- Der komplexe Schmerzpatient in der Praxis
An den diesjährigen ZAIM MediDays in Zürich berichteten Dr. Barbara Jungner, Dr. Florian Käs, Dr. Henrik Fredrich und Dr. Daniel Friis vom Schmerzambulatorium für diagnostische und therapeutische Schmerzmedizin am Institut für Anästhesiologie des USZ über Fallbeispiele aus ihrer Praxis.
Schmerzen sind ein vielschichtiges Phänomen, das sich in unterschiedlichsten Formen und Intensitäten äussern kann, so Dr. Friis. Gemäss der International Association for the Study of Pain (IASP) ist Schmerz als ein unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis definiert, das mit einer tatsächlichen oder potenziellen Gewebeschädigung verbunden ist oder als solche beschrieben wird.
Schmerzformen, Schmerzmechanismus
Es gibt verschiedene Formen von Schmerzen, die jeweils spezifische Ursachen und Mechanismen aufweisen:
Nozizeptiv: Nozizeptiver Stimulus, Protektion
→ Hohe Reizschwelle
Inflammatorisch: Entzündung, Heilung Neuropathisch: Schädigung Nervensystem
→ Tiefe Reizschwelle
Noziplastisch: Kein nozizeptiver Stimulus, kein neuropathischer Schaden, keine Entzündung
Die Behandlung ist multimodal und interdisziplinär mithilfe des Bio-psycho-sozialen Modells: Dieses besteht aus Edukation, psychologischer Therapie, medikamentöser Therapie, physikalischer Therapie und interventioneller Therapie.
Fallvignette
Der Referent stellte einen durch den Hausarzt zugewiesenen Patienten, Jahrgang 1952, vor. Er leidet unter einem chronisch zervikobrachialen Syndrom links ohne neurologische Ausfälle. Als Nebendiagnosen bestehen eine arterielle Hypertonie und eine koronare Herzkrankheit. Die Überweisung erfolgte wegen Halswirbelgelenkschmerzen. Ferner liegt ein chronisches zervikobrachiales Syndrom links ohne neurologische Ausfälle vor. Die Klinik umfasst Nackenschmerzen mit Schmerzausstrahlung vom unteren Nackenbereich in die Schulterregion ohne sensomotorische Ausfälle. Eine kurzzeitige Beschwerdereduktion kann durch Physiotherapie erzielt werden. Vor allem körperliche Arbeit wie beispielsweise Gartenarbeit führt zu Schmerzexazerbationen, wie der Patient feststellte.
Ein MRI der Halswirbelsäule (HWS) zeigt multisegmentale degenerative Veränderungen mit Diskusprotrusionen auf Höhe C6/7, wobei eine rechtsseitige Dominanz erkennbar ist. Es liegen keine Hinweise auf Myelonkompression und keine spinozerebelläre Enge vor. Der Referent verwies auf die ICD-11-Klassifikation (WHO seit 2023) hin. Der hier vorgestellte Therapievorschlag umfasst eine Locus-dolendi-Infiltration mit Lokalanästhetika (Lidocain/Carbostesin), welche zu einer signifikanten Schmerzreduktion führt. Eine Wiederholung des Verfahrens erfolgt mit gleichem Resultat.
Differentialdiagnostisch kommen eine muskuläre Problematik der Halsmuskulatur (M. Scalenii, Sternocleidomastoideus), eine ossäre Problematik (Cavicula, Sternum), eine neurologische Problematik (Plexus axillaris, zervikale Nervenwurzeln) sowie eine vaskuläre Problematik (Vasa subclavia) und eine intrathorakale Problematik (Lunge, Pleura) in Betracht.
Das Thoracic outlet Syndrom (TOS)
Das Thoracic-outlet-Syndrom (TOS) – auch als neurovaskuläres Kompressionssyndrom bezeichnet – manifestiert sich in der Nähe des Plexus brachialis und der Vasa subclavia, zwischen Klavikula und erster Rippe, und zeigt eine Inzidenz von 1–3/100.000.
Es werden drei Typen unterschieden: Neurologische TOS (nTOS), welche Schmerzen, Hyp-/Dysästhesie, Parästhesie und Muskelschwäche umfassen, venöse TOS (vTOS), die mit Schwellungen, Schmerzen, Thrombose einhergehen, sowie arterielle TOS (aTOS), die Ischämie und Claudicatio-Symptome sowie Thrombenbildung als Symptome zeigen. Die Diagnose ist schwierig zu stellen.
Die klinische Untersuchung umfasst den Test der Oberarmspannung (Upper limb tension test), die Bildgebung mittels Röntgen und MRT, die neurologische Untersuchung (Elektroneuromyographie) sowie die lokale Infiltration im Bereich des Musculus Scalenii (Interscalenusblockade). Die Therapie erfolgt konservativ mittels Physiotherapie zur Korrektur von Fehlhaltung und muskulärer Dysbalance. Bei Bedarf kann eine Operation zur Dekompression mit teilweise resezierter erster Rippe und Skalenotomie durchgeführt werden.
Fallvignette
Eine weitere Fallvignette stellte Dr. Henrik Fredrich vor. Es handelte sich um eine 17-jährige Patientin, seit ca. einem Jahr bestehende Schmerzen rechts periumbilical, keine Stuhlunregelmässigkeiten, keine Allodynie. Eine ähnliche Episode hatte sich sechs Jahre zuvor ereignet.Die Diagnostik vor Einweisung umfasste diverse Enteropathien sowie diverse radiologische Untersuchungen, darunter native und dynamische KM-verstärkte MRT des Abdomens. Diese ergaben jedoch keinen richtungsweisenden Befund.
Diagnostik/Therapie
– Die Infiltration des Locus dolendi periumbilical rechts resultiert in einer signifikanten Schmerzlinderung über einen Zeitraum von sechs Stunden.
– Diagnostischer Transversus abdominus Plane-Block rechts, erneute signifikante Schmerzlinderung während der LA-Wirkung.
– Therapeutischer Transversus Abdominus Plane-Block rechts, dessen Wirkung erneut lediglich im LA-Zeitfenster zu beobachten war, gefolgt von einer Zunahme der Schmerzen.
→ Somit kann eine lokale Desensibilisierung ausgeschlossen werden.
Weitere Therapie
– Im Rahmen der Testinfusion von Lidocain und Ketamin konnte eine verbesserte Wirkung von Lidocain mit einer ca. zweiwöchigen Schmerzreduktion beobachtet werden.
– Daher wurde eine Serie von Lidocain-Infusionen mit anschliessender gepulster Radiofrequenztherapie eingeleitet, wobei lediglich eine kurzfristige Besserung zu verzeichnen war.
– Die letzte Therapie war eine Kryoablation des Locus dolenti Abdomen und der periumbilikalen Region rechts. Diese führte zu einer Schmerzfreiheit für die Dauer eines Jahres.
Definitive Therapie
– Etwa ein Jahr nach der Kryoablation manifestierten sich erneut Schmerzen.
– Es erfolgte eine erneute Locus-dolenti-Infiltration mit jeweils deutlicher Schmerzreduktion.
– Der Entschluss zur operativen Neurotomie und Nerventeilresektion von Th 10 und Th 11 in der vorderen Axillarlinie rechts wurde etwa zwei Jahre nach dem ersten Kontakt mit dem Schmerzambulatorium gefasst.
Seither besteht Beschwerdefreiheit.
A.C.N.E.S.
Das Abdominal (anterior/acute) Cutaneous Nerve Entrapment Syndrom ist durch Schmerzen der Bauchwand gekennzeichnet, welche durch die Einklemmung des anterioren Hautastes der Intercostalnerven bedingt sind.
Klinische Zeichen
– Der Schmerz ist eng lokalisiert, meist im rechten Unterbauch, aber grundsätzlich in der gesamten Bauchwand möglich.
– Positiver Pinching Test
o Schmerzexazerbation durch Kneifen
– Positives Carnett’s Sign:
o Schmerzexazerbation durch Anspannen der Bauchmuskeln
– Andere klinische Zeichen
o Allodynie, Hypo-/Hyperästhesie, Hyperalgesie
Therapieoptionen
– Infiltration Locus dolenti
– TENS
– Neurodol-Pflaster
– Neurektomie
«When facing abdominal pain, don’t forget ACNES»
Fallvignette
Dr. Florian Käs stellte eine 64jährige Frau vor mit chronischem Clusterkopfschmerz + Migräne. Die Symptome manifestierten sich erstmals im Sommer 2014 und lokalisierten sich in der linken Gesichtshälfte, wobei das Auge, die Wange und die Zähne betroffen waren. Der Schmerz wurde als stechend beschrieben und erreichte auf der Numerischen Rating Scale (NRS) einen Wert von 10/10. Die Dauer einer Episode betrug zwischen drei und vier Stunden, ohne dass eine Therapie erfolgte. Es wurden zwei Episoden pro Tag berichtet. Begleiterscheinungen waren eine Photophobie, eine Rückzugstendenz sowie trigeminoautonome Symptome, welche sich durch eine Rötung des linken Auges, Tränenfluss sowie eine Rhinorrhoe manifestierten. Triggerfaktoren konnten nicht identifiziert werden.
Therapie
Die bisherigen therapeutischen Massnahmen umfassten:
1. Langzeitprophylaxe
– St. N. Verapamil, Valproat, Lamotrigin (mit kurzzeitigem Ansprechen)
– Im Mai 2021 wurde mit der Gabe von Lithium 660 mg begonnen. Die Medikation wurde täglich verabreicht, wobei im Verlauf eine Entwicklung von Tremor beobachtet wurde. Dies führte zu einer Beendigung der Therapie.
– Im Jahr 2020 wurde eine GON-Infiltration ohne Wirkung vorgenommen.
– Von 2019 bis Mai 2023 erfolgte die Anwendung von Amovig 140 mg s. c. (Migräne) monatlich, Reduktion der Attacken-Frequenz intermittierend, attackenfreie Episoden (wenige Monate), danach Wirkungsverlust.
– Von Juni bis September 2023 Gabe von Vyepti® 300 mg (Migräne). Dies löste als Nebenwirkung eine Urtikaria aus.
– Beginn mit Topiramat, was nach drei Tagen bei Unwohlsein und Schwindel wieder abgesetzt wurde.
2. Kurzzeitprophylaxe
– St. N. 2 x Glukokortikoid-To-Therapie i. v. über fünf Tage mit guter Wirksamkeit.
– Seit Sommer 2023 erfolgt die Anwendung von Glukokortikoiden p.o., wobei aktuell eine Dosis von 12 mg Spiricort pro Tag verabreicht wird.
3. Akuttherapie
– Eine Sauerstofftherapie führte teilweise zu einer Schmerzreduktion auf mindestens 5/19 (NRS)
– Die Gabe von Sumatriptan (nasal) führte lediglich zu einer 30-prozentien Schmerzreduktion.
– Die Gabe von Imigran führte teilweise zu einer Reduktion der Episodendauer auf 10–30 Min.
Gibt es weitere Therapiemöglichkeiten? In den Guidelines der European Academy of Neurology on the Treatment of Cluster Headache wird folgendes vorgeschlagen: Für die Akutbehandlung von Clusterkopfschmerzattacken wird dringend Sauerstoff (100%) mit einem Flow von mindestens 12 L/min über 15 Minuten und 6 mg subkutanes Sumatriptan empfohlen. Zur Prophylaxe von Clusterkopfschmerzattacken wird Verapamil in einer Tagesdosis von mindestens 240 mg (die Höchstdosis hängt von der Wirksamkeit und Verträglichkeit ab) empfohlen. Kortikosteroide sind bei Clusterkopfschmerz wirksam. Lithium, Topiramat und Galcanezumab (nur bei episodischen Clusterkopfschmerzen) werden als alternative Behandlungsmethoden empfohlen. Die nichtinvasive Stimulation des Vagusnervs ist bei episodischem, aber nicht bei chronischem Clusterkopfschmerz wirksam. Die Blockade des Nervus occipitalis major wird empfohlen, aber die elektrische Stimulation des Nervus occipitalis major wird aufgrund des Nebenwirkungsprofils nicht empfohlen.
Die Blockade des Ganglion Sphenopalatinum/Meckels Ganglion kann zu folgenden Komplikationen führen: Bitterer Geschmack (Lidocain), Brennen der Schleimhäute, Epistaxis, Allergische Reaktion auf Kontrastmittel.
Zusammenfassend kann gesagt werden:
Blockade des Ganglion Sphenopalatinum
– Aufgrund der fehlenden Evidenz durch qualitativ unzureichend durchgeführte Studien kann keine abschliessende Aussage getroffen werden.
– Basierend auf den Erfahrungen der Vortragenden lässt sich jedoch ableiten, dass bei einer wiederholten Durchführung (alle 6–12 Wochen) von ca. 30–40 % der relevanten prophylaktischen Massnahmen eine Wirksamkeit zu erwarten ist.
– Bezüglich anderer Kopfschmerzen (Migräne, Spannungskopfschmerz, Trigeminus-Neuralgie) gibt es noch weniger Evidenz.
– Einfach durchzuführen, nicht invasiv, kostengünstig, niedriges Nebenwirkungsprofil
Evidenz Migräne
Aufgrund der aktuellen internationalen Guidelines und Reviews kann aufgrund der fehlenden RCTs keine Empfehlung ausgesprochen werden (Tzankova et al., Diagnosis and acute management of migraine, CMAJ 2013;195:E153-E158).
Evidenz: Cluster Kopfschmerz
Das Ganglion sphenopalatina ist ein vielversprechendes Ziel für die Behandlung von Clusterkopfschmerz durch Blockaden, Radiofrequenzablation und Neurostimulation. Weitere Studien sind jedoch nötig (Ho KWD, Przkora R, Kumar S. Sphenopalatine ganglion: block, radiofrequency ablation and neurostimulation – a systematic review. J Headache Pain. 2017 Dec 28;18(1):118).
Endometriose – Allgemein
Im Rahmen der Veranstaltung referierte Frau Dr. Barbara Lungner über die Endometriose sowie die entsprechenden Schmerztherapien. Die Endometriose wird definiert als chronisch-entzündliche Erkrankung, bei der sich endometriumähnliches Gewebe ausserhalb des Uterus befindet. Das Durchschnittsalter bei der Diagnose liegt bei 28 Jahren, wobei Endometriose auch bereits im Jugendalter auftreten kann. In seltenen Fällen ist auch die Diagnose bei kleinen Mädchen möglich. Es ist zu beobachten, dass die Diagnose häufig erst nach einem Zeitraum von über fünf Jahren gestellt wird. Unter geeigneter Therapie lässt sich die Diagnose günstig stellen. Jede zehnte Frau ist von dieser Erkrankung betroffen, wobei eine familiäre Häufung beobachtet wird. Die Prävalenz des superfizialen peritonealen Befalls liegt bei ca. 80 %, wobei auch eine ovarielle Manifestation in Form von Zysten beobachtet wird. Die Lokalisationen der Erkrankung sind vielfältig und können tief im Peritoneum, aber auch kombiniert auftreten. Zudem kann eine Erkrankung des Blasenepithels sowie extrapelviner Regionen, wie beispielsweise thorakal, umbilikal oder zerebral, erfolgen.Das Behandlungskonzept ist in Abb. 1 wiedergegeben.
Therapie
Zu den schmerzmedizinische Therapieoptionen bei Endometriose zählen: Psychosomatik, Akupunktur, Physiotherapie, TENS, SNRI, TCA, Antikonvulsiva, Nichtopioid-Analgetika, Psychologie, Hypnose, Opioide, Intervention sowie Cannabis.
Zu den psychotherapeutischen Verfahren zählt die Kognitive Verhaltenstherapie, deren Einsatz unter Einbeziehung psychosomatischer Faktoren einen statistisch signifikant besseren Therapieeffekt aufweist. Diesbezüglich wird eine starke Empfehlung ausgesprochen.
Physiotherapie, eine manuelle Therapie sowie die transkutane elektrische Nervenstimulation (TENS) stellen vielversprechende Behandlungsmethoden bei einer Beckenbodendysbalance bzw. bei Triggerpunkten dar. Diesbezüglich konnte in einer randomisierten Studie eine signifikante Schmerzreduktion sowie eine Verbesserung der Lebensqualität nachgewiesen werden. Eine Behandlung dieser Art wird empfohlen.
Im Rahmen einer Pilotstudie wurde die Wirksamkeit von Antikonvulsiva bei 47 Frauen mit relevanter Organopathologie über einen Zeitraum von sechs Monaten untersucht. Es konnte nachgewiesen werden, dass Gabapentin (300–2700 mg/d) im Vergleich zu Placebo eine überlegene Wirkung hinsichtlich der Reduktion von Schmerz und Depressivität aufweist. Hinsichtlich der Nebenwirkungen konnten keine Unterschiede festgestellt werden.
In der randomisierten kontrollierten Studie wurden 306 Frauen über einen Zeitraum von 16 Wochen untersucht. Dabei zeigten sich keine signifikanten Unterschiede
zwischen Gabapentin (bis 2700 mg/d) und Placebo hinsichtlich der Schmerzreduktion. Allerdings traten in der Gabapentin-Gruppe schwerwiegende Nebenwirkungen häufiger auf, weshalb eine zeitlich befristete Therapie in Erwägung gezogen werden sollte.
Die interventionelle Schmerztherapie wird in der medizinischen Praxis häufig unterschätzt, obwohl sie eine vielversprechende diagnostische Option darstellt, für die jedoch noch keine ausreichende Evidenz vorliegt.
Die Indikation umfasst Nervenreizungen im kleinen Becken, beispielsweise in Form von Nerven-Nervenwurzelblockaden, wie sie bei Pudendusblockaden oder Ganglion Impar Blockaden zum Einsatz kommen. Auch neuropathische Schmerzen können mit dieser Methode behandelt werden. Dabei kommen verschiedene Infusionen zum Einsatz, darunter Ketamin, NMDA-Rezeptorantagonisten und Lidocain, ein Natriumkanalblocker. Das Ziel dieser Behandlung ist eine Schmerzmodulation.
→ Behandlung kann erwogen werden
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