- Behandlung und Betreuung der fortgeschrittenen Demenz
Der Umgang mit Menschen mit Demenz insbesondere im fortgeschrittenen Stadium wirft neben medizinisch-pflegerischen fast immer auch ethische Fragen auf. An welchen Werten soll mit zunehmender Unterstützungsbedürftigkeit eines demenz-erkrankten Menschen die Betreuung ausgerichtet werden? Wann und in welcher Form kann Zwang gerechtfertigt sein, wenn die kranke Person sich oder andere durch ihr Verhalten gefährdet? Welche Formen von Sterbehilfe sind bei Demenz möglich resp. gesetzlich erlaubt? Auf diese Fragen wird im vorliegenden Artikel aus Sicht der ärztlichen Versorgung eingegangen.
Selbstbestimmung und soziale Teilhabe
Selbstbestimmung ist auch für Menschen mit Demenz zentral (1). Weil diese aber in ihrer Fähigkeit, Selbstbestimmung auszuüben, eingeschränkt sind, müssen sie darin nach individuellem Bedarf unterstützt werden (sog. assistierte Autonomie). Zumindest ebenso wichtig wie Selbstbestimmung ist die soziale Teilhabe. Menschen sind soziale Wesen, und soziale Interaktionen sind für deren Entfaltung und Wohlbefinden essenziell – Menschen mit Demenz unterscheiden sich in diesem Bedürfnis in keiner Weise von kognitiv Gesunden. Durch die Erkrankung sind aber menschliche Interaktionen erschwert oder können wegen Überforderung und Missverständnissen ganz scheitern. Betreuungspersonen und Angehörigen sollen darum die Partizipation von Demenzpatienten am sozialen, gesellschaftlichen und kulturellen Leben aktiv unterstützen.
Anders als bei kognitiv Gesunden, die sich ihr Umfeld selber gestalten können, ist also die Lebensqualität von Menschen mit Demenz ganz entscheidend von der Unterstützung und Betreuung abhängig, die ihnen zuteil wird (2).
Kommunikation mit Menschen mit Demenz
Im verbalen Austausch mit Menschen mit Demenz bewähren sich kurze, klare Sätze mit nicht mehr als einer Botschaft pro Satz (möglichst wenig Nebensätze). Das im klinischen Alltag meist (zu) schnelle Redetempo soll gedrosselt werden. Auch Menschen mit Demenz haben ihren Stolz – der Fokus des Gespräches soll deshalb nicht zu stark auf die potentiellen Defizite gerichtet sein, sondern eher auf die noch vorhandenen Ressourcen.
Eine unter Ärzten viel zu wenig bekannte, sehr hilfreiche Technik in der Kommunikation mit Menschen mit Demenz ist die sog. Validation. Diese wurde von der US-amerikanischen Broadway-Schauspielerin, Gerontologin und Demenzspezialistin Naomi Feil entwickelt (3). Die validierende Gesprächsführung verwendet eine akzeptierende, nicht korrigierende Sprache gegenüber der demenzbetroffenen Person. Falsche Realitätsbezüge werden also ausdrücklich nicht korrigiert. Stattdessen wird im Gespräch eine Ebene angesteuert, in der ein gemeinsames Verständnis möglich ist. Eine validierende Antwort auf die Aussage einer demenzkranken Person, dass sie nach Hause gehen wolle, würde also nicht lauten: «Aber Sie sind nun doch schon seit über einem Jahr im Pflegeheim!». Vielmehr könnte sie beispielsweise lauten: «Nicht wahr, Sie wohnen doch gleich da hinten um die Ecke – ich werde Sie grad zu Ihrem Zimmer begleiten». Es ist immer wieder erstaunlich, wie erfahrene Betreuungspersonen mit dieser Technik auch in schwierigen Situationen eine Deeskalation zu erreichen vermögen. Es kann auch sehr hilfreich sein, pflegenden Angehörigen in einfachen Worten die Grundzüge dieser Technik zu vermitteln.
Ist die Demenzerkrankung stark fortgeschritten, ist oft fast kein sprachlicher Austausch mehr möglich und die Kommunikation erfolgt nun fast ausschliesslich nonverbal. Menschen mit fortgeschrittener Demenz können selbst bei stark eingeschränkter Kognition nonverbale Äusserungen vonseiten ihrer Mitmenschen erstaunlich lange wahrnehmen (z.B. Lächeln, ruhiges Auftreten, Gesten, taktvolle Berührungen). Ihre eigene Mimik und Gestik ist aber oft schwächer, sodass die Gefahr besteht, dass die Betreuenden diese übersehen oder fehlinterpretieren.
Freiheitseinschränkende Massnahmen (FeM)
Menschen mit Demenz zeigen nicht selten Verhaltensweisen, mit denen sie sich selber oder gelegentlich auch andere Personen gefährden. Oftmals stehen diese Verhaltensweisen im Zusammenhang mit nicht-kognitiven Symptomen der Demenz, also den sog. behavioural and psychological symptoms of dementia (BPSD), zu Deutsch Störungen der Emotionen und des Verhaltens (4). Motorische Unruhe im Zusammenhang mit einer verminderten posturalen Kontrolle kann zu einer Sturzgefährdung führen, Agitation und Enthemmung zu Aggression und Zusammenstössen mit anderen Menschen, etc. In diesem Zusammenhang stellt sich dann nicht selten die Frage des Einsatzes von sog. freiheitseinschränkenden Massnahmen (FeM). Hierbei wird unterschieden zwischen direkten Fixierungen und räumlicher Fixierung, im weiteren Sinne werden auch alle Formen von Personenüberwachungssystemen zu den FeM gerechnet (Tab. 1).
Freiheitseinschränkende Massnahmen sind zum einen ein schwerwiegender Eingriff in die persönliche Freiheit. Zum anderen sind sie keineswegs ungefährlich. Schädliche Folgen von Fixierungen sind häufig und können im Extremfall bis zum Todeseintritt führen (z.B. durch Ersticken bei Einklemmung zwischen Bettgitter und Matratze). Auch sind sie keineswegs immer zielführend. So kommt es beispielsweise beim Einsatz von FeM mit dem Ziel einer Sturzvermeidung oft dennoch zu Stürzen, welche dann in ihren Folgen oft schwerwiegender sind (Fehlen von Abwehrbewegungen, komplizierte Stürze, dadurch erhöhtes Auftreten von sturzbedingten Verletzungen). Aus all diesen Gründen ist man heute mit dem Einsatz von FeM möglichst zurückhaltend (5), und wird doch ein solcher erwogen, wird zu Recht in aller Regel eine ärztliche Verordnung verlangt.
Da für die Störungen, welche die Frage nach dem Einsatz von FeM aufwerfen, nicht selten ein Delir mitverantwortlich ist, sollte aus ärztlicher Sicht als erster Schritt nach möglichen Delirursachen gefahndet und solche ggf. behandelt werden (z. B. Behandlung eines Harnwegsinfekts). Liegt keine behandelbare Ursache vor, ist zu fragen, ob statt der erwogenen FeM nicht eine weniger einschränkende Massnahme eingesetzt werden könnte, wie z. B. Halb-Bettgitter statt durchgehender Bettgitter, Niedrigbetten oder Bodenpflege bei Sturzneigung aus dem Bett, Anti-Rutsch-Socken und Hüftprotektoren («Sturzhosen») bei Sturzneigung etc. Zu erwägen ist auch die zusätzliche Beaufsichtigung durch eine Pflegefachperson oder freiwillige HelferInnen. Bei Sturzneigung hat die Etablierung eines Kraft- und Balancetrainings eine starke protektive Wirkung. Nicht zuletzt muss auch abgewogen werden, ob nicht die Inkaufnahme eines gewissen Risikos für den Patienten immer noch die akzeptablere Alternative ist als die freiheitseinschränkende Massnahme.
Erweist sich die FeM als unumgänglich, sollen die Art der getroffenen Massnahme, der Grund für die Massnahme sowie deren Ziel schriftlich protokolliert, in jedem Fall regelmässig auf ihre Berechtigung hin überprüft und so rasch als möglich wieder aufgehoben werden. Bezugspersonen resp. Vertretungspersonen müssen zeitgerecht informiert werden.
In diesem Zusammenhang muss auch darauf hingewiesen werden, dass schon die Einweisung in ein Pflegeheim per se oft nicht ganz freiwillig, sondern vor dem Hintergrund eines gewissen sozialen Drucks erfolgt. Anders als bei der Einweisung von Menschen mit einer akuten psychischen Störung in eine psychiatrische Klinik werden in dieser Situation auch bei offensichtlicher Unfreiwilligkeit nur selten formale fürsorgerische Unterbringungen ausgesprochen. Wenn aber Hinweise bestehen, dass die Angehörigen resp. die vertretungsberechtigte Person mit der Heimeinweisung nicht im besten Interesse des Patienten zu handeln scheint, sollte die KESB informiert werden. Der gleiche Schritt sollte auch erfolgen, wenn die adäquate Betreuung einer demenzkranken Person zu Hause offensichtlich nicht mehr möglich ist, sich die Angehörigen aber der Unterbringung in einem Pflegeheim entgegenstellen (2).
Sterbehilfe
Die Demenzerkrankung ist in der Bevölkerung mit erheblichen Ängsten verbunden: Angst vor Abhängigkeit, Angst vor einer Wesensveränderung, Angst, anderen zur Last zu fallen.
Entsprechend ist eine drohende Demenzerkrankung für viele Menschen ein wichtiges Motiv, in einer Patientenverfügung die Ablehnung von allfälligen lebensverlängernden Massnahmen (sog. passive Sterbehilfe) festzuhalten. Was diese Anweisung konkret bedeuten soll, muss allerdings in einer realen Entscheidungssituation meist nochmals diskutiert werden. Geht es hier eher um den Verzicht auf invasive Massnahmen oder auch schon um den Verzicht auf eine einfache Antibiotikatherapie z.B. bei einer Pneumonie? Wie weit umfasst die Aussage auch den Verzicht auf Diagnostik, z.B. bei einer Anämie? Am besten werden solche Fragen bereits vorausschauend in regelmässigen Standortgesprächen im Rahmen des Advance Care Planning thematisiert.
Neben der passiven Sterbehilfe wird in den letzten Jahren in der Schweiz zunehmend auch die Frage diskutiert, ob und unter welchen Umständen einem Ersuchen um Beihilfe zum Suizid auf Grund einer Demenzerkrankung stattgegeben werden kann (Tab. 2). Gesetzlich ist dies im Prinzip möglich, so lange die Urteilsfähigkeit erhalten ist, also in einem frühen oder allenfalls mittleren Demenzstadium. In aller Regel wird dazu ein fachärztliches Gutachten von einem Geriater, Neurologen oder Psychiater verlangt (6). Der Wunsch nach einer Beihilfe zum Suizid sollte von der betroffenen Person möglichst frühzeitig kommuniziert und regelmässig bekräftigt worden sein.
Standesethisch liegt hier aber ein Graubereich vor: Gemäss den neuen SAMW-Richtlinien «Sterben und Tod» von 2018 ist eine Beihilfe zum Suizid bei Demenz statthaft, sofern ein urteilsfähiger Patient ein «unerträgliches Leiden» an seiner Krankheit geltend machen kann und dies dem Arzt nachvollziehbar erscheint (7). Die Übernahme dieser Richtlinien in die ärztliche Standesordnung wurde von der FMH im Herbst 2018 allerdings genau wegen diesem Passus abgelehnt (8).
Klar ist, dass wenn mit fortschreitender Demenz die Urteilsfähigkeit für die Frage der Selbsttötung nicht mehr gegeben, auch rechtlich keine Suizidbeihilfe mehr möglich ist. Suizidbeihilfe kann auch nicht in einer Patientenverfügung für die Zukunft im Falle einer nicht mehr vorhandenen Urteilsfähigkeit vorausverfügt werden, vielmehr verlangt sie Urteils- und Handlungsfähigkeit im Hier und Jetzt.
Das gleiche – Erfordernis von Urteils- und Handlungsfähigkeit im Hier und Jetzt – gilt übrigens auch für das sog. Sterbefasten resp. den sog. freiwilligen Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit (FVNF). Es ist also nicht statthaft, in einer Patientenverfügung für den Fall einer fortgeschrittenen Demenz und nicht mehr vorhandenen Urteilsfähigkeit zu verlangen, dass einem ab einem gewissen Demenzstadium keine Nahrung und Flüssigkeit (per os!) mehr angeboten werden solle (2). Sollte allerdings dieses Angebot durch den fortgeschritten Demenzkranken im Hier und Jetzt abgelehnt werden, signalisiert z.B. durch Nicht-Öffnen des Mundes oder Wegdrehen des Kopfes, dann ist dies zu akzeptieren (vgl. dazu den Abschnitt Ernährung im Teil 1 dieses Artikels).
Klinik für Geriatrie
Universitäts Spital Zürich
Rämistrasse 100
8091 Zürich
georg.bosshard@usz.ch
Der Autor hat im Zusammenhang mit diesem Beitrag keine Interessenskonflikte deklariert.
- Ausübung der Selbstbestimmung und Teilhabe am sozialen Leben sind (auch) für Menschen mit Demenz von zentraler Bedeutung –
sie sollen darin nach individuellem Bedarf unterstützt werden. - In der Kommunikation mit Menschen mit Demenz bewährt sich eine akzeptierende, nicht korrigierende Sprache (sog. Validation).
- Freiheitseinschränkende Massnahmen bedeuten einen schweren Eingriff in die Persönlichkeit eines Menschen und sollen nur als
ultima ratio eingesetzt werden. - Solange die Urteilsfähigkeit erhalten ist, ist Beihilfe zum Suizid bei Menschen mit Demenz rechtlich gesehen möglich. Sie ist aber
standesethisch umstritten.
1. Deutscher Ethikrat (2012) Demenz und Selbstbestimmung – Stellungnahme.
http://www.ethikrat.org/dateien/pdf/stellungnahme-demenz-und-selbstbestimmung.pdf
2. Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften SAMW. Medizinethische Richtlinien zur Betreuung und Behandlung von Menschen mit Demenz (2017) https://www.samw.ch/de/Publikationen/Richtlinien.html
3. Feil, Naomi: Validation – Ein Weg zum Verständnis verwirrter alter Menschen. Reinhardt Verlag 2005.
4. Savaskan E et al (2014) Empfehlungen zur Diagnostik und Therapie der behavioralen und psychologischen Symptome der Demenz (BPSD). Praxis 103:135-148.
5. Koczy P et al (2011) Effectiveness of a multifactorial intervention to reduce physical restraints in nursing home residents. JAGS 59:333-339. Siehe auch www.redufix.de
6. Bosshard G (2012) Beihilfe zum Suizid – medizinische, rechtliche und ethische Aspekte. Schweizerische Rundschau für Medizin – PRAXIS 101:183-189.
7. Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften SAMW. Medizinethische Richtlinien zum Umgang mit Sterben und Tod (2018) https://www.samw.ch/de/Publikationen/Richtlinien.html
8. Scheidegger D (2018) Diskussion um die SAMW-Richtlinien Umgang mit Sterben und Tod. Schweiz Ärztezeitung 99:1613.
der informierte @rzt
- Vol. 9
- Ausgabe 3
- März 2019