- Angsterkrankungen – was ist neu?
Ein Fokus des diesjährigen Swiss Forum for Mood and Anxiety Disorders der Schweizerischen Gesellschaft für Angst und Depression war die erstmalige Präsentation des Updates der Schweizer Behandlungsempfehlungen Angsterkrankungen und deren Anwendung in der klinischen Praxis. Diese von der SGAD in Zusammenarbeit mit der SGPP und der SGBP erarbeiteten Behandlungsempfehlungen werden anfangs 2022 veröffentlicht.
Die ersten Schweizer Behandlungsempfehlungen zu Angsterkrankungen wurden 2011 veröffentlicht: «Zeit für eine Revision!», startet Prof. Dr. med. Erich Seifritz, Zürich, Präsident der SGAD, sein Referat anlässlich des 12. SFMAD vom 7. Oktober 2021. Die gegenwärtige Überarbeitung, so Prof. Seifritz, wird beispielsweise die veränderte Einteilung der verschiedenen Angsterkrankungen aufzeigen. «Insgesamt müssen wir lernen, Angsterkrankungen mit Blick auf DSM 5 und ICD 11 neu zu kodieren», sagt Seifritz. Aktuell erfolgt eine Differenzierung basierend auf Diagnose, Schweregrad der Erkrankung und Alter des Patienten bzw. der Patientin, allerdings wird das Geschlecht nicht berücksichtigt, obwohl es deutliche geschlechtsspezifische Unterschiede gibt.
Auf die Diagnose der verschiedenen Angststörungen geht Dr. med. Michael Colla, Zürich, in seinem Referat zur Implementierung der Behandlungsempfehlungen näher ein und betont: «Bevor wir eine psychiatrische Diagnose stellen, müssen wir u.a. Lungen-, neurologische, endokrine und Herz- und Kreislauferkrankungen als Auslöser ausschliessen. Besonders endokrine Störungen werden im Praxisalltag oft übersehen».
Ist eine Angsterkrankung diagnostiziert, stellen sich psychotherapeutische Massnahmen zu den primären Interventionsformen, dazu gehören psychosoziale Unterstützungsmassnahmen, psychoedukative Aspekte und schliesslich Psychotherapie im engeren Sinne. Von der SGPP anerkannte Psychotherapien sind die psychoanalytisch orientierte, die verhaltenstherapeutische und die systemische Therapie. «Es gibt jedoch keine randomisierten Studien, die verschiedene Formen der Psychotherapie bei Angsterkrankungen miteinander vergleichen», so Prof. Seifritz. In randomisierten Studien zu einzelnen Psychotherapieformen zeigte einzig die kognitive Verhaltenstherapie Wirksamkeit bei Angsterkrankungen. Bemerkenswerterweise zeigen Studien eine sehr hohe Wirksamkeit von digitalen Psychotherapieverfahren auf, und Metaanalysen konnten bisher keine Unterschiede in der Effektivität zwischen Face-to-Face und digitalen Psychotherapien aufzeigen. Gemäss diesen Studien bestehen besonders wirksame Therapieformen aus einer Kombination zwischen Präsenz- und digitalen Behandlungen (sogenannte «blended» Verfahren). Auch müssen die Effektivitätsvergleiche zwischen Psychotherapie und Pharmakotherapie mit Vorsicht interpretiert werden, da Psychotherapien nicht doppelblind gegen Placebo verglichen werden können. Die meisten Psychotherapiestudien vergleichen die Behandlung mit Wartelisten, welche einen klaren Nocebo-Effekt aufweisen.
Bei der Psychopharmakotherapie haben Substanzen mit der besten Evidenzlage den grössten Einfluss auf die Behandlungsempfehlungen. So sind selektive Serotoninaufnahmehemmer (SSRI) heute oft die medikamentöse Therapie der Wahl. «Allerdings kann am Anfang der Behandlung zunächst eine Verschlechterung der Symptomatik auftreten – die aktivierende Wirkung kann zu körperlicher Unruhe («jitteriness») führen, bevor sich ein Gleichgewicht einstellt und die Angst zurückgeht», so Dr. Colla. Zur Vermeidung von Schlafstörungen unter SSRI empfiehlt er die morgendliche Einnahme. Zudem können SSRI zu Blutungsneigung führen und sind häufig mit sexuellen Funktionsstörungen assoziiert. Auch auf die Besonderheiten der anderen zur Verfügung stehenden Psychopharmaka geht Dr. Colla ein. So kann Venlafaxin sein volles Wirksamkeitspotential erst ab einer Dosierung von 150 mg entfalten und Trazodon in seltenen Fällen Priapismus auslösen. Im Hinblick auf den Einsatz von Antipsychotika warnt Dr. Colla: «Bei atypischen Substanzen ist das metabolische Risiko zu berücksichtigen!» Zudem stellt Dr. Colla zwei Neuerungen in den Behandlungsempfehlungen vor: So kann das Antikonvulsivum Pregabalin, welches spannungsabhängige Calciumkanäle bindet, nun bei der generalisierten Angststörung eingesetzt werden. «Pregabalin wirkt hervorragend gegen Angst und Anspannung, allerdings ist das Abhängigkeitsrisiko wahrscheinlich höher als initial gedacht», resümiert er. Eine weitere Neuerung ist das Phytotherapeutikum Silexan, welches auf Lavendelölextrakt basiert und bei der Indikation «Ängstlichkeit und Unruhe» eingesetzt werden kann. «Silexan hat kaum Nebenwirkungen und ist im Gegensatz zu anderen Phytopharmaka interaktionsarm», so Dr. Colla. Es ist auch das einzige Phytotherapeutikum, welches in randomisierten Studien und Metaanalysen auf die Wirkung bei Angststörungen getestet wurde.
Die intravenöse Infusion von Ketamin, welches bei therapieresistenten Depressionen zugelassen ist, lässt gegen soziale Phobie jedoch noch keine abschliessende Beurteilung zu. Das Antidepressivum Agomelatin zeigte bei der Behandlung von Patienten mit generalisierter Angststörung eine positive Wirkung, ist allerdings in dieser Indikation nicht zugelassen. «Alles in allem haben wir gegenwärtig ein sehr vernünftiges Instrumentarium», fasst Dr. Colla zusammen.
Prof. Seifritz widmet sich des Weiteren den Besonderheiten spezifischer Patientenpopulationen, welche neu auch ausführlich in den Behandlungsempfehlungen beschrieben sind. Bei Kindern und Jugendlichen ist die sich im Laufe der Entwicklung verändernde Phänomenologie eine Herausforderung. So ist Trennungsangst im Kindesalter ein starker Risikofaktor für die Entwicklung von Panikstörungen und Betroffene werden häufig nicht adäquat behandelt. Bei älteren Patienten ist es besonders wichtig, physiologische, metabolische und kognitive Veränderungen zu berücksichtigen. «Diese Patientengruppe erfordert eine stärkere somatische Kontrolle der medikamentösen Therapie», betont Seifritz. Auch Schwangerschaft und Stillzeit stellen besondere Anforderungen an die medikamentöse Behandlung und haben in den Empfehlungen ihren Platz.
Abschliessend betont Prof. Seifritz abermals, wie wichtig eine sinnvolle Implementierung von Behandlungsempfehlungen ist. Er zitiert hierbei den kanadischen Psychiater Dr. Roger S. McIntyre von der University of Toronto: «We do not need more guidelines, we need implementation».
Die evidenzbasierten Behandlungsempfehlungen Angst stellen eine De-novo-Ausarbeitung unter Berücksichtigung der Schweizer Verhältnisse dar – mit Einbezug der sehr aktuellen deutschen, wie auch der österreichischen Leitlinien. Eine Übersicht wird anfangs 2022 veröffentlicht. Die ausführliche Version wird unter www.sgad.ch und www.psychiatrie.ch/sgpp einsehbar sein.
red.