- Depression im Alter
Depression ist im Alter eine häufige und oft übersehene Erkrankung. Auf Grundlage der Schweizer Empfehlungen für die Diagnostik und Therapie der Depression im Alter diskutiert der Artikel ihre Diagnostik und Therapie. Die Diagnostik stützt sich auf die klinische Exploration, ergänzt um die Abklärung von Differentialdiagnosen. Unbedingt zu beachten ist die erhöhte Suizidgefährdung bei Depression im Alter. Therapeutisch kommt in erster Linie Psychotherapie zum Einsatz, bei schwereren Verläufen zusätzlich auch Pharmakotherapie. Therapiebegleitend können psychosoziale Interventionen und Spezialtherapien durchgeführt werden. Weitere biologische Therapieverfahren wie Schlafentzug, Lichttherapie und Hirnstimulationsverfahren stehen im spezialisierten Therapiekontext zur Verfügung.
Late-life depression is a frequent and underdiagnosed condition. This article discusses its diagnosis and treatment based on the Swiss Therapy Recommendations for Diagnosis and Treatment of Depression in Old Age. The diagnosis rests on the clinical exploration and the differential diagnostic process. Due to the elevated risk of suicide, the exploration of suicidality is imperative in late-life depression. Psychotherapy is the mainstay of treatment. In more severe cases of depression, it is complemented by pharmacotherapy. Psychosocial interventions and other specialist therapies can be useful add-ons. Biological therapies, such as sleep deprivation, bright light therapy and various brain stimulation methods are mainly used in specialized treatment contexts.
Depression im Alter, Psychotherapie, Antidepressiva
Diagnosestellung
Für die Diagnose der Depression im Alter (DiA) gibt es keine spezifischen Diagnosekriterien. Die Diagnose wird also wie beim jüngeren Erwachsenen anhand der – rein klinischen – ICD-10-Kriterien für die depressive Episode (F32) bzw. rezidivierende depressive Störung (F33) gestellt und auch so kodiert. Ebenso wenig gibt es eine klare Altersgrenze, wobei in der Schweiz von DiA meist bei Personen > 65 Jahren gesprochen wird (1).
Depression ist bei Personen > 65 Jahre häufig. Gemäss der Schweizer Gesundheitsbefragung 2022 hatten 4 % der Personen > 65 Jahren mittelschwere bis schwere Depressionssymptome (2). In institutionellen Kontexten wie Alters- und Pflegeheimen liegt die Prävalenz deutlich darüber. Dies hat einerseits Konsequenzen für das Gesundheitsversorgungssystem als Ganzes, das sich mit der Bevölkerungsalterung auf eine Zunahme der Fallzahlen einstellen muss. Andererseits bedeutet dies auch, dass in jedwedem medizinischen Versorgungskontext eine hohe Ausgangswahrscheinlichkeit besteht, dass ein Patient > 65 Jahre an einer DiA leidet. Dies spiegelt sich z. B. darin, dass 12.3 % der Hausarztkonsultationen älterer Personen in den USA 2012 in der Verschreibung eines Antidepressivums mündeten (3). In der Schweiz werden 46.9 % der Antidepressiva durch Hausärzte verschrieben, davon am meisten in der Altersgruppe > 65 Jahre (4).
Trotz – oder gerade wegen – ihrer Häufigkeit ist die DiA unterdiagnostiziert. Dies liegt u. a. daran, dass sich die DiA «atypisch» präsentieren kann, z. B. durchaus mit somatischen Beschwerden als Präsentationssymptom. Um einen diagnostischen Verdacht zu erhärten, ist ein vertiefendes Gespräch notwendig, das vor den zeitlichen Zwängen des übrigen Praxis- oder Klinikbetriebs geschützt werden muss. Auch spezifische Skalen für das Screening können im diagnostischen Prozess hilfreich sein. Zum Screening ist die Selbstbeurteilungsskala GDS-15 (Geriatric Depression Scale) gut geeignet – auch für den Einsatz in Altersheimen (1). Die GDS bietet den zusätzlichen Vorteil einer Einordnung des Schweregrads der Depression.
Differentialdiagnosen, Komorbiditäten und Komplikationen
Nicht selten finden sich bei älteren Patienten komplexe Mischbilder aus Multimorbidität und Alltagsbeeinträchtigungen, psychologischen und sozialen Belastungsfaktoren (z. B. Verlusterleben und Vereinsamung). Hier die Ursachen von den Folgen sowie die Komorbiditäten von den Komplikationen abzugrenzen, kann anspruchsvoll sein. Die Schweizer Empfehlungen für die Diagnostik und Therapie der DiA bieten hierzu ergänzende Informationen zum Zusammenspiel von DiA und u. a. Demenz, Schlaf, Schmerz und wichtigen somatischen Komorbiditäten (1). Krankheitsbilder, die zu depressionsähnlichen Symptomen führen können, müssen differentialdiagnostisch berücksichtigt werden (Tab. 1). Besonders erwähnenswert ist die mögliche depressiogene Wirkung vieler Pharmaka (5).
Suizidalität
Die Gefahr des Suizids kann bei Depression nicht deutlich genug betont werden. Im Jahr 2022 starben 958 Personen durch Suizid (ohne assistierten Suizid), entsprechend 1.3 % aller Todesfälle (6). Die Suizidrate steigt mit dem Alter stark an, wobei der Anstieg zum grössten Teil durch Suizide bei älteren Männern bedingt ist (6). Anhand sog. «psychologischer Autopsien», d. h. der Untersuchung der Vorgeschichte von Suiziden bei Senioren, konnte gezeigt werden, dass in der Mehrzahl (in einer Studie bis 87 %) von einer DiA ausgegangen werden muss (7). Es ist also falsch, bei Suiziden im Alter von sog. «Bilanzsuiziden» auszugehen.
Zur Abklärung der Suizidalität werden zunächst allfällige Suizidgedanken erfragt und dann ggf. die Exploration vertieft. Bestehen Suizidabsichten oder sogar konkrete Suizidpläne? Welche Risikofaktoren weist der Patient auf? Hierzu zählen (neben dem bereits erwähnten höheren Lebensalter, männlichen Geschlecht und DiA): Suizidalität in der Vorgeschichte und im sozialen Umfeld, psychische und somatische Komorbiditäten, Schmerzen, Einschränkungen bei Alltagsfunktionen, Lebensereignisse (z. B. der Verlust des Partners), soziale Isolation, Gefühl der Hilf- oder Hoffnungslosigkeit und die Verfügbarkeit von Suizidmethoden im Haushalt (z. B. Schusswaffen). Das Fehlen solcher Risikofaktoren darf in der Akuteinschätzung jedoch nicht automatisch zur Entwarnung führen: Sie spiegeln statistische Risiken, d. h. eine Risikoerhöhung in Personengruppen über einen längeren Zeitraum hinweg, haben für die momentane Situation eines individuellen Patienten also nur begrenzte Aussagekraft.
Auf Grundlage der Exploration ist das Suizidrisiko zu beurteilen und zu dokumentieren. Sollte hierbei die Einschätzung entstehen, dass akute Selbstgefährdung vorliegt, und kann diese nicht durch andere Maßnahmen sicher abgewendet werden, muss auch bei älteren Patienten eine fürsorgerische Unterbringung erwogen werden.
Therapie
Die Therapie der DiA entscheidet sich an Akuität, Leidensdruck und Schweregrad der Symptomatik, Verfügbarkeit und Umsetzbarkeit von Therapieangeboten und Behandlungspräferenzen des Patienten. Der Einbezug des Umfelds und die Vernetzung der verschiedenen Hilfsangebote ist immer sinnvoll. Für die Therapie stehen Interventionen aus vier Bereichen zur Verfügung: Psychosoziale Interventionen und Spezialtherapien, Psychotherapien i. e. S., Psychopharmakotherapie und biologische Therapieverfahren.
Psychosoziale Interventionen und Spezialtherapien
Psychosoziale Interventionen und Spezialtherapien begleiten die spezifische psychotherapeutische und pharmakologische Behandlung (1). Hierzu zählen die sog. angeleitete Selbsthilfe (eigenverantwortliche Durchführung von Interventionen unter punktueller therapeutischer Anleitung), Psychoedukation, sog. Problemlösetraining, Rekreationstherapie (d. h. der Aufbau einer befriedigenden Freizeitgestaltung), physische Aktivierung, Entspannungsverfahren, sog. soziales Kompetenztraining und die Spezialtherapien Ergotherapie und kunsttherapeutische Verfahren.
Aufgrund Ihrer Evidenz ragen die Rekreationstherapie (8) und die physische Aktivierung (9) heraus. Beiden Verfahren ist gemeinsam, dass sie konkret den Alltag der Patienten mit aktivierenden Elementen anreichern, die positive Erfahrungen ermöglichen. Körperliche Aktivierung scheint höhere Wirksamkeit aufzuweisen, wenn sie unter Anleitung durchgeführt wird und mehrmals wöchentlich erfolgt (z. B. drei Trainingseinheiten pro Woche jeweils mit 10-minütigem Aufwärmen, 30 Minuten wandern oder joggen und 5 Minuten abkühlen).
Psychotherapie
Gemäss den Schweizer Empfehlungen ist Psychotherapie bei DiA Therapie der ersten Wahl und wird bei schweren Formen in Kombination mit Pharmakotherapie empfohlen (1). Es können sowohl Gruppen- wie auch einzeltherapeutische Verfahren angewendet werden. Pflegende Angehörige weisen selbst ein hohes Risiko für Depression auf und müssen im Rahmen des Therapiekonzepts berücksichtigt werden (1).
Unter den verschiedenen psychotherapeutischen Verfahren weist die kognitive Verhaltenstherapie die größte Evidenz auf. Auch kurzzeitige psychodynamische Behandlungen verfügen über eine gute Evidenzbasis (1). Weitere Verfahren, die zum Einsatz kommen, sind die Reminiszenztherapie (eine Methode des Lebensrückblicks mit dem Ziel, eine positive Perspektive des eigenen Lebensverlaufs zu erlangen), die interpersonale Therapie sowie andere Verfahren der sog. «Dritten Welle der Psychotherapie» (1).
Pharmakotherapie
Die Pharmakotherapie der DiA ist eine wirksame Behandlungsform, die v. a. bei mittel- und schwergradiger Ausprägung zum Einsatz kommt und die Psychotherapie als Therapie der ersten Wahl ergänzt (1). Metaanalytisch wurde bei der DiA ein Ansprechen auf Pharmakotherapie («response», d. h. 50 % Rückgang der Symptomatik) bei etwa 50 % der Patienten belegt (10).
Die Pharmakotherapie der DiA erfordert die Berücksichtigung der psychiatrischen und somatischen Komorbiditäten, der sonstigen Medikation und ein sorgfältiges Therapiemonitoring (inkl. Routinelabor und EKG vor Therapiebeginn) bzgl. Wirkung und unerwünschten Arzneimittelwirkungen (UAWs). Die Pharmakotherapie erfolgt nach dem Prinzip «Start low, go slow (but go!)», d. h. es erfolgt eine einschleichende Dosierung, die jedoch im Verlauf unbedingt bis in den therapeutisch wirksamen Bereich erhöht werden muss. Bei Ausbleiben einer Wirkung können Arzneimittelspiegel bei der Dosisfindung hilfreich sein. Für einen suffizienten Behandlungsversuch ist neben ausreichender Dosierung auch eine ausreichende Dauer erforderlich. Dies sind in der Regel zunächst 4–6 Wochen. Bei Ausbleiben der Wirkung kann der Therapieversuch bis auf 12 Wochen ausgedehnt werden («late responder»). Eine Übersicht über die verfügbaren Substanzen bietet Tab. 2.
In Abwägung von Wirksamkeit, Verträglichkeit und möglichen Arzneimittelinteraktionen erfolgt die Auswahl der Wirksubstanz. Unter den SSRIs können z. B. (Es-) Citalopram oder Sertralin gut geeignet sein (1, 11). Für die Wirksamkeit und Verträglichkeit von Ketamin und Esketamin bei DiA gibt es zwar zunehmend Evidenz (12), ihr Einsatz unterliegt aber verschiedenen Restriktionen und sollte aktuell nur durch den Spezialisten in genau begründeten Fällen erfolgen. Die pharmakologische Erhaltungstherapie, Rezidivprophylaxe sowie die Behandlung therapierefraktärer Depressionen gehen über den Rahmen dieses Artikels hinaus.
Biologische Verfahren
Zu den biologischen, nicht-pharmakologischen Verfahren zählen u. a. der therapeutische Schlafentzug (Wachtherapie), die Lichttherapie und Hirnstimulationsverfahren (EKT, rTMS und weitere). Diese Therapieverfahren weisen z. T. eine sehr gute Wirksamkeit gegenüber der DiA auf. Sie sind aber in der Regel einem spezialisierten Behandlungskontext vorbehalten oder kommen v. a. bei anderweitig therapierefraktären Krankheitsverläufen zum Einsatz (EKT, rTMS).
Copyright Aerzteverlag medinfo AG
Universität Zürich
Forschungsgruppenleiter:
«Lebensqualität bei Demenz»
florian.riese@bli.uzh.ch
Der Autor hat keine Interessenskonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel deklariert.
- Depression im Alter ist häufig und unterdiagnostiziert.
- Mögliche Suizidgefährdung muss erkannt werden.
- Psychotherapie ist die Therapie der ersten Wahl.
- Bei schwereren Verläufen werden zusätzlich Antidepressiva eingesetzt.
- Geeignet sind z. B. SSRIs (Evidenzgrad A, Empfehlungsgrad 1), hierunter v. a. (Es-)Citalopram und Sertralin.
1. Hatzinger M, Hemmeter U, Hirsbrunner T, Holsboer-Trachsler E, Leyhe T, Mall JF, et al. Empfehlungen für Diagnostik und Therapie der Depression im Alter. Praxis (Bern 1994). 2018;107(3):127-44.
2. Bundesamt für Statistik. Mittelschwere bis schwere Depressionssymptome, 2022 2024 [Available from: https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/gesundheit/gesundheitszustand/psychische.assetdetail.30505730.html.
3. Maust DT, Bloww FC, Wiechers IR, Kales HC, Marcus SC. National Trends in Antidepressant, Benzodiazepine, and Other Sedative-Hypnotic Treatment of Older Adults in Psychiatric and Primary Care. J Clin Psychiatry. 2017;78(4):e363-e71.
4. Schweizer Gesundheitsobservatorium. Psychopharmaka in der Schweiz. Obsan Bulletin 01/2022.
5. Qato DM, Ozenberger K, Olfson M. Prevalence of Prescription Medications With Depression as a Potential Adverse Effect Among Adults in the United States. JAMA. 2018;319(22):2289-98.
6. Bundesamt für Statistik. Suizid nach Alter und Geschlecht (ohne assistierten Suizid), 2019-2022 2023 [Available from: https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/gesundheit/gesundheitszustand/sterblichkeit-todesursachen/spezifische.html.
7. Conwell Y, Thompson C. Suicidal behavior in elders. Psychiatr Clin North Am. 2008;31(2):333-56.
8. Cuijpers P, van Straten A, Warmerdam L. Behavioral activation treatments of depression: a meta-analysis. Clin Psychol Rev. 2007;27(3):318-26.
9. Klil-Drori S, Klil-Drori AJ, Pira S, Rej S. Exercise Intervention for Late-Life Depression: A Meta-Analysis. J Clin Psychiatry. 2020;81(1).
10. Gutsmiedl K, Krause M, Bighelli I, Schneider-Thoma J, Leucht S. How well do elderly patients with major depressive disorder respond to antidepressants: a systematic review and single-group meta-analysis. BMC Psychiatry. 2020;20(1):102.
11. Ishtiak-Ahmed K, Musliner KL, Christensen KS, Mortensen EL, Nierenberg AA, Gasse C. Real-World Evidence on Clinical Outcomes of Commonly Used Antidepressants in Older Adults Initiating Antidepressants for Depression: A Nationwide Cohort Study in Denmark. Am J Psychiatry. 2024;181(1):47-56.
12. Balaram KvD, L. I.; Wilkins, K. M.; Maruca-Sullivan P. E. A New Solution to an Age-old Problem: A Review of Ketamine and Esketamine for Treatment-resistant Depression in Late Life. Current Geriatrics Reports. 2023;12:93-102.
der informierte @rzt
- Vol. 14
- Ausgabe 11
- November 2024