- Adipositas – die neue Epidemie
Vorbeugen ist besser als heilen. Den Organisatoren des Prevention Summits – Prof. Thomas Lüscher, Zürich und London, Prof. François Mach, Genf, Prof. Felix Mahfoud, Basel und Prof. Stephan Windecker, Bern – ist es gelungen, hochkarätige Referenten einzuladen. Mit einem aktuellen Überblick über Risikofaktoren und neue Behandlungsmethoden haben sie ein äusserst interessantes Programm gestaltet, das auch eine grosse Anzahl von Zuhörern anzog. Der folgende Bericht umfasst den ersten Teil des Symposiums.
Adipositas: Neurobiologische und genetische Ursachen
Die Prävalenz der Adipositas (BMI ≥ 30 kg/m²) nimmt seit 1975 exponentiell zu. Gleichzeitig nimmt die Mortalität zu, und zwar in einer U-förmigen Kurve ab einem BMI von mehr als 23 kg/m², stellte PD Dr. Eleonora Selig aus Basel eingangs fest.
Adipositas ist sowohl mit einer Übermenge als auch mit einer Dysfunktion des weissen Fettgewebes, insbesondere der viszeralen Fettdepots, verbunden. Adipositas ist ein evolutionäres Missverhältnis zwischen unserer uralten, genetisch bedingten Physiologie und der modernen Ernährung sowie Lebensweise. Wir haben uns nicht nur nicht so entwickelt, dass wir Fettleibigkeit haben, sondern auch nicht, um mit den zahlreichen damit verbundenen Fehlanpassungen fertig zu werden, wie z. B. der massiven Adipozyten-Hypertrophie, die überschüssiges Fett aufnehmen muss.
Gene regulieren das Körpergewicht.
Vererbt werden Appetit, Sättigung, Energieverbrennung in Ruhe und bei körperlicher Aktivität. Dies ergibt sich aus Untersuchungen an eineiigen Zwillingen, die eine Konkordanz von 70–90 % aufweisen, während diese bei zweieiigen Zwillingen 30–50 % beträgt.
Neurobiologie der Gewichtsregulation
Für die Regulation des Körpergewichts ist Leptin essenziell, wie die Referentin zeigte. Leptin soll den Körper vor Verhungern schützen.
Das Leptin-Melanocortin-System: Der Melanocortin-Signalweg erwies sich als wertvoller Weg für die Pharmakotherapie der Fettleibigkeit. Der Melanocortin-4-Rezeptor (MC4R), eine Komponente des Leptin-Melanocortin-Systems, spielt eine Rolle bei der Regulierung des Körperfetts. Eine genetische Störung des MC4R führt zu extremer Fettleibigkeit, während subtilere polymorphe Variationen die Verteilung des Körpergewichts in der Bevölkerung beeinflussen. Die Korrelation zwischen den Signaleigenschaften dieser mutierten Rezeptoren und der Energieaufnahme unterstreicht die Schlüsselrolle dieses Rezeptors bei der Kontrolle des Essverhaltens beim Menschen.
Studien mit dem MC4-Agonisten Setmelanotid bei Personen mit schwerer Adipositas, die entweder auf einen Pro-Opiomelanocortin-(POMC)-Mangel oder einen Leptin-Rezeptor-Mangel zurückzuführen sind, unterstützen die Behandlung von Fettleibigkeit mit diesem Medikament. Dabei wurden mehr als 10 % Gewichtsverlust beobachtet.
Genetisches Screening
Die Endocrine Society Clinical Practice Guideline empfiehlt ein genetisches Screening bei Patienten mit morbider Adipositas seit der Kindheit (Beginn < 5 Jahre) in Kombination mit Hyperphagie und/oder einer Familienanamnese von morbider Adipositas.
Monogenes vs. polygenes Adipositas-Risiko
Monogen: Früher Beginn, schwere Adipositas, starker genetischer Beitrag, Einzelmutation in einem einzigen Gen, grosser genetischer Effekt, hohe Penetranz, kein Umwelteinfluss.
Polygen: Allgemeine Fettleibigkeit, bescheidener genetischer Beitrag, Hunderte von Varianten in oder nahe vieler Gene, jede Variante mit schwachem Effekt, niedrige Penetranz, Umwelt ist eine Hauptdeterminante.
Gesunder Lebensstil reduziert das Risiko für Adipositas
Ein hohes genetisches Risiko und ein adipogener Lebensstil werden sowohl unabhängig voneinander als auch gemeinsam mit einem hohen Adipositas-Risiko in Verbindung gebracht. Die Einhaltung eines gesunden Lebensstils kann jedoch der genetischen Veranlagung erheblich entgegenwirken. Darüber hinaus mindert die Einhaltung eines gesunden Lebensstils, der eine Gewichtsabnahme begünstigt, das Risiko fettleibigkeitsbedingter Erkrankungen bei genetisch prädisponierten Personen. Gesunde Lebensweisen sollten daher unabhängig vom genetischen Hintergrund gefördert werden, so die Referentin.
Fazit
Sowohl Umweltfaktoren (Energieaufnahme und Energieverbrauch) als auch Gene (strukturelle Variationen, Chromosomen; epigenetische Variationen, Histone; Single-Nucleotide-Variationen, DNA) beeinflussen unser Gewicht.
Ein gesunder Lebensstil reduziert das Adipositas-Risiko.
Globesitas – was kann durch körperliche Aktivität und Ernährung erreicht werden?
Das Leben in westlichen, gebildeten, industrialisierten, reichen Demokratien («weird countries») hat die Art und Weise, wie wir unseren Körper nutzen, tiefgreifend verändert, stellte Prof. Matthias Wilhelm aus Bern fest. Menschen aus diesen sogenannten «weird countries» sind anfällig für chronische Mismatch-Krankheiten, das heisst Krankheiten, bei denen die Gene einer Person nicht ausreichend an neue Umweltbedingungen angepasst sind. Die evolutionäre Perspektive verdeutlicht die Bedeutung des Lebensstils als zentralen Gesundheitsfaktor.
Faktoren, die im Laufe des Lebensalters eine Rolle spielen
Der Referent wies auf verschiedene altersabhängige Faktoren hin:
• Im Fetus: Genetik spielt eine entscheidende Rolle. Mehr als 250 Gene sind mit Obesitas verknüpft. Epigenetische Veränderungen beeinflussen die Genexpression. Übermässige Gewichtszunahme während der Schwangerschaft erhöht das Risiko für Adipositas beim Kind.
• Im Kleinkindalter: Gestationeller Diabetes erhöht das Risiko, später im Leben an Diabetes zu erkranken. Nur etwa 44 % der Säuglinge zwischen 0 und 6 Monaten werden ausschliesslich gestillt.
• Mit 10 Jahren: Kinder verbringen 4–6 Stunden täglich vor Bildschirmen, Teenager bis zu 9 Stunden. Ungesundes Essen, die «Teller-leer-essen»-Kultur und Nahrung als Belohnung tragen zur Gewichtszunahme bei.
• Mit 20 Jahren: Körperliche Untätigkeit nimmt zu. Weniger als 10 % der Erwachsenen erreichen das empfohlene Mass an körperlicher Betätigung. Gleichzeitig steigt der Konsum kalorienreicher, übermässig schmackhafter Fertiggerichte.
• Mit 30 Jahren: Ein sesshafter Lebensstil dominiert. 80 % der Arbeitsplätze gelten als sitzende Schreibtischarbeit. Ökonomische Faktoren verstärken die Problematik, da Fettleibigkeit disproportional Menschen mit niedrigem Einkommen betrifft.
• Mit 40 Jahren: Umwelt- und soziale Faktoren spielen eine grössere Rolle. Schlechte Stadtplanung, Transport zur Arbeit und mangelnde Freizeitmöglichkeiten fördern Adipositas. Schlechte soziale Verbindungen, Stress und hohe Ghrelin-Spiegel verschärfen das Problem.
• Mit 50 Jahren: Verhaltensbedingte Faktoren wie hormonelles Ungleichgewicht und schlechter Schlaf fördern übermässiges Essen und Gewichtszunahme. Frauen nehmen während der Perimenopause durchschnittlich 5–7 Pfund zu.
• Mit 60 Jahren: Abnehmende Kraft und Mobilität führen zu sarkopenischer Adipositas. Altersbedingte Veränderungen bei Östrogen und Testosteron beeinflussen die Körperzusammensetzung.
Das Risiko, Fettleibigkeit als Krankheit zu betrachten: Schwerpunkt auf pharmazeutischen Strategien gegen Fettleibigkeit
Was ist in der Pipeline für zukünftige Medikationen gegen Fettleibigkeit? «Da die neuen Pharmakotherapien gegen Fettleibigkeit zu einem durchschnittlichen Gewichtsverlust von 15-25% führen, können intensive Lebensstil-Interventionen lediglich einen geringen zusätzlichen Gewichtsverlust bewirken» (Int J Obesity 2024).
Da die Pharmakotherapie grössere Aufrechterhaltung der Gewichtsabnehme als Lebensstiländerungen allein (z.B. Step 3 Studie) unterstützen klinische Guidelines die Verwendung von Langzeit-Anti-Obesitas-Medikation (JAMA 2023; 330: 2000-2015).
Eine ausschliessliche Fokussierung auf die Gewichtsabnahme erscheint unangemessen, da GLP-1 RA sich negativ auf die fettfreien Körpermasse auswirkt (bis zu 40%) und eine Veränderung des Körperfettanteils für die Wirksamkeit berücksichtigt werden sollte.
Ozempic kann möglicherweise Ihr persönliches und ihr Sexualleben verändern, sagt ein Experte. Das Absetzen von GLP-1 Rezeptor-Agonisten war bei denjenigen die nur an Adipositas litten, häufiger als bei denjenigen, die zu Beginn der Studie an Diabetes litten (Obesitas 50%, Diabetes 36%).
Fazit
Lebensstilinterventionen sind sicher und wirksam und bleiben der Eckpfeiler sowohl in der Vorbeugung als auch der Behandlung von Fettleibigkeit, erfordern jedoch einen systemorientierten Ansatz Eine erfolgreiche Umsetzung erfordert Ressourcen für eine langfristige Betreuung und Beratung, die mit denen für Pharmakotherapie vergleichbar sind.
Pharmazeutische Strategien zur Bekämpfung der Fettleibigkeit sind wertvoll, um eine Gewichtsabnahme einzuleiten und die Prognose für Patienten mit Fettleibigkeit zu verbessern, In Anbetracht ihrer Wirkungen gibt die langfristige Anwendung dieser Therapien – insbesondere bei gleichzeitiger Anwendung von Lebensstiländerungen jedoch Anlass zu Bedenken.
Neue Therapien: GLP1 und GIP/GLP-1 Rezeptoragonisten
«Herausforderungen der heutigen Gesellschaft sind Klimawandel, Künstliche Intelligenz und Langlebigkeit», so Prof. John Deanfield, London.
Weltweit ist das Leben länger aber nicht gesünder geworden. Die durchschnittliche globale Lebenserwartung hat massive Verbesserungen erfahren. Die mittlere Lebenserwartung lag 1960 bei 54 Jahren. 2019 betrug sie 73 Jahre, was einer Zunahme um 19 Jahre entspricht, so der Referent. 1922 hatte ein 20jähriger nur eine 20%ige Chance 80 Jahre alt zu werden. Ein heute geborenes Kind hat dagegen eine mehr als 50%ige Chance bis 95 Jahre alt zu werden. Das Alter sollte als biologischer, und nicht bloss als ein chronologischer Prozess angeschaut werden.
Fettleibigkeit – von der Epidemie zur Pandemie
Von 1990 bis 2022 hat sich die Fettleibigkeit bei Erwachsenen verdoppelt und bei Jungen in allen Regionen vervierfacht. Dies hat Auswirkungen auch auf die Lebenserwartung. Mit einem normalen BMI habe 80% die Chance ein Alter von 70 Jahren zu erreiche, bei einem BMI von 35-40kg/m2 60<% und bei einem BMI von 40-50kg/m2 nur 50%. Dies hat auch negative ökonomische Konsequenzen.
Neue Behandlungen für Fettleibigkeit
GLP-1RAs: Erstmalige potenzielle Lösung, um zuverlässig signifikanten, nachhaltigen Gewichtsverlust sicher mit Medikamenten zu produzieren.
Glykämische Kontrolle des T2DM, Management der Fettleibigkeit, kardiovaskuläre Krankheits-Modifizierung, plus andere Krankheiten?
Der Referent verwies auf die EMPA-REG Studie mit Empagliflozin die eine relative Risikosenkung des Risikos für Hospitalisierung wegen Herzinsuffizienz von 35% ergab und die SUSTAIN 6 Studie mit Semaglutid, die eine relative Risikosenkung für MACE von 26% zeigte. Die SELECT Studie, in welcher Patienten mit Herzkrankheit aber ohne Diabetes, die übergewichtig oder fettleibig waren, Semaglutid (2.4mg sc/Woche mit Placebo verglichen wurde, ergab eine Hazard Ratio von 0.8 für kardiovaskulären Tod, von 0.80 (p<0.001 für Überlegenheit) für ein kardiovaskuläres Komposit und 0.81 für Gesamtmortalität. Zwischen BMI und Herzinsuffizienz gibt es eine starke Assoziation bereits ab BMI 30kg/m2, zwischen BMI und KHK ab BMI 45kg/m2, aber keine Assoziation zwischen BMI und Schlaganfall, wie aus der ARIC-Studie hervorgeht.
Wie verursachen GLP-1RAs Körpergewichtsverlust?
GLP-1-Rezeptor-Agonisten fördern Glucose-abhängig die Insulinsekretion aus den Betazellen des Pankreas. Sie senken die Glucagonsekretion aus den Alphazellen und führen dadurch zu einer verminderten Glucose-Abgabe durch die Leber (Senkung der Gluconeogenese). Sie erhöhen die Insulinsensitivität und verlangsamen die Magenentleerung und reduzieren damit die Geschwindigkeit, mit der Glucose in den Blutkreislauf gelangt. Sie erhöhen die Sättigung (zentral), senken das Hungergefühl und tragen damit zu einer Gewichtsabnahme bei.
Neue Ansätze gegen Übergewicht/ Fettleibigkeit
Bimagrumab ist ein humaner monoklonaler Antikörper, der den Activin-Typ II-Rezeptor bindet und inhibiert. In einer randomisierten Phase 2 Studie bewirkte Bimagrumab eine signifikante Abnahme der Fettmasse, eine Zunahme der fettfreien Köpermasse, und metabolische Verbesserungen bei Patienten mit Übergewicht oder Adipositas und T2DM.
Fazit
Fettleibigkeit verändert das Krankheitsbild der kardio-renalen-metabolischen Erkrankungen in der Bevölkerung
GLP1-Ras und Kombinationen ermöglichen eine signifikante und nachhaltige Gewichtsabnahme, die sich auf mehrere Alterskrankheiten wie T2DM, CKD und CVD positiv auswirken kann.
Die Regierungen engagieren sich, weil Prävention eine Chance zur Schaffung von Wohlstand ist und nicht einfach nur eine Ausgabe für das Gesundheitsbudget.
Die Öffentlichkeit ist begeistert von der Fähigkeit der GLP-1 Ras eine signifikante Gewichtsabnahme zu erreichen., aber die Medikamente können auch die Ergebnisse bei verschiedenen Alterskrankheiten verbessern und das Verhalten ändern. Dies schafft eine neue Möglichkeit zum Nutzen der Patienten und der Gesundheit der Bevölkerung ausserhalb des traditionellen Gesundheitssystems.
riesen@medinfo-verlag.ch