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Symposium zum 100. Geburtstag von Prof. Dr. med. Dr. h.c. Walter Siegenthaler

Differenzialdiagnose und medizinische Innovation – Teil 2



Am 4.12.2023 veranstaltete die Zurich Academy of Internal Medicine (ZAIM) ein Symposium zum 100. Geburtstag von Prof. Dr. med. Dr. h.c. Walter Siegenthaler am Universitätsspital Zürich. Der von Medworld AG (Steinhausen) hervorragend organisierte Anlass zog ein zahlreiches Publikum bestehend aus ehemaligen Schülern, Kollegen und Freunden von Walter Siegenthaler an den Ort seines ehemaligen Wirkens.

Der erste Teil erschien in der Zeitschrift « die informierte ärztin, der informierte arzt 01, 2024. In diesem 2. Teil gibt Dr. Lorenzo Käser einen Rückblick über 100 Jahre Differenzialdiagnostik Zürich, PD Lukas Zimmerli beschäftigt sich mit Check-up und Differenzialdiagnose und Prof. Lutz Jäncke entführt uns in das Unbewusste und zeigt, wie wir richtige und falsche Entscheidungen treffen und wie unser Gedächtnis funktioniert.

100 Jahre Differentialdiagnose in Zürich

Die Entwicklung der Inneren Medizin in Zürich – die Direktoren der medizinischen Klinik und der medizinischen Poliklinik, Standorte und wichtige Publikationen – Einordnung von Siegenthalers Vita waren Gegenstand er Präsentation von Dr. Lorenzo Käser, Ressort Lehre, Direktion Forschung und Lehre USZ. Der Referent erinnerte zunächst an den weltbekannten Botaniker, Internisten und Lehrer Prof. Otto Nägeli, der von 1918 bis 1921 Direktor der Medizinischen Poliklinik und von1921 bis 1937 Direktor der Medizinischen Klinik am damaligen Kantonsspital Zürich war. Otto Nägeli veröffentlichte im Jahre 1917 das Buch Differenzialdiagnose in der Inneren Medizin im Georg Thieme Verlag. Seine Nachfolger waren Wilhelm Löffler 1937-1957 und Paul H.  Rossier 1957-1969.

Das Buch zur Differenzialdiagnose innerer Krankheiten wurde 1952 von PD Dr. Robert Hegglin neu herausgegeben. 1972 erfolgte die erste Mehrautoren-Ausgabe unter Prof. Walter Siegenthaler. 2012 wurde die Differenzialdiagnose innerer Krankheiten – vom Symptom zur Diagnose unter Prof. Edouard Battegay und mit Thieme neu herausgegeben – Moderne Didaktik & Gestaltung- Schritte in die Digital- & Online-Zeit.

Von der Situation zur Differenzialdiagnose

Bedeutung, Formen und Elemente der Check-up Untersuchung, Differenzialdiagnose schützt vor Über- und Unterversorgung, Check-ups oder Sprechstunde, dies die Themen, über welche PD Dr. Lukas Zimmerli, Chefarzt Medizinische Klinik Kantonsspital Olten, referierte.

Check-ups werden häufig verlangt. Die Top 10 Gründe für Visiten in Kanada im Jahre 2019 waren

Pat. Visiten % Männer % Frauen % Patientenvisiten mit Arzneimittelempfehlungen
Hypertonie 21’296 54 46 84
Diabetes mellitus 12’651 57 43 78
Depressive Störungen 8’672 34 66 82
Angstzustände 7’879 35 65 72
Gesundheits-Check-up 7’670 50 50 3
Unbekannte/unspezifische
Gründe
5’334 47 53 100
Akute Infektion der oberen Atemwege 5’242 49 51 38
Normale Schwangerschafts-
überwachung
5’090 0 100 12
Hyperlipidämie 5’019 60 40 89
Hypothyreose 4’989 22 78 93

…über Angebote der «Check-u-Industrie»

Blut- und Urinanalysen Junior Check-up Business Check-up Executive Check-up
Ausführliches Gespräch mit dem Facharzt zum persönlichen Gesundheitszustand X X X
Ausführliche ärztliche Untersuchung X X X
Impfkontrolle und Beratung X X X
Überprüfung von Herzkreislauffunktion und Risikofaktoren X X X
Ruhe, Belastungs- und Erholungs-EKG mit Blutdruckmessung, optimaler Trainingspulsberechnung (Conconi-Test, ev. mit Laktatmessung X X X
Körpermessungen Gewichtsanamnese, BMI, Waist/Hip -Ratio, Körperfettanteil X X X
Beurteilung der Kraft und der Beweglichkeit X X X
Beweglichkeitsmessung der Wirbelsäule (nicht invasive Methode o. Strahlenbelastung X X X
Lungenfunktionstest X X X
Screening auf Hautveränderungen X X X
Prostata-Screening X X
Darmkrebs-Screening (Stuhltest) X X

Platinum Check-up
Detaillierte Leistungen

Anamnese-Gespräch zum persönlichen Gesundheitszustand
Umfassende ärztliche Untersuchung
Impfkontrolle
Besprechung der Untersuchungsergebnisse
Ausführliche altersangepasste Laboruntersuchungen (Blut, Urin)
Ruhe-EKG
Belastungs-EKG
Messung der Körperzusammensetzung
Lungenfunktionstest
Kraft- und Beweglichkeitsmessungen, Wirbelsäulen-Check
Überprüfung des Sehvermögens
Augendruckmessung
Prostata bei Männern über 45
Massnahmenplan mit praktischen Übungsbeispielen inkl. Beratung
MRI Ganzkörper
Echokardiografie und Carotis-Sonografie
Gastroskopie und Kolonoskopie
Alle Untersuchungen an einem Tag
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Der Referent präsentierte anschliessend die häufigsten Todesursachen nach Altersklassen mit wenigen Todesfällen wegen Unfällen oder «übrigen»  bei den 0-24 Jährigen und einem guten Drittel an Herz-Kreislauferkrankungen, gefolgt von Demenz und Krebs bei über 85-Jährigen.

Die Elemente des Check-ups

Regelmässige Gesundheitsuntersuchung
Beratung und Verhaltensänderung
Impfungen
Screening        Bei symptomfreien Personen Einschätzung des persönlichen Risikoprofils
Case Finding  Spezifisches identifizieren von Risikofaktoren →individuelle Risikofaktorenbeurteilung
Hidden Agenda. Nicht deklarierte Beweggründe für einen Arztbesuch (Ängste, Befürchtungen, Erwartungen…)

Differenzialdiagnostisches Denken ist zentral für Case Finding

Case Finding ist das identifizieren von asymptomatischen Erkrankungen resp. deren Risikofaktoren während einer (Routine-)Konsultation. Individuelle Risikobeurteilung der Patient:innen je nach Vorhandensein weiterer Risikofaktoren, Symptomen, Begleiterkrankungen (z.B. chronisch entzündliche Darmerkrankung) und Familienanamnese (z.B. prämature KHK).
→ differenzialdiagnostisches Denken ist zentral für individuelle Risikobeurteilung

Hidden Agenda

Hidden Agenda bezeichnet seitens der Patint:innen  nicht deklarierte Beweggründe für einen Arztbesuch. Hierzu gehören auch Erwartungen, Gefühle, Ängste, der Patient:innen, welche dem Ärzt:innen nicht ohne weiteres preisgegeben werden.

Patient:innen verlangen Check-up nicht nur  wegen Prävention

Prospektive Studie an der Medizinischen Poliklinik Basel: 66 Patient:innen (35% w), mittleres Alter 45±16 Jahre, 66% der Patient:innen in regelmässiger hausärztlicher Kontrolle, Patient:innen hatten 4.7±3.1 Symptome, jede/r 3. Patient:in hatte noch  «versteckte Gründe» für eine Check-up -Untersuchung.

Hidden Agenda bei 23 Patient:innen während der zweiten Konsultation:

Psychosoziale Belange der Patient:innen    8

Krankheitsverständnis der Patient:in   6

Krankheiten im sozialen Umfeld   3

Gesundheitliche Bedenken

  • Krebs   4
  • HIV   3
  • Herzkrankheit   3
  • Lifestyle (Rauchen, Diät, Trinksucht)   2
  • Hypertonie   2

Differenzialdiagnose schützt vor Fehl-  und Überversorgung

Patient:innen überschätzen den Nutzen von Interventionen und unterschätzen das Risiko (z.B. Krebs-Früherkennung) Patient:innen dürfen nicht durch unnötige  Interventionen gefährdet werden

→Schutz vor Überdiagnosen

→Subjektives Wohlbefinden muss zentral sein

→Shared Decision Making ist zentral

Check-ups oder Sprechstunde?

…the PHE (Periodic Health Evaluation) may provide clinicians time  to consider preventive  care more fully, thusleading to their instituting preventive measures more frequently.

… PHE has a stronger effect on improving the delivery of preventive services that are performed by clinicians  at the time of the office visit.

Check-up as a vehicle to develop  meanungful long-term relationship with patients:  «Time for the physicican to get to know the patient as a person and vice versa» (Boulware LE et al. Ann Intern Ned 2007;146:289-300/Brett AS. JMA 2021;325:2259-2261).

Check-ups zur Burnout-Prophylaxe von Ärzt:innen?

Die American Medical Association hat festgestellt, dass es wichtig ist, die Beziehungen zwischen Patienten und Ärzten zu verbessern, um eine qualitative hochwertige Pflege zu gewährleisten und Burnout vorzubeugen. Allgemeinmedizinische Vorsorgeuntersuchungen, die zumindest teilweise darauf ausgerichtet sind, solche Beziehungen aufzubauen und aufrechtzuerhalten, könnten jungen Ärzten   helfen, ihre Berufswünsche zu erfüllen, die Zufriedenheit mit ihrer Arbeit zu steigern und die Wahrscheinlichkeit eines Burnout zu verringern (Brett AS JAMA 2021;325:2259-2261).

 

Take Home Message

Individuelle Risikokomponenten beachten (Case finding)
Patient:innen verlangen Check-up Untersuchungen  oft wegen Symptomen und Sorgen (Open Agenda)
An mögliche nicht-deklarierte Beweggründe einer Check-up-Untersuchung denken (Hidden Agenda)
Prävention, falls möglich, in Grundversorgung der Patient:innen einbauen

Prof. em. Dr. Dr. h.c. Walter F. Riesen

riesen@medinfo-verlag.ch

der informierte @rzt

  • Vol. 14
  • Ausgabe 1
  • Januar 2024