- Bleiben auch nach 10 Runden im Schwung
Die Vereinigung Allgemeiner und Spezialisierter Internistinnen und Internisten Zürich, VZI, führt neben ihrem jährlichen ganztägigen Symposium im Januar praktisch alle zwei Jahre eine Nachlese zum Jahreskongress des American College of Physicians durch unter dem Motto «VZI Highlights from Philadelphia». In diesem Jahr organisiert von Frau Dr. med. Regula Capaul, Prof. Dr. med. Stephan Vavricka und Dr. med. Stefan Zinnenlauf. Im Zentrum standen die «Multiple small Feedings of the Mind»: Zu verschiedenen Fachgebieten wurden 3 klinisch aktuelle Fragen präsentiert, welche von entsprechenden Experten basierend auf den Antworten der amerikanischen Experten am Kongress und ergänzt durch die Schweizer Sicht der Dinge beantwortet werden. Im Folgenden wird je eine Frage mit Antworten resümiert, welche dem
Kardiologen, dem Hämatologen, dem Infektionsspezialisten und dem Neurologen gestellt wurde.
Kardiologie
Dr. med. Stefan Christen, Zürich, nahm Stellung zur Frage «Welche Rolle spielt die Blutdruckselbstmessung bzw. die 24h-BD-Messung?». Der Referent geht zunächst auf die Guidelines ein, die 2017 in Amerika und 2018 in Europa neu zusammengestellt wurden – während die offiziellen schweizerischen Guidelines noch von 2013 stammen. Die Amerikaner haben quasi über Nacht 30-40 Mio. neue Kranke geschaffen, indem sie das Stadium 1 einer arteriellen Hypertonie neu mit systolischen Drucken zwischen 130 und 139 mm Hg und diastolischen Werten von 80-89 mm Hg definiert haben. In Europa bleibt alles beim Alten, hier wird weiterhin ab einem Blutdruck von 140/90 mm Hg von einer Hypertonie gesprochen. Die Praxisblutdruckmessung ist fehleranfällig und damit problematisch. Dies zeigt sich unter anderem an der Tatsache, dass mit einer 24-Stunden-Blutdruckmessung eine Praxishypertonie nur in 35-93% der Fälle bestätigt wird. Auch eine Selbstmessung bestätigt die Praxishypertonie lediglich in 45-84 % der Fälle, Themen dazu sind Weisskittelhypertonie und maskierte Hypertonie. Man weiss, dass erhöhte 24-Stunden-Blutdruckwerte klar ein erhöhtes Risiko für alle kardiovaskulären Ereignisse darstellt unabhängig vom Praxisblutdruckwert. Wenn man einen erhöhten 24-Stunden-Blutdruckwert hat und diesen behandelt, dann rettet man Leben. Deshalb empfiehlt die US Task Force eine 24-Stunden-Blutdruckmessung als Referenzstandard vor Beginn jeglicher therapeutischer Massnahmen im Sinne einer Grad-A-Empfehlung. In den europäischen Empfehlungen wird bezüglich Screenings und Diagnose an wiederholten Praxisblutdruckmessungen festgehalten mit einer 24-Stunden-Blutdruckmessung oder Heimblutdruckmessung als Alternative und in Spezialfällen. Die Definitionen einer Hypertonie sind abhängig von der Messmethode in dem Sinn, dass bei Praxisblutdruckmessungen die Grenze bei 140/90 mm Hg liegt, während bei der Heimblutdruckmessung 135/85 mm Hg als Grenze gelten. Bei der Langzeitblutdruckmessung wird differenziert entsprechend der Messperiode, tagsüber 135/85, nachts 120/70 und im Mittel über 24 Stunden 130/80 mm Hg. Unter den Take Away Points hält der Referent fest, dass Blutdruckmessungen korrekt durchgeführt werden sollen. Ausser bei sehr hohen Blutdruckwerten soll keine antihypertensive Therapie eingeleitet werden ohne Bestätigung durch eine Form einer ambulanten Messung, sei es in Form einer 24-Stunden-Blutdruckmessung oder der Heimmessung. Für die Langzeitmessung bestehen robuste Daten, dass hohe Blutdruckwerte mit kardiovaskulären Ereignissen korreliert sind. Für Patienten mit einer Weisskittelhypertonie sollen wiederholt Langzeitblutdruckmessungen in Betracht gezogen werden, um die allfällige Entwicklung einer echten Hypertonie nicht zu verpassen. Beratung in Ernährungsfragen und bezüglich Lifestyles ist immer empfohlen.
Hämatologie & Onkologie
Dr. med. Reto Kühne, Zürich, erläutert «Die aktuellen Empfehlungen für den Einsatz von neuen oralen Antikoagulantien bei Patienten mit Malignom». Das Phänomen einer tumorassoziierten Thrombose hat Armand Trousseau 1865 erstmals beschrieben. Es betrifft im klinischen Alltag 20 bis 30% aller venöser Thromboembolien. Sowohl bei soliden Tumoren wie auch bei Lymphomen, Myelom oder Leukämie ist das Thromboserisiko 4- bis 7-fach erhöht. Die erste grosse Vergleichsstudie zur Behandlung von tumorassoziierten Thrombosen erschien 2003 im New England Medical Journal und zeigte, dass das Rezidivrisiko unter Behandlung mit Fragmin® rund halb so hoch ist wie unter Vitamin-K-Antagonisten. An gleicher Stelle erfolgte 2018 die Publikation einer Vergleichsstudie von Edoxaban (Lixiana®) mit dem LMWH Dalteparin nach vorgängig 5-tätiger Behandlung mit LMWH und zeigte identische Resultate bezüglich Blutungen und Rezidivthrombosen. Eine grosse Meta-Analyse von 13 ausgewählten Artikeln zeigte, dass zwischen den Behandlungen kein Mortalitätsunterschied besteht, dass DOAKs effektiver in der VTE-Prävention sind als LMWH, und ein insgesamt 6-fach tieferes Blutungsrisiko aufweisen, jedoch v.a. bei Tumoren des GI-Traktes zu mehr schweren Blutungen führen. Zusammenfassend hält der Referent fest, dass bei der tumorassoziierten Thrombose gute Evidenz für Edoxaban und Rivaroxaban besteht, rät aber bei GI-Tumoren (insbesondere auch bei Tumor in situ), wo LMWH eingesetzt werden sollen, vom Einsatz von DOAKs ab.
Infektionskrankheiten
Dr. med. Gerhard Eich, Zürich, widmet sich der Frage «Für welche Patientengruppe ist die Varizellen-Zoster-Impfung indiziert oder kontraindiziert? Wann und wie soll ein immunkompetenter Patient mit schwerer Gürtelrose abgeklärt werden?» Mehr als 99% aller Erwachsenen hatten Kontakt mit dem Varizella-Zoster-Virus (VZV), sei es durch natürlichen Kontakt oder Impfung. Die Infektion persistiert lebenslang und wird durch VZV-spezifische T-Zellen kontrolliert. Deren Aktivität nimmt jedoch mit zunehmendem Alter und bei Immunosuppression ab, wodurch das Risiko eines Herpes Zoster v.a. ab Alter 50 steigt. In der Schweiz dürfte es deshalb zu rund 21000 Konsultation jährlich kommen, betroffen sind zu über 50% Personen älter als 65 Jahre. In rund 30% stellen sich Komplikationenen ein, sei es in Form einer post-herpetischen Neuralgie (PHN, Schmerzen > 3 Monate nach Ausheilung des Ausschlags), eines Zoster Ophthalmicus (10-20% der HZ-Fälle mit Potential der Erblindung) oder eines Zoster oticus (Ramsey-Hunt) mit Facialis-Parese. Mit Zostavax®, einem attenuierten Lebendimpfstoff kann man sich dagegen schützen, der Impfstoff wurde 2007 von Swissmedic zugelassen, aber nicht primär in den Impfplan aufgenommen, weil das Kosten-Nutzen-Verhältnis als ungenügend eingestuft wurde. 2015 erfolgte eine Reevaluation durch die eidgenössische Kommission für Impffragen. Die Inzidenz einer Gürtelrose wird um 50% reduziert, die PHN um zwei Drittel. Die Wirksamkeit nimmt mit steigendem Alter ab und verliert sich mit den Jahren nach der Impfung. Trotzdem wurde der Impfstoff daraufhin in den Impfplan 2017 aufgenommen als ergänzende Impfung bei immunkompetenten Personen zwischen 65 und 79 Jahre unabhängig von einer VZV-Anamnese. Bei einem erhöhten Erkrankungs- und Komplikationsrisiko, insbesondere einer bevorstehenden Immunschwäche im Alter von 50 bis 79 Jahre ist eine Impfung mit einer Dosis empfohlen, sofern die VZV-Anamnese positiv ist. Ansonsten ist eine Grundimmunisierung mit 2 Dosen Varivax® indiziert. Kontraindikationen für eine Lebendimpfung sind mässige bis schwere Immundefizienz und Schwangerschaft. Auch bei Allergien gegen den Impfstoff darf nicht geimpft werden. Es erfolgt keine Übernahme der Kosten von CHF 162 durch die Krankenkassen. Zusammenfassend handelt es sich um einen Impfstoff mit einem durchzogenen Leistungsausweis. Jetzt wurde neu ein rekombinierter Impfstoff (Shingrix®) auf den Markt gebracht, er ist in den USA und auch Deuschland zugelassen, aber nicht in der Schweiz. Geimpft wird mit 2 Dosen im Abstand von 2 Monaten, die Nebenwirkungen sind v.a. Fieber über 38 Grad bei 11% der Patienten. Bezüglich Kontraindikationen bestehen keine Untersuchungen zur Wirksamkeit bei Transplantierten und bei Immunschwäche. Studien zeigen jedoch sehr gute Resultate mit einer Effektivität gegen den Herpes Zoster und die PHN in über 90%, nicht abnehmend bei steigendem Alter der Geimpften und einer schwächeren Abnahme im Verlauf der Zeit. Es wird darauf hingewiesen, dass es möglich ist, nach einer Impfung mit Zostavax mit Shingrix zu impfen.
Die Frage nach sinnvollen Abklärungen von immunkompetenten Patienten mit einer schweren Gürtelrose basiert auf der Annahme, dass ein Herpes Zoster Ausdruck einer Immunschwäche sei und dass eine solche Folge einer schweren Grunderkrankung, insbesondere Neoplasie, sein könne. Die Frage gab Anlass zu verschiedenen Studien, der Referent präsentiert eine Untersuchung anhand des dänischen Nationalregisters. Bei 10588 Patienten mit HZ wurden 1239 Fälle erwartet und 1427 Fälle gefunden (RR 1,2). D.h. das Risiko für eine Neoplasie ist leichtgradig erhöht, jedoch nur für hämatologische Neoplasien im ersten Jahr, nicht für die übrigen Neoplasien. Die Autoren kamen zum Schluss, dass eine spezifische Suche nach Neoplasien nicht empfohlen werden könne.
Neurologie
Prof. Dr. med. Christian Baumann, Zürich, nahm Stellung zu den Fragen «Inwiefern hat sich der Ansatz zur Behandlung von Migräne geändert? Wie sollten Patienten über Prophylaxe-Möglichkeiten beraten werden?» Zur Therapie einer Migräneattacke hält der Referent fest, dass sich derzeit in der Neurologie und der Pharmaindustrie viel bewegt, dass sich der Fokus aber immer noch auf den Trigeminus und die Gefässe richtet. Gemäss den deutschen Leitlinien, die auch von Österreich und der Schweiz mitgestaltet wurden und vor einem Jahr in Kraft gesetzt wurden, werden zur Behandlung von leichtere und mittelstarke Migräneattacken primär Analgetika wie Acetylsalicylsäure und nicht steroidale Antirheumatika (NSAR) als wirksam eingesetzt. Sie wirken auch bei einem Teil der Patienten mit schweren Migräneattacken. Die 5-HT-1B/1D-Agonisten (Almotriptan, Eletriptan, Frovatriptan, Naratriptan, Rizatriptan, Sumatriptan und Zolmitriptan) sind die Substanzen mit der besten Wirksamkeit bei akuten Migräneattacken und sollten eingesetzt werden, wenn diese nicht auf Analgetika oder NSAR ansprechen. Die Indikation zur Prophylaxe der Migräne hat sich nicht verändert, man soll daran denken, wenn häufige Attacken bestehen und besonders ausgeprägte Beschwerden oder anhaltende Aurea. Neben Information und Verhaltensmodifikation kann eine medikamentöse Migräneprophylaxe angeboten werden, wobei sich die Wahl eines Präparates an der Attackenhäufigkeit, an Begleiterkrankungen und individuelle Bedürfnisse des Patienten orientieren sollen. Als Substanzen kommen die Betablocker Metoprolol und Propranolol in Frage, der Kalziumantagonist Flunarizin oder die Antikonvulsiva Topiramat oder Valproinsäure. Deren Wirksamkeit und diejenige vom Antidepressivum Amitriptylin sind am besten durch randomisierte Studien belegt. Neu werden selektivere Agonisten kommen, welche ebenso gut wirken, ohne die vasokonstriktive Komponente der Triptane aufzuweisen, so dass sie auch bei Patienten mit kardiovaskulären Risikofaktoren eingesetzt werden können. Das Zulassungsverfahren z.B. für Lasmiditan läuft in verschiedenen Staaten, wenn auch noch nicht in der Schweiz. Bei der Migräneprophylaxe gibt es bereits neue Medikamente, die von der Swissmedic zugelassen sind, so humane resp. humanisierte monoklonale Antikörper, die das Calcitonin Gene Related Peptide (CGRP) ausschalten und damit dessen Vasodilatation hemmen. Es sind zwei Substanzen zugelassen, deren Wirkung dosisabhängig über mehrere Monate gut ist in Bezug auf Reduktion der Anzahl von Migränetagen pro Monat, Erenumab (Aimovig®) und Galcanezumab (Emgality®). Ein Pen kostet CHF 616, einmal monatlich zu applizieren, wobei die Verordnung gemäss Limitatio nur durch einen Facharzt für Neurologie und weiteren Voraussetzungen erfolgen darf .
Dr. med. Hans Kaspar Schulthess, Zürich
Quelle: VZI Highlights from Philadelphia, 4. Juli 2019, Lake Side, Zürich