- Behandlung und Betreuung von Patienten mit fortgeschrittener Demenz
Die Behandlung und Betreuung von demenzerkrankten Menschen ist eher ein Stiefkind der klinischen Medizin. Dies trotz der Tatsache, dass in der Schweiz rund 150 000 Menschen mit Demenz leben, und dass diese Zahl aufgrund der demografischen Entwicklung mit Sicherheit in den nächsten Jahrzehnten noch deutlich zunehmen wird. Ein Grund für das geringe klinische Interesse mag sein, dass immer noch manche Ärzte denken, bei einer Demenz könne man «ohnehin nichts machen». Diese Haltung ist aber aus zweierlei Gründen nicht angebracht. Zum einen stehen uns mit den Antidementiva Acetylcholinesterasehemmer und Memantin bereits heute Medikamente zur Verfügung, welche bei einzelnen Demenzformen oder in spezifischen Situationen sehr hilfreich sein können. Zum anderen kann eine professionelle Demenzbetreuung einen sehr grossen Unterschied in der Lebensqualität der betroffenen Patienten und ihrer Angehörigen machen. Mit diesem letzteren Thema beschäftigt sich dieser Artikel, wobei im vorliegenden Teil v.a. klinische Aspekte, in einem späteren zweiten Teil dann primär ethische Aspekte beleuchtet werden.
Anforderungen an ein «demenzfreundliches» Gesundheitswesen
Unser Gesundheitswesen ist nach wie vor stark auf die Betreuung von medizinischen Akutsituationen ausgerichtet und es wird davon ausgegangen, dass Patienten grundsätzlich urteilsfähig sind und selber entscheiden können. Es liegt auf der Hand, dass solche Strukturen für Demenzpatienten oftmals alles andere als ideal sind.
In ein Akutspital werden Menschen mit Demenz allerdings nur selten explizit wegen dieser Diagnose eingeliefert. Vielmehr erfolgen entsprechende Hospitalisationen beispielsweise wegen Stoffwechselentgleisungen (infolge falscher Medikamenteneinnahme), wegen Infektionen (aufgrund mangelnder Selbstpflege), wegen Dehydratation, Mangelernährung oder wegen Frakturen nach Stürzen. Während aber für die vordergründigen somatischen Probleme im Spital in der Regel rasch die nötigen Therapiemassnahmen eingeleitet werden, fehlt häufig ein adäquater Umgang mit der dahinter stehenden Demenzerkrankung. Oft wird diese gar nicht oder zu spät als solche erkannt. Notwendige Anpassungen in der Kommunikation und der Betreuung werden nicht vorgenommen, so dass sich nicht selten zur Demenz noch ein Delir entwickelt. In dieser Situation ist die Durchführung der geplanten Therapiemassnahmen erschwert, es kommt zu verlängerten Hospitalisationen, ungünstigen Verläufen oder raschen Rehospitalisationen.
Gefordert ist aber auch der ambulante Bereich. Besonders bedeutsam für die Behandlung und Betreuung von Menschen mit fortgeschrittener Demenz sind dabei die Pflegeheime, welche als eigentliche Palliativstationen von Menschen mit Demenz funktionieren. Um diese Aufgabe wahrnehmen zu können, benötigen Pflegeheime aber neben gut ausgebildetem Pflegepersonal auch die Einbindung eines geriatrisch erfahrenen Hausarztes oder eines eigenen Heimarztes (1). Sind diese strukturellen Voraussetzungen gegeben, dann sollte die rechtzeitige Diagnostik und Therapie verschiedener alltäglicher akuter internistischer Erkrankungen (z.B. Lungenentzündung, Harnwegsinfekte, Dehydratation, Erysipel) im Pflegeheim selber möglich sein, ebenso die Behandlung z.B. einer bestehenden chronischen Herz- oder Lungenkrankheit inklusive deren Exazerbationen. Dabei ist auch zu bedenken, dass Hospitalisierungen für Menschen mit fortgeschrittener Demenz oftmals noch belastender sind als für kognitiv Gesunde. Leider sieht die Realität oft anders aus – internationale Studien zeigen, dass zwischen 25% und 40% aller Hospitalisationen aus Pflegeheimen medizinisch unnötig, d.h. primär durch Unzulänglichkeiten des Versorgungssystems bedingt sind (2).
Anamnese und Befunderhebung bei Menschen
mit Demenz
Bei der Kontaktaufnahme mit bzw. der Anamnese und Befunderhebung von Menschen mit Demenz sollte das bei kognitiv intakten Patienten übliche Vorgehen angepasst werden. Von besonderer Bedeutung ist es, Menschen mit Demenz ohne Hektik und in einer ruhigen Atmosphäre begegnen zu können. Da die Betroffenen aufgrund ihrer kognitiven Defizite Situationen nicht richtig einschätzen können, besteht die Gefahr, sie zu erschrecken. So sollte beispielsweise ein Herantreten von hinten an die Patienten vermieden werden. Der Arzt soll sich zudem jedes Mal in seiner Funktion vorstellen.
Bei Patienten mit Demenz ist aufgrund der kognitiven Einschränkungen, zusätzlich aber auch wegen einer oft fehlenden Krankheitseinsicht (Anosognosie), die Anamnese nicht zielführend. Die Betroffenen können z.B. Schmerzen oder Atemnot nicht mehr auf sich selber beziehen, dadurch werden solche Symptome verneint, obwohl die Patienten darunter leiden (falsch negative Anamnese). Deshalb sollte vor dem Besuch beim Patienten eine Fremdanamnese bei einer Betreuungsperson, idealerweise einer erfahrenen Pflegefachperson eingeholt werden. Der Arzt lässt sich mit Vorteil von dieser Betreuungsperson zum Patienten begleiten. So kann auch das für die Durchführung einer körperlichen Untersuchung nötige Vertrauen geschaffen werden.
Ein allgemeines Bild über den Zustand des Patienten verschafft man sich am besten, indem man die Visite auf Schlüsselmomente wie die Mobilisation oder die Essenseinnahme terminiert. Gerade letztere bietet eine Fülle von Informationen über die posturale Kontrolle, die Kognition, die Schluckfähigkeit, manchmal sogar über den allgemeinen Lebenswillen, der bei fortgeschrittener Demenz oft eng mit dem Appetit vergesellschaftet ist.
Entscheidungsfindung
Medizinische Entscheidungen bei Menschen mit Demenz sind hoch individuell. Medizinische Guidelines sind meist wenig hilfreich, vielmehr müssen die zu wählenden Massnahmen der Diagnostik und Therapie an die jeweilige spezifische Situation angepasst werden. Meist steht bei der leichten und mittelschweren Demenz die möglichst lange Erhaltung der Funktionalität im Vordergrund. Mit weiter fortschreitendem Krankheitsverlauf wird neben dem Erhalt der Lebensqualität die Symptomlinderung immer wichtiger (3). Vor weitreichenden medizinischen Entscheidungen sollte bei fehlender Urteilsfähigkeit des Betroffenen niederschwellig mit der gesetzlichen Vertretungsperson Rücksprache genommen werden.
Bei Menschen in höherem Alter tritt eine Demenz oft zusammen mit anderen chronischen Krankheiten auf (sog. Multimorbidität). In dieser Situation ist der Einsatz der einzelnen Therapiemassnahmen und Medikamente sorgfältig abzuwägen, um eine Übermedikation mit sich potenzierenden Medikamenteninteraktionen und Nebenwirkungen (sog. Polypharmazie) zu vermeiden. Sehr oft sind Symptome wie z.B. Schläfrigkeit, Agitiertheit, Sturzneigung, Nausea, Obstipation oder Mundtrockenheit Nebenwirkungen von Medikamenten, welche sich durch Reduktion der Polypharmazie lindern lassen. Unbedingt vermieden werde sollten sog. Verordnungskaskaden (z.B.: Agitiertheit wegen SSRI → Therapie mit niedrigpotenten. Neuroleptikum → EPNW → Verschreibung von L-Dopa).
Generell gilt, dass unmittelbar symptomlindernde Medikamente (Psyche / Verhaltensstörungen, Schmerz, Atemnot) in der Palliativsituation einen höheren Stellenwert haben als Medikamente, deren Indikation primär in einer allgemeinen statistischen Prognoseverbesserung z.B. bezüglich Mortalität besteht, ohne aber unmittelbar funktionsverbessernd oder symptomlindernd zu wirken. So stellt zwar eine möglichst frühzeitige medikamentöse Einstellung der kardiovaskulären Risikofaktoren (arterielle Hypertonie, Diabetes mellitus, Dyslipidämie) eine hoch wirksame primäre Demenzprävention dar, deren Nutzen bei Gebrechlichkeit und fortgeschrittener Demenz aber sehr fraglich ist.
Klinischer Verlauf der fortgeschrittenen Demenz
Die Demenz ist eine neurodegenerative Krankheit, deren Verlauf ähnlich wie z.B. bei einer Parkinsonkrankheit oder einer Amyotrophen Lateralsklerose letztlich nicht aufzuhalten ist. Im Stadium einer fortgeschrittenen Demenz haben fast alle Betroffenen in irgendeiner Form Probleme mit der Ernährung und es kommt mit zunehmender Häufigkeit zu Infektionen (Lungenentzündungen, Harnwegsinfektionen). Die Komplikationen führen in absehbarer Zeit zum Tod. Deshalb sollte z.B. bei rezidivierenden Lungenentzündungen im Endstadium einer Demenz die Durchführung einer Antibiotikatherapie nicht die Regel sein (4). Die Antibiotikagabe ist für eine effektive Symptomlinderung (z.B. Therapie einer allfälligen Dyspnoe) unnötig und verlängert zudem nur bei einer Minderheit dieser Patienten das Leben.
Studien zeigen, dass ab dem Stadium, in dem nur noch eine minimale verbale Kommunikation möglich ist, und gleichzeitig eine vollständige Pflegebedürftigkeit besteht, ein Viertel der Patienten in den folgenden sechs Monaten und fast die Hälfte im folgenden Jahr versterben werden (Tab. 1) (5).
Nahrungsaufnahme bei fortgeschrittener Demenz
Bei Menschen mit fortgeschrittener Demenz sollte mindestens einmal monatlich eine Gewichtsbestimmung durchgeführt werden. Zeigt sich ein Abfall der Gewichtskurve, sollte als erster Schritt nach behandelbaren resp. korrigierbaren Ursachen einer Mangelernährung geforscht werden.
Die Untersuchung des Mund-Rachenraumes erlaubt es, einen Soor oder einen Zahnabszess auszuschliessen. Zeigt sich ein stark sanierungsbedürftiges oder kariöses Eigengebiss oder auch eine schlecht sitzende Prothese, ist der Patient einem Zahnarzt zuzuführen. Auf jeden Fall soll sich der Arzt auch persönlich ein Bild vom Essensvorgang bei dem betroffenen Patienten machen. Gelegentlich können dabei kognitiv bedingte Probleme der Nahrungsaufnahme festgestellt werden, indem Menschen mit Demenz die Speisen nicht mehr als solche erkennen, stattdessen auf der Serviette herumkauen oder die Nahrung im Mund hin und herschieben. Speichelseen im Mundvorhof oder Rachen sind Hinweis auf eine Schluckstörung, Husten oder Räuspern nach erfolgtem Schluckakt sind Hinweise auf eine Aspiration.
In manchen Fällen sind aber eingeschränkte Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahmen durch ein allgemeines Erlöschen der Lebenskräfte und des Lebenswillens im Rahmen der weit fortgeschrittenen Demenz bedingt. Oft verhalten sich solche Patienten beim Nahrungsangebot zunehmend unwillig und drehen den Kopf weg. Keinesfalls darf in solchen Situationen Druck oder Zwang ausgeübt werden z.B. durch Einführen des Löffels in den Mund gegen den Widerstand des Patienten. Nahrung und Flüssigkeit sollen aber immer wieder in unterschiedlicher Form und zu verschiedenen Tageszeiten angeboten werden.
Die Anlage einer PEG-Sonde bei einer fortgeschrittenen Demenz ist kontraindiziert. Diese kann die Nahrungsaufnahme in diesem Stadium nicht verbessern und führt zu keiner Verlängerung der Überlebenszeit. Dagegen sind die Nebenwirkungen (z.B. Aufstossen der zugeführten Nahrung, Gestörtsein durch die Sonde) erheblich. Sie können die Lebensqualität der Patienten schwer beeinträchtigen und führen zu einer erhöhten Deliranfälligkeit (Tab. 2).
Ärztlicher Direktor & Klinischer Professor für Geriatrie
Universitäre Altersmedizin FELIX PLATTER & Universität Basel
Burgfelderstrasse 101
4002 Basel
RetoW.Kressig@felixplatter.ch
Klinik für Geriatrie
Universitäts Spital Zürich
Rämistrasse 100
8091 Zürich
georg.bosshard@usz.ch
Der Autor hat im Zusammenhang mit diesem Beitrag keine Interessenkonflikte deklariert.
- Bei Menschen mit Demenz ist aufgrund der kognitiven Einschränkungen und wegen einer oft fehlenden Krankheitseinsicht die Anamnese nicht zielführend (falsch negative Anamnese). Deshalb sollte immer eine ergänzende Fremdanamnese bei einer Betreuungsperson, idealerweise einer erfahrenen Pflegefachperson, eingeholt werden.
- Medizinische Entscheidungen bei Demenzpatienten sind hoch individuell. Meist steht bei der leichten und mittelschweren Demenz die möglichst lange Erhaltung der Funktionalität im Vordergrund. Mit weiter fortschreitendem Krankheitsverlauf wird die Symptomlinderung immer wichtiger.
- Die fortgeschrittene Demenz führt fast immer zu Störungen der Ernährung und es kommt gehäuft zu rezidivierenden Infektionen, z.B. Pneumonien. Im letzteren Fall sollte eine Antibiotikatherapie nicht die Regel sein.
- Eine PEG-Sonde bei Demenz im Endstadium ist kontraindiziert: Sie wirkt nicht lebensverlängernd, führt zu keinem Benefit betreffend Lebensqualität oder Infektvermeidung, geht aber einher mit vermehrter Dekubitusneigung und vermehrter Deliranfälligkeit.
Literatur:
1. Van den Block L et al. Comparing palliative care in care homes across EUROPE (PACE): protocol of a cross-sectional study of deceased residents in 6 European countries. JAMDA 2016;17,566.e1-566.e7.
2. Young Y et al. Factors Associated with Potentially Preventable Hospitalization in Nursing Home Residents in New York State: A Survey of Directors of Nursing. J Am Geriatr Soc 2010;58:901–907.
3. Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften SAMW. Medizinethische Richtlinien zur Betreuung und Behandlung von Menschen mit Demenz (2017). https://www.samw.ch/de/Publikationen/Richtlinien.html
4. Van der Steen JT et al. White paper defining optimal palliative care in older people with dementia: a Delphi study and recommendations from the European Association for Palliative Care. Palliat Med. 2014; 28:197-209.
5. Mitchell SL et al. The clinical course of advanced dementia. N Engl J Med 2009; 361:1529-1538.
6. Finucance T.E., Christmas C., Travis K. Tube feeding in patients with advanced dementia: A review of the evidence. JAMA. 1999;282:1365–1370.
7. Sampson EL et al. Enteral tube feeding for older people with advanced dementia. Cochrane Database Syst Rev 2009;2:CD007209.
der informierte @rzt
- Vol. 9
- Ausgabe 1
- Januar 2019