Fortbildung

Welche ethischen Fragen stellen sich?

Demenz und assistierter Suizid

Die ethischen Fragen im Zusammenhang mit dem Wunsch nach assistiertem Suizid bei Menschen mit Demenz sind komplex. In erster Linie geht es darum, sich mit ihren Anliegen auseinanderzusetzen und ihre ­Motive und Einstellungen zu Leben und Tod zu verstehen. Eine Bitte um assistierten Suizid kann im Vorgriff auf den kognitiven Verfall geäussert werden, die Durchführung erfordert jedoch Urteilsfähigkeit. Falls gewünscht, können im Rahmen einer Vorausplanung Alternativen für den Fall von Komplikationen und diesbezügliche Präferenzen besprochen werden. Es wird ein interdisziplinärer Ansatz in der geriatrischen Palliative Care empfohlen, um eine Versorgung anzubieten, die den Zielen des Patienten entspricht und seine Entscheidungen am Lebensende
respektiert.



The ethical issues surrounding requests for assisted suicide from people with dementia are complex. First and foremost, we need to address their concerns and explore their motivations and attitudes towards life and death. A request for assisted suicide may be expressed in anticipation of cog- nitive decline, but its realization requires decision-making capacity. If desired, advance care planning can help discuss and determine alternatives in the event of complications and related preferences. An interdisciplinary approach to geriatric palliative care is recommended in order to provide goal-concordant care and to respect the person’s end-of-life decisions.
Key Words: Dementia, assisted suicide, decision-making capacity, advance care planning

Einführung

In diesem Artikel möchten wir einige aktuelle ethische Fragen zum assistierten Suizid bei Menschen mit Demenz ansprechen. Wie so oft bei schweren und unheilbaren Krankheiten sind die Präferenzen von Menschen, die mit der Diagnose Demenz konfrontiert werden, sehr unterschiedlich und hängen von ihren Werten und Einstellungen zu Leben und Tod ab. Manche können sich zunächst nicht vorstellen, mit kognitiven Beeinträchtigungen zu leben, zeigen aber später Anzeichen von Lebensfreude. Andere zeigen Anzeichen von existenzieller Not, Sinnlosigkeit oder Angst vor kognitivem Verfall, was dazu führen kann, dass sie nach der Diagnose einen assistierten Suizid in Anspruch nehmen. Für manche Menschen geht es, wie im Fall von Gunter Sachs, auch darum, die Kontrolle über ihr Leben zu behalten und ein Lebensende zu vermeiden, das sie nach ihrer Werteskala als unwürdig empfinden (siehe Kasten).


Für medizinisches Fachpersonal ist die Äusserung eines Todeswunsches oder sogar die Bitte um Beihilfe zum Suizid eine Herausforderung, die Kommunikationsfähigkeit, aktives Zuhören und Respekt vor den Werten anderer erfordert (2). Care-Fachkräfte haben die ethische Verpflichtung, zu versuchen, ihre Patienten als Menschen zu verstehen und ihre Leiden und deren mögliche Ursachen zu berücksichtigen. Eine multiprofessionelle und interdisziplinäre Beurteilung ermöglicht ein besseres Verständnis der Herausforderungen, die sich aus jeder Situation ergeben, indem Spezialisten aus den Bereichen Medizin, Krankenpflege, Psychologie, Seelsorge, Geriatrie, Psychogeriatrie und Palliative Care, manchmal aber auch Ethiker und Juristen einbezogen werden.

Wie der Fall von Gunter Sachs zeigt, ist ein Sterbewunsch zu Beginn einer Demenz oft durch die Angst vor einem düsteren Zukunftsbild motiviert: die Befürchtungen, völlig abhängig zu werden, seine Identität und Persönlichkeit zu verlieren, eine Belastung für die Angehörigen zu sein, unter Schmerzen oder anderen unerträglichen Symptomen zu leiden und schliesslich die Befürchtungen, sein Leben nicht mehr kontrollieren zu können und sein Leben aufgrund eines Verlusts der Urteilsfähigkeit nicht mehr beenden zu können (3). Eine systematische Literaturrecherche hat ergeben, dass Demenz an sich kein Risikofaktor für Suizid ist, aber bestimmte Untergruppen ein erhöhtes Risiko aufweisen können, z. B. jüngere Patienten, solche mit Komorbiditäten, Depressionen, semantischer Demenz oder in der Anfangsphase nach Bekanntgabe der Diagnose (4).

Rechtliche und ethische Rahmenbedingungen

In der Schweiz ist die Beihilfe zum Suizid nicht strafbar, sofern die helfende Person keine selbstsüchtigen Beweggründe hat (Art. 155 Schweizerisches Strafgesetzbuch, StGB). Die Tötung auf Verlangen ist jedoch verboten (Art. 114 StGB), im Gegensatz zu einer wachsenden Zahl anderer Länder (Niederlande, Belgien, Luxemburg, Kanada, Australien, Spanien, Portugal). Beim assistierten Suizid behält die sterbewillige Person die letzte Kontrolle über die Handlung: Sie muss die tödliche Substanz trinken oder die Infusion starten. Die Hilfe zum Suizid ist nur erlaubt, wenn der Suizid freiwillig erfolgt und die Person in Bezug auf diese Handlung noch urteilsfähig ist. Um die Freiwilligkeit zu gewährleisten, muss jeder Druck, jede Manipulation, Täuschung oder Nötigung von innen oder aussen ausgeschlossen sein. Die Urteilsfähigkeit lässt sich in vier Teilfähigkeiten untergliedern: das Verstehen von Informationen, die in verständlicher Form gegeben werden, die Einschätzung der eigenen Situation und der Handlungsfolgen, das Abwägen von Gründen und schliesslich die geäusserte persönliche Entscheidung (5). Die Beurteilung dieser Fähigkeit ist jedoch komplex, wenn es um assistierten Suizid geht, und die Literatur zeigt, dass es eine grosse Unsicherheit und Vielfalt bei diesen medizinischen Beurteilungen gibt (6).

Die Richtlinie der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften «Umgang mit Sterben und Tod», die von der FMH als Standesordnung angenommen wurde, stellt zusätzliche Bedingungen (7): Der Arzt muss bescheinigen, dass die Person unerträglich leidet, was durch eine Diagnose oder Prognose objektiviert werden muss. Ausserdem müssen Alternativen zum assistierten Suizid erklärt, erörtert und vorgeschlagen worden sein. Nach dieser Richtlinie darf der Arzt keine Beihilfe zum Suizid leisten, wenn der Suizidwunsch «ein aktuelles Symptom einer psychischen Störung darstellt» (7).

Alternativen und ethische Herausforderungen

Aus ethischer Sicht ist es eine grosse Herausforderung, die Autonomie und Würde von Menschen mit Demenz und die daraus resultierenden Entscheidungen am Lebensende zu respektieren (8). Um eine fundierte Entscheidung treffen zu können, muss die urteilsfähige Person vor allem umfassend und objektiv über die Prognose der Krankheit, ihre gesundheitlichen und lebensbeendenden Folgen, die Optionen des Pflegeprojekts sowie die Risiken und Vorteile dieser Optionen informiert werden.

Die Patienten müssen auch über die verschiedenen legalen Möglichkeiten der Leidenslinderung und Sterbebegleitung, insbesondere der Palliativmedizin, informiert werden. Wie alle medizinischen Massnahmen sollten auch lebensverlängernde Massnahmen (z.B. Antibiotika) bei Demenz nur dann eingeleitet werden, wenn sie dem autonomen Willen der Person entsprechen. Um diese Autonomie entsprechend der individuellen Werteskala bestmöglich zu respektieren, ist es von grösster Bedeutung, diese Gespräche bereits in der Frühphase der Erkrankung führen zu können («Relationale Autonomie»). Es wird empfohlen, dass der Patient seine Wünsche, Wertvorstellungen und Therapieziele im Vorfeld mit seinen Angehörigen, Ärzten und Pflegenden bespricht, idealerweise im Rahmen eines Advance Care Planning (ACP), das von einer qualifizierten Fachperson begleitet wird, die diese Gespräche moderiert und dokumentiert (9, 10). In diesem Prozess hat der Patient auch die Möglichkeit, eine Person seines Vertrauens als vorsorgeberechtigte Person zu benennen und eine Patientenverfügung zu verfassen. Letztere ermöglicht es dem Patienten zu entscheiden, in welchen Situationen er im Falle seiner Urteilsunfähigkeit auf Behandlungsmassnahmen verzichten möchte. Man kann sein künftiges, urteilsunfähiges Ich nicht zum Suizid verpflichten (wie im Film «Still Alice» gezeigt), und wenn man es könnte, wäre es ein unfreiwilliger Suizid, der verhindert und nicht unterstützt werden sollte.

ACP ermöglicht es auch, andere mögliche Optionen zu prüfen, z. B. solche, die sich auf die Ernährung und Flüssigkeitszufuhr beziehen. Solange eine Person urteilsfähig ist, ist der freiwillige Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit eine legitime Entscheidung am Lebensende, die das Leben verkürzen kann (11). Es ist jedoch ethisch umstritten, ob eine Person im Voraus verlangen kann, im Falle einer fortgeschrittenen Demenz keine Getränke und Nahrung mehr angeboten zu bekommen, insbesondere wenn sie Anzeichen dafür zeigt, dass sie trinken und essen möchte – ein Angebot menschlicher Fürsorge, das durch das bioethische Prinzip des Wohltuns gestützt wird (12, 13). Die orale Aufnahme von Flüssigkeit und Nahrung ist keine medizinische Behandlung, sondern eine zwischenmenschliche Hilfeleistung, ebenso wie der Schutz vor Kälte. Ihr Abbruch kann nicht im Voraus verordnet werden, da dies einem unfreiwilligen (mangels Selbstbestimmung) assistierten «Suizid» gleichkäme, der weder rechtlich noch ethisch vertretbar ist (13, 14).

Die vermutete Demenz von Gunter Sachs wurde nicht diagnostiziert, und er war für seine depressiven Episoden bekannt. Es wäre angebracht gewesen, ihn von einem medizinisch-pflegerischen Team begleiten zu lassen und ihn durch eine offene Kommunikationskultur in einer Gesellschaft zu unterstützen, die sich verpflichtet, die Entscheidungen am Lebensende aller Menschen zu respektieren, wer auch immer sie sein mögen.

Copyright Aerzteverlag medinfo AG

Übersetzung aus la gazette médicale 02/2025

Dr. med. Rachel Rutz Voumard

Unité d’éthique clinique,
Institut des Humanités en Médecine, CHUV-UNIL

Dr. med. Eve Rubli Truchard

– Chaire de soins palliatifs gériatriques, Service de soins palliatifs et de support CHUV-UNIL

– Service de gériatrie et réadaptation gériatrique CHUV-UNIL

Prof. Dr. med. Dr. phil. Ralf Jox

– Unité d’éthique clinique,
Institut des Humanités en Médecine, CHUV-UNIL

– Chaire de soins palliatifs gériatriques,
Service de soins palliatifs et de support CHUV-UNIL,

Die Autorenschaft hat keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.

  • Menschen mit Demenz können existenzielles Leid, Sinnverlust oder Angst vor dem Risiko eines kognitiven Rückgangs ausdrücken, was insbesondere nach der Mitteilung der Diagnose den Wunsch nach einem frühen Tod begründen kann.
  • Es ist von grösster Bedeutung, sich ihre Sorgen anzuhören, sie über den Krankheitsverlauf zu informieren, Behandlungsmöglichkeiten zu besprechen und Therapieentscheide zu planen.
  • Wenn eine Person mit Demenz sich der möglichen Alternativen bewusst ist, ist sie eher in der Lage, existenzielle Entscheidungen über ihr Leben und ihren Tod zu treffen.

1. Der Abschiedsbrief von Gunter Sachs. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8.5.2011, https://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/menschen/wortlaut-der-abschiedsbrief-von-gunter-sachs-1637779.html (accédé le 19.8.2024)
2. Fachgesellschaft für Palliative Geriatrie (FGPG), Grundsatzpapier „Sterbewünsche in der palliativen Geriatrie“. FGPG Berlin 2023, https://www.fgpg.eu/wp-content/uploads/2023/05/GSP-05_Sterbewuensche-Druck.pdf (accédé le 19.8.2024)
3. van Rickstal R, De Vleminck A, Chambaere K, Van den Block L. People with young-onset dementia and their family caregivers discussing euthanasia: A qualitative analysis of their considerations. Patient Educ Couns 2023; Oct:115:107882. doi: 10.1016/j.pec.2023.107882
4. Schmid J, Jox R, Gauthier S, Belleville S, Racine E, Schüle C, Turecki G, Richard-Devantoy S. Suicide and assisted dying in dementia: what we know and what we need to know. A narrative literature review. Int Psychogeriatr 2017;29(8):1247-59.
5. Appelbaum PS. Assessment of Patients’ Competence to Consent to Medical Treatment. New Engl J Med 2007 ;357 :1834-40.
6. Mangino DR, Nicolini ME, De Vries RG, Kim SYH. Euthanasia and Assisted Suicide of Persons With Dementia in the Netherlands. Am J Geriatr Psychiatry 2020;28(4):466-77.