- Das Chronic Care Model zur besseren Versorgung kardiovaskulärer und chronisch kranker Patient/innen
Das Chronic Care Model (CCM) ist ein evidenzbasiertes Konzept zur Versorgung chronisch kranker Patientinnen und Patienten. Durch seinen ganzheitlichen Ansatz eignet es sich auch für die Versorgung einzelner, indikationsbezogener Erkrankungen. Das CCM wurde daher von einer Expertengruppe, welche die aktuelle Versorgung von kardiovaskulären Erkrankungen beurteilt hat, zur Verbesserung der Versorgung vorgeschlagen. Mit dem CCM konnten bereits erste Umsetzungserfahrungen in der Schweiz gesammelt werden. Aus diesen und weiteren Rückmeldungen von Expertinnen und Experten lassen sich CCM-Umsetzungsempfehlungen für die Praxis ableiten.
The Chronic Care Model (CCM) is an evidence-based approach for the care of chronically ill patients. With its holistic approach, it is also well-suited for managing individual, indication-specific diseases. An expert panel evaluating the current care of cardiovascular diseases has thus proposed the CCM to improve patient care. Initial implementation experiences with the CCM have already been gathered in Switzerland. From these experiences and additional feedback from experts, practical recommendations for CCM implementation can be derived.
Key words: chronic care model, chronic ill patients, holistic approach
Kardiovaskuläre Versorgung und das Chronic Care Model
Die Ergebnisse einer aktuellen Analyse der kardiovaskulären Versorgung in der Schweiz (1) haben eine erhebliche «Versorgungslücke» zwischen den empfohlenen Behandlungszielen aus den medizinischen Leitlinien und der Behandlung in der täglichen Praxis aufgezeigt; dies insbesondere im Hinblick auf die Erreichung der Zielwerte von kardiovaskulären Risikofaktoren (Evidence Performance Gap (EPG)). Inwieweit der ermittelte EPG von Expertinnen und Experten aus der Praxis bestätigt wird und wie sich dieser reduzieren lässt, wurde im Rahmen eines Roundtables 1, 2 diskutiert. Dabei hat sich gezeigt, dass der EPG durchaus so in der Praxis besteht. Die Teilnehmenden nannten folgende praxisbezogene Gründe für den EPG:
- Evidenz, welche dem EPG zu Grunde liegt
Die Versorgungsziele werden aus verschiedenen Guidelines entnommen. Diese stützen sich vielfach auf Studien, die nicht unbedingt repräsentativ für die ambulante Versorgung sind. - Technisch-digitale Infrastruktur in der Praxis
Vor allem die technisch-digitale Infrastruktur in der ambulanten Versorgung unterstützt heute kaum bzw. nur vereinzelt die Langzeitversorgung chronisch kranker Patientinnen und Patienten. - Finanzielle und personelle Ressourcen
Aufgrund des zunehmenden Fachkräftemangels und veralteter Tarifstrukturen besteht immer weniger Zeit für die einzelnen Patientinnen und Patienten. Hierunter leidet speziell die notwendige Zeit für die Aufklärung und die Förderung des Selbstmanagements - Verantwortliches Selbstmanagement der Patientinnen und Patienten
Durch ein «verantwortliches Selbstmanagement» besitzen die Patientinnen und Patienten einen grossen Einfluss auf ihre Gesundheit und Krankheit. Die Versorgungsstrukturen unterstützen aber erst in einem geringen Masse die Entwicklung der Betroffenen als «Experten» ihrer Erkrankung - Geringe Gesundheitskompetenz/Healthliteracy
Im Praxisalltag zeigt sich immer wieder sehr überraschend, wie gering die Gesundheitskompetenz einzelner Patientinnen und Patienten ist. Dies führt oftmals zu bewussten Entscheidungen gegen eine Therapie, bzw. diese wird mit der Zeit immer weniger befolgt. Gesundheitsfachpersonen erreichen diese Betroffenen meistens nur sehr schwer.
Einig war sich die Expertengruppe, dass diese EPG-Gründe nicht nur bei der Versorgung kardiovaskulärer Erkrankungen eine Bedeutung haben, sie lassen sich auf jede andere chronische Erkrankung übertragen. Aus diesem Grund wurde ein umfassendes und ganzheitliches Versorgungskonzept wie das Chronic Care Model (CCM), das in den 90er Jahren in den USA entwickelt wurde, vorgeschlagen. Das CCM ist ein Grundversorger-basiertes sechsteiliges Versorgungskonzept, dass die Bedürfnisse chronisch Erkrankter stärker berücksichtig und den kompletten Versorgungsprozess danach ausrichtet. Es beinhaltet die in Tab. 1 aufgeführten sechs Versorgungselemente.
Das CCM ist in der Schweiz nicht unbekannt. Vor allem in grösseren Gruppenpraxen, wie die der Sanacare (2) oder in Ärztenetzen (3) wird das CCM bzw. einzelne Elemente bereits für die strukturierte Versorgung von chronisch kranken Patientinnen und Patienten umgesetzt. Mit zwei weiteren Initiativen, der Praxis Gesundheitspunkt (4) in Oberägeri sowie dem Projekt OptiQ (5) des Vereins QualiCCare, welches durch die Stiftung Gesundheitsförderung Schweiz während den Jahren 2020 bis 2024 mitfinanziert wurde, wurden zusätzlich zu den Erkenntnissen aus dem Roundtable Interviews zu ihren CCM-Umsetzungserfahrungen durchgeführt.
Das CCM-Konzept der Gesundheitspunkt Praxis wird in Abb. 1 dargestellt. Wie sich zeigt, werden durch die Praxis mehrere Komponenten des CCM angewendet. Das «Gemeinwesen: Mobilisierung wohnortnaher Ressourcen» erfolgt durch den Einbezug der Gemeinde Oberägeri, sowohl durch die Berücksichtigung des bereits bestehenden sozialmedizinischen Unterstützungsangebotes der Gemeinde durch die Praxis, als auch durch die Mitfinanzierung des zusätzlichen CCM-Angebotes der Praxis durch die Gemeinde. Besonders letzteres ist hervorzuheben, da es aufzeigt, dass für die Finanzierung eines zusätzlichen Versorgungsangebotes Gemeinden erfolgreich eingebunden werden können.
Im Projekt OptiQ wurden die im Kanton Waadt interprofessionell im ADAPTE Prozess erarbeiteten Praxisempfehlungen Multimorbidität (RPC multimorbidité (6)) in der Grundversorgung getestet. Zur Implementierung der sechs Versorgungsschritte der Praxisempfehlungen (Abb. 2) wurden diese durch QualiCCare übersetzt und durch die interprofessionelle Expertengruppe des Projekts Opti-Q national validiert. Für die praktische Anwendung in Hausarztpraxen, Apotheken und/oder durch die Spitex wurden die folgenden Anwendungshilfen erarbeitet, welche in einem Pilotprojekt getestet und anschliessend überarbeitet wurden.
- einen Versorgungspass in Papierform für die Betroffenen
- ein ganzheitliches Assessment für die strukturierte Standortbestimmung der Betroffenen als beschreibbares PDF eine Medikationscheckliste zur Überprüfung der Medikation inkl. Möglichkeit von pharmazeutischen Empfehlungen als beschreibbares PDF
- Eine elektronisch verfügbare Liste an Selbstmanagement-Förderungsangeboten mit Suchfunktion auf der QualiCCare Webseite sowie auf der Blueprint Seite des BAG
Zusätzlich erhielten alle Pilotteilnehmer eine Fortbildung zur interprofessionellen Zusammenarbeit des Vereins SwissIPE (7).
In Tab. 2 sind die Empfehlungen für ein CCM aus Sicht dieser beiden Initiativen dargestellt.
Welche CCM-Elemente heute bereits wie in der Praxis umgesetzt werden können, zeigen die konkreten Umsetzungsempfehlungen aus Tab. 1. Es ist bekannt, dass eine Umsetzung ein erhebliches Engagement aller Beteiligten benötigt. Aber die Praxisbeispiele wie die Empfehlungen der Expertinnen und Experten zeigen auf, dass eine schrittweise Einführung und Entwicklung eines CCM heute bereits möglich sind. Es bedarf daher keiner grundsätzlich neuen Regulatorien, sei es im Bereich der Tarifierung oder der Systemstrukturen, wie sie u. a. im Parlament im Rahmen der Massnahmenpakete zur Kostendämpfung diskutiert werden. Förderlich wäre aber sicherlich die dringliche Modernisierung/Aktualisierung vieler Tarifsysteme in der ambulanten Versorgung, damit die interprofessionelle Zusammenarbeit in den «Prepare Practice Teams (PPT)» in der Praxis leichter umzusetzen ist.
Weitere Empfehlungen für die Umsetzung des CCM in der Praxis sind in Tab. 1 aufgeführt. Aus Sicht der Autoren bieten sich für den ersten Umsetzungsschritt die Systemelemente «3 Angebot von Entscheidungshilfen» und «5 Unterstützung und Förderung des Selbstmanagements» an. Hierzu bestehen bereits umfassende Vorarbeiten und Angebote, welche zur Verfügung stehen und den Start in die Umsetzung eines CCM-Konzeptes unterstützen. Ausgewählte Anwendungsbeispiele finden Sie ebenfalls in Tab. 1.
Copyright Aerzteverlag medinfo AG
Schweizer Forum für Integrierte Versorgung (fmc)
Zugerstrasse 193
6314 Neuägeri
oliver.strehle@fmc.ch
Das vorliegende Paper ist im Rahmen des von Novartis unterstützten Projektes «Take action» entstanden, das darauf abzielt, die Versorgung von kardiovaskulären Risikopatient/-innen zu verbessern und von Frau Agnès Bachofner geleitet wird. Novartis hat auf den Inhalt keinen Einfluss genommen.
1. Rosemann, T., Bachofner, A., Strehle, O. (2024), Kardiovaskuläre Erkrankungen in der Schweiz – Prävalenz und Versorgung, PRAXIS 2024; 113 (03): 57–66
2. Sahli, R., Jungi, M., Christ, E., Goeldlin, A. (2019), «Chronic Care Management»-Programm in der hausärztlichen Praxis, SWISS MEDICAL FORUM, 19(7–8):113–116
3. Strehle, O., Ritzmann, P., Helg, A. (2023), Qualität steigern und Kosten senken dank Ärztenetzen, Schweizerische Ärztezeitung, 104(27–28):36–38
4. https://gesundheitspunkt.ch/angebot/chronic-care/
5. Projekt «Opti-Q Multimorbidität – Optimierung der Behandlungsqualität von multimorbiden Patienten» | Gesundheitsförderung Schweiz (gesundheitsfoerderung.ch)
6. RPC_multimorbidite.pdf (recodiab.ch)
7. Home – SwissIPE
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