftriaxon. Das Fieber war zwischenzeitlich regredient, die Entzündungsparameter im Blut stiegen jedoch leicht an (CRP max. 26 mg/l (Normwert < 5 mg/l)).
Bei vermuteter kardialer Ursache der Synkopen erfolgte eine Echokardiografie, welche eine normale links- und rechtsventrikuläre Funktion ohne regionale Wandbewegungsstörungen und mit unauffälligen Klappen zeigte.
Im weiteren Verlauf präsentierte sich die Patientin fluktuierend desorientiert und teilweise unruhig. Aufgrund der wechselhaften Symptomatik interpretierten wir dies initial im Rahmen eines Delirs und starteten eine Therapie mit Quetiapin.

Am fünften Hospitalisationstag fieberte die Patientin wieder auf, es kam zu neuen intermittierenden linksseitigen fazialen Myoklonien und es konnte ein Meningismus festgestellt werden. Zudem wurde eine spastisch-dystone Hemisymptomatik der linken Körperseite beobachtet. Aufgrund der intermittierenden fazialen Myoklonien erfolgte bei Verdacht auf einen Status epilepticus die intravenöse Gabe von Lorazepam und Levetiracetam. Im Schädel-CT zeigte sich eine diskrete Anschwellung des Hippocampus, respektive des rechten temporalen Hirnbereichs. Wir starteten bei Verdacht auf eine virale Enzephalitis/Meningitis empirisch eine Therapie mit Aciclovir und führten eine Lumbalpunktion durch, welche einen erhöhten Eröffnungsdruck (32 cmH2O [Normwert 6–25 cmH2O]), eine erhöhte Zellzahl (188 G/l [Normwert < 0,004 G/l], 100 % mononukleäre Leukozyten) und einen erhöhten Proteinspiegel (0,89 g/l [Normwert 0,15–0,45 g/l]) ergab. Die PCR wies schliesslich HSV-1 nach, womit sich eine Herpes-Enzephalitis bestätigte.
Im Verlauf kam es klinisch zu einem intermittierenden GCS-Abfall auf 11 bei persistierender Schwäche der linksseitigen Extremitäten mit Persistenz der Desorientierung. Unter der anfallsunterdrückenden Therapie mit Levetiracetam kam es vorerst nicht mehr zu einem epileptischen Anfall. Das im Verlauf durchgeführte MRT des Schädels bestätigte den obigen Befund bei radiologischen Zeichen einer Enzephalitis temporal und insulär rechts (Abb. 2).
Unter der Therapie mit Aciclovir in der Dosierung von 10 mg/kg Körpergewicht achtstündlich kam es zu einer Verschlechterung der Nierenfunktion auf eGFR 19 ml/ min/1,73 im Sinne einer interstitiellen (allergischen) Nephritis. Die Aciclovir-Gaben wurden nierenfunktionsadaptiert reduziert und zudem Methylprednisolon 40 mg i.v. einmal pro Tag verabreicht. Hierunter normalisierte sich die Nierenfunktion im Verlauf.
Die Patientin konnte daraufhin – nach elf Tagen auf der Überwachungsstation – auf die Normalstation verlegt werden. Die Therapie mit Aciclovir wurde für insgesamt
14 Tage fortgeführt.
Auf der Bettenstation erfolgte ein weiterer fokaler, nicht bewusst erlebter Anfall, im EEG zeigte sich eine leichte Allgemeinveränderung mit Zeichen eines frontotemporalen Herdbefunds beidseits rechtsbetont. Zudem erfolgte nun auch die Einlage eines Zweikammer-Schrittmachers. Die Patientin trat nach drei Wochen Hospitalisation in wachem, allerdings persistierend desorientiertem und psychomotorisch verlangsamten Zustand in die neurolo­gische Rehabilitation aus.

Hintergrund

Die Herpes-simplex-Virus-Enzephalitis ist mit schätz­ungsweise fünf Fällen/Million die häufigste sporadische Enzephalitis in Westeuropa. Hierbei können alle Altersgruppen betroffen sein; ⅓ der Fälle tritt bei unter 20-Jährigen auf, 50 % der Fälle bei über 50-Jährigen [1]. Die Letalität beträgt unbehandelt 70 %, unter virostatischer Therapie immer noch 20–30 % [1, 2].
Klinisch lassen sich nebst Fieber auch neurologische Symptome wie Kopfschmerzen, Hemiparesen, Dysarthrien oder Aphasien, Ataxien, psychotische Symptome, epileptische Anfälle oder Vigilanzstörungen bis hin zum Koma beobachten [1, 2].
Neuropathologisch konnte gezeigt werden, dass die akute nekrotisierende Enzephalitis, zu welcher es bei einer akuten HSV-Erkrankung kommen kann, oft asymmetrisch ist und vor allem den orbitofrontalen und temporalen Kortex betrifft [3]. Vermutungen, welche diese Prädilektionsstelle begründen könnten, sind einerseits der mögliche Virus­eintritt bei einer De-novo-Infektion über den N. olfactorius entlang der Hirnbasis zu den Temporallappen oder im Fall einer Virusreaktivierung und Ausbreitung vom Ganglion trigeminale aus zum temporalen und frontalen Kortex [4].
Klinik, Blutuntersuchung, Liquordiagnostik inklusive PCR-Virusnachweis sowie Bildgebung werden zur Diagnose­stellung herangezogen. Das MRT ist dem CT vorzuziehen, typischerweise zeigen sich bereits früh im Krankheitsverlauf in der Diffusions- und FLAIR-Wichtung ein Enhancement temporobasal und periinsulär oder einzelne kortikale Herde. Ebenfalls kann das EEG früh im Krankheitsverlauf pathologisch verändert sein mit fokaler oder generalisierter Verlangsamung und lateralisierten periodischen Entladungen (LPDs) [1]. Die Bildgebung kann aber in seltenen Fällen auch ohne Befund ausfallen – insbe­sondere die CT-Aufnahme kann in den ersten Tagen einer akuten Infektion unauffällig sein [1, 4].
Eine Aciclovir-Therapie (10 mg/kg/8 h) über 14 Tage bei Immunkompetenten und über 21 Tage bei Immunkompromittierten gilt als Therapiestandard [5].

HSV-1-Enzephalitis und Sinusknotendysfunktion: die Hirn-Herz-Achse

Verschiedene Regionen des Gehirns sind für die Kontrolle der Herzfrequenz und der Kontraktilität der Herzmuskelzellen verantwortlich: darunter fallen der vordere Insel­kortex, der Gyrus cinguli, die Amygdala, der Hypothalamus, das periaquäduktale Grau, die parabrachialen Kerne sowie Teile der Medulla. Die Steuerung erfolgt über das parasympathische und sympathische Nervensystem [6]. So erstaunt es nicht, dass zerebrale Pathologien zu kardialen Dysfunktionen und Arrhythmien führen können.
Dr. Harvey Cushing beschrieb bereits 1901 den Zusammenhang eines erhöhten intrakraniellen Drucks mit einer Blutdrucksteigerung und konsekutiver Bradykardie (Cushing-Reflex) [7]. Weiter ist bekannt, dass es im Rahmen von Hirnschlägen (ischämisch wie auch hämorrhagisch) zu systolischen und diastolischen Dysfunktionen, erhöhten Herzenzymwerten wie auch zu EKG-Veränderungen bis hin zu potenziell letalen Arrhythmien kommen kann [8]. Auch im Rahmen von Epilepsien kann es zu Herzrhythmusstörungen kommen (sowohl iktale Bradykardien als auch Asystolien bei einer Überstimulation des parasympathischen Nervensystems). Des Weiteren sind im Zusammenhang mit Epilepsien plötzliche Todesfälle (‹sudden unexpected death in epilepsy [SUDEP]›) beschrieben [9]. Deren Ursache ist zwar nicht abschliessend geklärt, es wird jedoch nebst einer zerebralen Suppression und einer respiratorischen Genese auch eine kardiologische Ursache
diskutiert [10].
In der Literatur wurde das Auftreten von Sinusarrhythmien im Rahmen von bestätigten HSV-1-Enzephalitiden – wie im vorliegenden Fall – in sechs Fallberichten beschrieben [11, 12, 13, 14, 15, 16]. In vier dieser Fallberichte wurde zudem ein auffälliges EEG abgeleitet [11, 12, 15, 16], wobei es in zwei dieser Fälle auch klinisch zu epileptischen Anfällen kam [11, 12]. Aus den Fallberichten kann jedoch nicht sicher eruiert werden, ob beim Auftreten der Sinusarrhythmien jeweils auch gleichzeitig eine EEG-Ableitung erfolgte.
In weiteren drei Fallberichten traten Asystolien bei vermute­ten HSV-Enzephalitiden auf (ohne Bestätigung mittels HSV-PCR im Liquor) [17, 18, 19]. Davon kam es in einem Fallbericht zu mehrmaligen epileptischen Anfällen mit gleichzeitiger Asystolie, weshalb eine iktale Ursache der Asystolie vermutet wurde [17]. Die Anfälle wie auch die Asystolien
waren in diesem Fall unter antiviraler Therapie rückläufig. Ebenfalls traten HSV-Enzephalitis-Fälle mit autonomer Instabilität und QT-Verlängerung respektive ventrikulärer Tachykardie auf [20, 21].
Der zugrundeliegende pathophysiologische Zusammenhang einer Sinusknotendysfunktion und HSV-Enzephalitis konnte bisher nicht abschliessend geklärt werden, bekannt ist jedoch, dass Pathologien im Bereich des Inselkortex zu kardialen Dysfunktionen führen können [22]. Oppenheimer zeigte 1990 in einem Tierversuch, dass durch eine Mikro­stimulation des posterioren Inselkortex Arrhythmien und EKG-Veränderungen bis hin zur Asystolie ausgelöst werden konnten [23]. In einem weiteren Tierversuch beobachtete er, dass eine elektrische Stimulation des caudalen posterioren Inselkortex zu Bradykardien führte, eine Stimulation des rostralen posterioren Inselkortex löste aber Tachykardien aus, wobei beide Effekte mit Atenolol, aber nicht mit Atropin aufgehoben werden konnten, was für eine Aktivität des sympathischen Nervensystems spricht [24]. In einem weiteren Versuch an Patienten, bei denen aufgrund einer Epilepsie eine Temporallappenlobektomie geplant war, zeigte Oppenheimer, dass eine Stimulation des linken Inselkortex häufiger zu Bradykardien führte, während eine Stimulation des rechten Inselkortex häufiger eine Tachykardie auslöste [25]. Diese vermutete Lateralisierung (links parasympathisches Nervensystem versus rechts sympathisches Nervensystem) konnte allerdings bisher nicht ausreichend belegt werden [6].
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Läsionen unterschiedlicher Ursachen im Bereich des Inselcortex – der Prädilektionsstelle der HSV-Enzephalitis – zu EKG-Veränderungen und Arrhythmien führen können. Ob es im vorl­iegenden Fall aufgrund des Ödems im Bereich des rechten Inselkortex zu einer Unterfunktion des sympathischen Nervensystems gekommen ist oder ob die Läsionen zu fokalen insulären Epilepsien geführt haben und daher die rezidivierenden Bradykardien und Asystolien aufgetreten sind, bleibt unklar. Für Letzteres sprächen die wiederholten und jeweils nur kurz andauernden kardialen Episoden, wohingegen im ersteren Fall eher eine länger andauernde Sinusbradykardie zu erwarten wäre.
Die unauffälligen kardialen Untersuchungen (Echokardiografie, EKG im Intervall) lassen jedenfalls vermuten, dass die Ursache der Sinusknotendysfunktion im beschriebenen Fall eher nicht kardiogener Genese, sondern im Bereich der neuralen Steuerung zu suchen ist.

Diskussion

Die HSV1-Enzephalitis ist eine seltene Ursache einer Sinus­­knotendysfunktion. Im vorliegenden Fall ist eine epileptische Genese der meist selbstlimitierenden Asystolien im Rahmen der nachgewiesenen HSV-Enzephalitis anzunehmen. Leider konnte eine hierfür beweisende zeitgleiche EEG-Aufzeichnung nicht durchgeführt werden. Gestützt wird diese These dadurch, dass nach Start der antiepileptischen Therapie keine Arrhythmien mehr auftraten, obschon die strukturelle Schädigung und das Begleitödem persistierten. Dass solche strukturellen zerebralen Alterationen zu einem epileptischen Geschehen und im Rahmen dessen zu Arrhythmien führen, ist sehr selten, jedoch bei frontalen, temporalen und auch insulären fokalen epileptischen Anfällen durchaus bekannt.
Hinsichtlich der kardialen Dysfunktion weisen die in der Literatur beschriebenen Fälle darauf hin, dass diese mit dem Abheilen der Enzephalitis regredient sind und somit auch das Risiko einer erneuten Arrhythmie oder Asystolie als passager anzunehmen ist. Die Indikation der im vorliegenden Fall durchgeführten Herzschrittmacher-Implan­tation ist somit, nach Start der anfallsunterdrückenden
Therapie, kontrovers zu diskutieren.
Eine grosse Bedeutung hat in jedem Fall die unmittelbare Therapieeinleitung mit Virostatika und anfallsunterdrückender Therapie.
Mit der Aufarbeitung des Falls möchten wir zum breiten differenzialdiagnostischen Denken bei unklaren Synkopen anregen, um die Ursache nicht einzig und allein im Formenkreis der kardiovaskulären oder kardioregulatorischen Krankheiten zu suchen.

Im Artikel verwendete Abkürzungen

CRP C-reaktives Protein
CT Computertomogramm
EEG Elektroenzephalogramm
eGFR Estimated Glomerular Filtration Rate
EKG Elektrokardiogramm
GCS Glasgow Coma Scale
HSV-1 Herpes-Simplex-Virus Typ 1
MRT Magnetresonanztomogramm
PCR Polymerase Chain Reaction

Dr. med. Michael Studhalter

Kantonsspital Olten
Baslerstrasse 150
4600 Olten

michael.studhalter@spital.so.ch

Historie
Manuskript eingereicht: 03.07.2022
Nach Revision angenommen: 09.01.2023

Interessenskonflikte
Es bestehen keine Interessenskonflikte.

ORCID
Nina Graf
https://orcid.org/0000-0002-7067-9536
Michael Studhalter
https://orcid.org/0000-0002-5467-2879

  • Die HSV1-Enzephalitis ist mit 5 Fällen/Mio. die häufigste sporadische Enzephalitis in Westeuropa.
  • In seltenen Fällen kann eine HSV1-Enzephalitis die Ursache für eine Sinusknotendysfunktion sein.
  • Die Ursache ist nicht vollständig geklärt, vermuten lässt sich eine Störung der Hirn-Herz-Achse. Einerseits führt der Befall des Inselkortex zu einer autonomen Dysregulation des Herzens, andererseits ist eine iktale Genese zu evaluieren.

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