Medizin Forum

Hoffnung für alle Verlaufsformen

Aktuelle Therapien der Multiplen Sklerose

Eine neue, orale Therapie – Cladribin – zur Behandlung der schubförmigen multiplen Sklerose hat 2019 die Schweiz erreicht. Für Patienten mit primär progredienter MS besteht seit 2018 eine offizielle Behandlungsoption. Für Patienten mit sekundär progredienter MS steht möglicherweise bald eine Behandlung zur Verfügung.



Die Multiple Sklerose (MS) ist die häufigste neurologische Erkrankung, die bei jungen Erwachsenen zu einer bleibenden Behinderung und zu einer vorzeitigen Berentung führt. Es handelt sich um eine chronisch-entzündliche Erkrankung des Zentralnervensystems, von der drei bis vier Mal mehr Frauen als Männer betroffen sind. Bei den meisten Patienten manifestiert sich die Erkrankung mit Schüben, der schubförmig verlaufenden MS (RRMS) um das 30. Lebensjahr herum. Dabei findet ausserhalb von Schüben in der Regel keine kontinuierliche klinische Verschlechterung im Sinne einer Progression statt. Unbehandelt geht die Erkrankung in der Hälfte der Fälle innert 15 bis 20 Jahren nach Krankheitsbeginn in die sekundär progrediente Verlaufsform (SPMS) über, in welcher die neurologischen Defizite schleichend zunehmen, mit oder ohne zusätzlich überlagernde Schübe (1, 2). In etwa 10% der Fälle besteht eine von Beginn an progredient verlaufende, primär progrediente Verlaufsform (PPMS).
Die Ursache der MS ist nach wie vor unbekannt und die Krankheit ist nicht heilbar. Mit der Zulassung der Beta-Interferone vor etwas mehr als 20 Jahren war es zum ersten Mal möglich, Einfluss auf den Krankheitsverlauf der schubförmig verlaufenden MS zu nehmen, wenngleich nicht in jedem Fall. In den letzten Jahren haben sich die Therapiemöglichkeiten stetig erweitert und verbessert. Zahlreiche neue Wirkstoffe haben eine Zulassung erhalten. Diese neuen Therapien werden in Form von Injektionen, in Tabletten-/ Kapselform oder als Infusionen verabreicht und haben zum Teil ganz verschiedene Wirkmechanismen. Mittlerweile sind in der Schweiz 14 Medikamente zur Behandlung schubförmiger Formen der MS (RMS) zugelassen. Diese Vielfalt ermöglicht eine zunehmend individuelle und Krankheitsstadien gerechte Behandlung der Erkrankung, bringt aber auch eine zunehmend Komplexität in Bezug auf Wirkmechanismus, Wechselwirkungen und unerwünschte Arzneimittelwirkungen mit sich. Durch die Verfügbarkeit hochwirksamer Arzneimittel haben sich auch die Therapieziele verändert. Angestrebt wird eine möglichst vollständige Krankheitskontrolle, definiert als «Freiheit von klinisch-neurologischer und in der MRT messbarer Krankheitsaktivität» (NEDA (no evidence of disease activity)).
Im Folgenden sollen eine neue Therapieoption für die RMS, die dieses Jahr zugelassen wurde, sowie Behandlungsoptionen bei den progredient verlaufenden Formen der Erkrankung vorgestellt werden.

Cladribin (Mavenclad®)

In Europa ist Cladribin (Mavenclad®) seit Sommer 2017 für die Behandlung der hochaktiven, schubförmigen MS zugelassen. Hochaktive MS wurde seitens der EMA definiert als ein Krankheitsschub im vorangehenden Jahr und im MRI mindestens einer Kontrastmittel aufnehmenden Läsion, alternativ 9 oder mehr T2-Läsionen während der Behandlung mit anderen Immuntherapien oder mindestens zwei Krankheitsschübe mit oder ohne Behandlung während des letzten Jahres.
In der Schweiz erfolgte die Zulassung durch die Swissmedic Ende März 2019, die Kassenzulassung steht noch aus. Ebenfalls noch nicht bekannt ist, in wie fern die Indikation einer Limitatio unterliegen wird.
Cladribin ist ein Nukleosidanalogon, welches nach Aufnahme in die Zelle (bevorzugt in Lymphozyten) durch Phosphorylierung in die aktive Substanz Cladribin-Triphosphat überführt wird und zu einer vorübergehenden Depletion der T- und B-Lymphozyten führt. Dieser Ansatz der «selektiven Immunrekonstitutionstherapie (SIRT)» ohne dauerhafte Immunsuppression hat einen patientenfreudlichen Einnahmemodus. Cladribin wird als Tablette in 2 Behandlungswochen in einem Abstand von 12 Monaten an 4-5 Tagen (abhängig vom Körpergewicht) eingenommen – die kumulative Dosis beträgt 3,5 mg/kg Körpergewicht. Ein weiterer Zyklus ist danach nicht vorgesehen und empfohlen.
Die Wirkung von Cladribin auf die Schubrate und Behinderungsprogression wurde in der placebokontrollierten Zulassungsstudie (CLARITY) geprüft und 2010 veröffentlicht (3). Nach zwei Jahren ergab sich eine relative Reduktion der Schubrate von fast 58% im Vergleich zu Placebo. In der Extensionstudie wurden Patienten aus der CLARITY-Studie erneut randomisiert. Bei Patienten, die in der Hauptstudie Placebo erhalten hatten und nun das Verum erhielten, zeigte sich eine deutliche Reduktion der aktiven MS Läsionen im MRT um 90%. Bei 75% der Patienten, die nach zweijähriger Verum-Therapie jetzt Placebo erhielten, traten in der Extensionsphase keine neuen Läsionen auf (4). Insbesondere die MRT Daten bestätigen den nachhaltigen Effekt von Cladribin, der vermutlich sogar über die zweijährige Pause hinausgehen dürfte. Aufgrund von initialen Sicherheitsbedenken wurde die Substanz damals nicht zugelassen und jetzt nach Sammlung von Langzeitsicherheitsdaten erneut zur Zulassung vorgelegt, die letztlich auch erfolgt ist.

Behandlungsoptionen der progressiven MS Formen

Für Patienten mit primär-progredienter MS (PPMS) ist bislang erst ein Medikament zur Behandlung zugelassen. Es handelt sich hierbei um den gegen CD20 gerichteten monoklonalen Antikörper Ocrelizumab (Ocrevus®). Grundlage der Zulassung waren die Ergebnisse der ORATORIO-Studie (5). Der primäre Endpunkt der Studie war die Dauer bis zur über 12 Wochen anhaltenden Behinderungsprogression (= «confirmed disability progression», CDP) gemessen mit der Behinderungsskala Expanded Disability Status Scale (EDSS). In der Behandlungsgruppe konnte die CDP im Vergleich zu Placebo um 24% signifikant hinausgezögert werden. Die Progression wird in den meisten Fällen jedoch lediglich verzögert und nicht gestoppt. Diese erstmalige Möglichkeit der Beeinflussung des Krankheitsverlaufes ist jedoch ein erster wichtiger Schritt und gibt neue Hoffnung für die Patienten mit bisher unbehandelbarer Verlaufsform der Erkrankung. Die Indikation zur Behandlung enthält in der Schweiz, anders als in der EU, keine explizite Limitatio, also keine Einschränkungen in Bezug auf Alter, Krankheitsdauer, Behinderungsgrad und Nachweis einer etwaigen Krankheitsaktivität (klinisch oder kernspintomographisch). Der Nutzen der Therapie dürfte jedoch insbesondere bei jüngeren, erst wenig behinderten und klar progredienten/aktiven Patienten gegeben sein.
In Europa und der Schweiz ist für die sekundär progrediente Multiple Sklerose (SPMS) noch kein Medikament zugelassen, sofern der Krankeitsverlauf nicht noch durch überlagerte Schübe geprägt ist. Die US-Arzneimittelbehörde FDA hat aber Ende März 2019 dem Pharmaunternehmen Novartis die Zulassung für Siponimod (Mayzent®) erteilt, welches in der zweijährigen Phase III EXPAND Studie (6) für die SPMS getestet wurde. Primärer Endpunkt der Studie war die Zeit bis zum dreimonatigen Fortschreiten der Behinderung, gemessen wiederum am EDSS. Siponimod reduzierte gegenüber Placebo das Risiko einer nach drei Monaten bestätigten Behinderungsprogression um statistisch signifikante 21 Prozent. In der Subgruppe der Patienten mit nichtaktivem SPMS waren die Ergebnisse statistisch nicht signifikant. Demgegenüber erhielt das Medikament nun eine erstaunlich weitreichende Indikation, nämlich für die schubförmigen Verlaufsformen, die SPMS mit aktivem Verlauf, die schubförmig remittierende Multiple Sklerose (RRMS) und das klinisch isolierte Syndrom (CIS), die Frühform der MS. In Europa und in der Schweiz ist Siponimod noch im Zulassungsverfahren.
Der Wirkstoff Siponimod ist eine Weiterentwicklung von Fingolimod (Gilenya®, ebenfalls Novartis), ein sogenannter Sphingosin-Phosphat-Rezeptormodulator. Gilenya ist 2011 zur Therapie der RRMS in der Schweiz zugelassen worden. Siponimod ist ebenfalls ein oral einzunehmender, aber selektiver Sphingosin-1-Phosphat(S1P)-Rezeptormodulator, der sich unter anderem durch günstigere pharmakokinetische Eigenschaften und damit auch ein günstigeres Nebenwirkungsprofil auszeichnet. Durch die Wirkung am S1P1-Rezeptor auf Lymphozyten verhindert Siponimod den Egress der Lymphoyzten aus dem lymphatischen Gewebe, wodurch eine relative Lymphopenie erreicht wird. Da die Substanz die Blut-Hirn-Schranke überwinden kann, werden auch durch den S1P5 Rezeptor Effekte direkt im ZNS vermutet.
Eine Herausforderung dürfte insbesondere bei den progredienten Patienten die Objektivierung der Krankheitsprogression unter der Therapie sein. Wir empfehlen, hierzu systematisch ein Assessment der Gehfähigkeit, der motorischen und koordinativen Funktion der oberen Extremität sowie Kongnitionstests unter der laufenden Behandlung einzusetzen.

Ausblick

Die MS lässt sich heute individueller und effektiver behandeln denn je. Dennoch gibt es noch unerfüllte Bedürfnisse, wie zum Beispiel Medikamente, welche die Regeneration geschädigter Nervenfasern fördern oder auch gut validierte, kommerzielle Biomarker, welche das individuelle Ansprechen auf die Therapie vorhersagen können oder prognostische Aussagen erlauben.

Dipl. ÄrztinStefanie Müller

Klinik für Neurologie Kantonsspital St. Gallen
Rorschacherstrasse 95
9007 St. Gallen

stefanie.mueller@kssg.ch

Dr. med.Jochen Vehoff

Klinik für Neurologie Kantonsspital St. Gallen
Rorschacherstrasse 95
9007 St. Gallen

SM erhielt Honorare für Vorträge und Beratungstätigkeit von Almirall, Bayer, Biogen, Celgene, Genzyme, Merck, Novartis, Roche, and Teva.
JV erhielt Honorare für Vorträge und Beratungstätigkeit von Almirall, Bayer, Biogen, Genzyme, Merck, Novartis, Roche, and Teva.

  • Von der Multiplen Sklerose als häufigster neurologischer Erkrankung mit bleibender Behinderung sind drei bis vier Mal mehr Frauen betroffen als Männer
  • Für die Behandlung hoch-aktiv verlaufender Formen von RRMS wurde neu auch in der Schweiz Cladribin (Mavenclad®) als Therapie zugelassen.
  • Für die 10% der Fälle, die primär an einer progredienten Verlaufs-form leiden (PPMS), ist der monoklonale Antikörper gegen CD20, Ocrelizumab in der Schweiz ohne Limitation zugelassen
  • Für die Behandlung der sekundär progredienten Multiplen Sklerose (SPMS) ohne Hinweise für Krankheitsaktivität in Form von Schüben oder im MRI sind in Europa und der Schweiz noch keine Wirkstoffe zugelassen. Die FDA hat soeben Siponimod, eine Weiterentwicklung von Fingolimod, das den Egress von Lymphozyten verhindert, für diese
    Indikation zugelassen.

1. Tremlett H, Yinshan Z, Devonshire V. Natural history of secondary-progressive multiple sclerosis. Mult Scler 2008; 14: 314–24.
2. Scalfari A, Neuhaus A, Daumer M, Muraro PA, Ebers GC. Onset of secondary progressive phase and long-term evolution of multiple sclerosis. J Neurol Neurosurg Psychiatry 2014; 85: 67–75.
3. Giovannoni G, Comi G, CookS, etal. A placebo-controlled trial of oral cladribine for relapsing multiple sclerosis. N. Engl. J. Med. 362(5), 416–426 (2010).
4. Giovannoni G, Soelberg Sorensen P, Cook S, Rammohan K, Rieckmann P, Comi G, Dangond F, Adeniji AK, Vermersch P. Safety and efficacy of cladribine tablets in patients with relapsing-remitting multiple sclerosis: Results from the randomized extension trial of the CLARITY study. Mult Scler. 2018 Oct;24(12):1594-1604. doi: 10.1177/1352458517727603
5. Montalban X, Hauser SL, Kappos L et al.: Ocrelizumab versus Placebo in Primary Progressive Multiple Sclerosis. N Engl J Med 2017; 376: 209–220
6. Kappos L, Bar-Or A, Cree BA, Fox RJ, Giovannoni G, Gold R, et al. Siponimod versus placebo in secondary progressive multiple sclerosis (EXPAND): A double-blind, randomised, phase 3 study. Lancet. 2018;391:1263–73