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DOACS 2022: «Die 10 Gebote»



Prof. Beer

Guidelines vs. individualisierte Medizin:
Typische Konsultationen. Ein sehr ­instruktives und geistreiches Narrativ präsentierte Prof. Dr. med. Jürg H. Beer, Baden, an Hand zweier Patientenbeispiele.
Der Referent relativierte die Absolutheit der 10 Gebote der DOACs 2022 und sagte, dass die Wahrheit in der Grauzone liegt.

1. Individuelle Risikobewertung für Thrombose und Blutungen vor der Wahl des Medikaments und der Therapie-Dauer, Berücksichtigung von Risikomodifikatoren = die Fussnoten in den Leitlinien
2. Dosisreduzierung nach 6 Monaten nach TVT meistens möglich (aber nicht bei Vorhofflimmern)
3. Keine Anpassung der DOAC-Dosis auf der Grundlage der Plasmaspiegel (die in vielen Situationen hilfreich sind)
4. Dreifach- und Zweifach-Antikoagulationstherapie so kurz wie möglich anwenden (und mit den Kardiologen besprechen)
5. Nutzung der DOAC-Ergebnisdaten für Patientendiskussionen/Patientenbefähigung
6. DOACs können bei krebsassoziierter Thrombose verwendet werden, wenn dies angemessen ist.
7. Stets Leber-/Nierenfunktion und Anämie berücksichtigen
8. Anwendung einer korrekten Risikobewertung für das perioperative Management.
9. Ein Reversal ist stets möglich (ist jedoch oft nicht notwendig).
10. Vermeiden Sie einsame Entscheidungen (je komplexer die Situation wird, desto besser ist es, die Gründe für die Wahl und die Dauer der DOAC mit dem Patienten zu besprechen; überdenken Sie Ihre Entscheidung alle 3 Monate

Diese 10 Gebote wurden anhand der Vignetten von Giovanni, 60jährig, aus Lugano und Claire, 75jährig, aus Genf diskutiert.

Vignette Giovanni, 60jährig:

Gesund, Pankreas-Zysten-OP, VTE rechter Unterschenkel 3 Tage postoperativ, (LMWH-Prophylaxe). Erhält Rivaroxaban 3 Wochen 2x15mg anschliessend 1x20mg.

A’Bericht: Für 3 Monate vorgesehen, da postoperativ, «provoziert», «low recurrence risk». Gemäss den patient’s pages der ASH (Giovanni hat diese gelesen) beträgt das Wiederauftreten 33% in 5-10 Jahren. Der Referent erinnert an die ESC Guidelines (2020): Giovanni wäre entsprechend im grünen Bereich (low risk, <3% pro Jahr). Nun spielt aber die Familiengeschichte eine zusätzliche Rolle. Der Vater hat mit 45 Jahren eine Lungenembolie («spontan») erlitten, der Grossvater eine Venenthrombose in unbekanntem Alter, die Tante hatte eine TVT mit 60J. Damit rutscht Giovanni in den gelben Bereich der ESC Guidelines mit erhöhtem Risiko (3-8% pro Jahr). Der Vater hat sich weiter abklären lassen, wobei eine heterozygote APC-Resistenz (x3-5) und ein Protein C Mangel (5-30% Thrombosen-Rezidive) gefunden wurde. Damit kommt man in die personalisierte antithrombotische Analyse. Dazu zitierte der Referent eine Schweizer Publikation, bei der er Mitverfasser war (Lüscher TF et al Towards a personalized antithrombotic management with drugs and devices across the cardiovascular spectrum. Eur Heart J 2021 ;00 :1-24).

Insgesamt ergab sich folgendes Bild für Giovanni:
Rezidiv-Risiko ca. 30% /5 Jahre, transienter RF Op. ca-3%p.a. Mann (x1-2), Familienanamnese (x9) Thrombophilie des Vaters, heterozygote APC-Resistenz (x3-5%). Falls Protein C Mangel (bis 30% in den nächsten 5 Jahren). Es ergibt sich für die Rezidivrate 8%-10% pro Jahr, womit Giovanni in den intermediären bis roten Bereich der Guidelines rutscht.

Die Entscheidungsfindungshilfen sind der Padova-Score, die D-Dimer-Testung und die Ultraschallbewertung für Restthrombose.

Damit kommt die andere Seite: Giovanni hat vor 10 Jahren eine Ulcusblutung gehabt. Nach den Guidelines ist das Problem abgeheilt. Er hat seither keine entsprechenden Rückfälle gehabt.

Die Evidenz:

Der Referent zeigte die Daten mit Apixaban. Eine verlängerte Antikoagulation mit Apixaban in einer Behandlungsdosis (5 mg) oder einer thromboprophylaktischen Dosis (2,5 mg) verringerte das Risiko wiederkehrender venöser Thromboembolien, ohne die Rate schwerer Blutungen zu erhöhen (Agnelli G et al N Engl J Med 2013; 368:699-708). Ähnliche Resultate wurden auch mit Rivaroxaban auch mit der halbierten Dosis erhalten. Auch Aspirin hat eine Wirkung, jedoch lange nicht so gut wie die Antikoagulanzien.
Antidotes sind vorhanden. Sie werden aber wenig benützt, da die Halbwertszeit sehr kurz ist. Bei Dabigatran ist es Idaruzimab (Praxbind), bei den Faktor Xa Inhibitoren Andexanet mit welchen die Aktivität rückgängig gemacht werden kann.

Vignette Giovanni cont.

Der Patient hat die Histologie erhalten, dass die Pankreaszysten einem Pankreaskarzinom entsprachen. Es wurde ein Staging vorgenommen, was in der Folge zu Lungenembolien führte, multiple Lungenembolien als Zufallsbefund. Damit ist er in den roten Bereich gerutscht, solange er den aktiven Tumor in sich trägt. Dazu gibt es Daten mit Edoxaban und Dalteparin bei Krebsassoziierter Thrombose, wie der Referent explizierte. Edoxaban hatte etwas mehr Blutungen, Dalteparin etwas mehr Thrombosen. Insgesamt sind DOACs bei krebsassoziierten VTE effektiver in der Verhinderung der VTE im Vergleich zu LMWH, während das Blutungsrisiko mit DOACs zunimmt, besonders bei Patienten mit gastrointestinalen Tumoren. Der Referent erwähnte den Algorithmus zur Krebs-assoziierten Thrombose des kanadischen Expert Panels. Wann weichen wir aus auf die NMWH. Bei CAT, wenn die Plättchenzahl unter 50 liegt, wenn der Tumor im GI-Trakt ist.

Zudem sollten die Interaktionen geprüft werden. Giovanni erhält Antibiotika Clarithromycin, Erythromycin: moderate P-gp und starke CYP3A4 Inhibition, Rifampicin: starker Pgp/BCRP und CYP3A4/CYP2/2 Induktor und natürlich die HIV Protease Inhibitoren.

Leber und Niere: CHILD A alles grün, Child B verwende mit Vorsicht, Child C Kontraindikation. Bei der Nierenfunktion vor allem Reduktion der Dabigatran-Dosis ab CrCl 50ml/min, Rivaroxaban ab CrCl 50ml/min, Apixaban Dosisreduktion ab CrCl 30ml/min.

Vignette Claire, 75jährig

Sie ist «gesund», hat vom Enkel eine Smart Watch erhalten. Damit 1Min VHFLi, asymptomatisch festgestellt, ACE-Hemmer, gebrechlich (<60kg, CrCl 40ml/min. Hausarzt entscheidet sich für 2x5mg Apixaban. Dauer -Antikoagulation. Echo: HFpEF. Totaler CHA2DS2-VASc 4. Kürzlich wurde am ESC Congress in Barcelona gezeigt, dass die Smartphone App die Erfassung eines Vorhofflimmerns gegenüber dem Standardscreening mehr als verdoppelt (e-BRAVE-AF Study). Der Enkel von Claire sagt, dass man mit einem Herzgeräusch bei VHFLi Sintrom nehmen müsse. DOACS beim rheumatischen VHFLI, also nicht einfach bei einem Geräusch, wie bei Claire. In der Invictus Studie, einer Studie bei rheumatischem VHFLI, hat der Vitamin K Antagonist (VKA) besser abgeschlossen als die DOACs. Dort hätte der Enkel recht. Claire darf aber die DOACs haben, wenn man sich dafür entscheidet.

Risiko von Claire

Was ist nun das Risiko von Claire in Bezug auf Blutung und Thromboembolie? Die DOACS machen signifikant weniger Hirnblutungen als die VKA. Sie sind gleich gut oder besser als die VKA in Bezug auf Blutungen. Sie sind mindestens gleich gut bei Stroke und sie sind einfacher zu handhaben. Ausserhalb der Studien verwendet der Referent ein Register, welches im JAMA publiziert wurde ((JAMA 2021;326:2395-2404). Die Faustregel ist 1-2% Ereignisse pro Jahr, die in einer riesigen Kohorte über 5 Jahre erhoben wurde.

Welches DOAC ist für Claire empfohlen?

Bei einem CHA2DS2VASc Score von 5 hat die Patientin ein Schlaganfallrisiko von 6.7% pro Jahr. Head to Head Vergleiche der einzelnen DOACS gibt es keine. Sie möchte etwas zum Messen haben. Zur individualisierten Risikoabwägung des Blutungsrisikos unter DOAC bei Vorhofflimmern wird der HAS BLED Score verwendet. Claire hätte etwa 6% Schlaganfallrisiko und ca. 4% Blutungsrisiko.
Eine Individualisierung für die Wahl des DOACs zur Stroke-Prävention bei VHFLI entsprechend der Patientencharakteristika findet sich in einer Publikation in Blood (Blood 2019;133:2269-2278). Für ältere Patienten werden DOACS gegenüber VKA empfohlen. Bei hohem Risiko für Blutungen eher Apixaban, Dabigatran 110mg, oder Edoxaban. Bei vorheriger GI-Blutung eher Apixaban oder Edoxaban. Bei schwerer Niereninsuffizienz eher Apixaban>Rivaroxaban>Edoxaban. Bei Dyspepsie oder GERD eher Apixaban, Rivaroxaban oder Edoxaban. Bei Ernährung über eine nasogastrale oder PEG-Sonde Apixaban oder Rivaroxaban. Bei Nicht-Adhärenz zu einem zweimal täglichen Regime eher Rivaroxaban oder Edoxaban.

Zu den Spiegelmessungen

Es gibt grosse Streuungen. Wir wissen über die Auswirkungen bei hohen DOAC-Konzentrationen, wo die Blutungsrisiken anzusteigen beginnen, und die Auswirkungen bei tiefen Konzentrationen, wo die ischämischen Strokes zunehmen. Die Dosis sollte nicht aufgrund der Spiegel angepasst werden.

Für das Monitoring von DOACs gibt es 10 Gründe: Trauma im Notfall (Antagonisieren), Stroke trotz DOACs, Stroke vor Thrombolyse, VTE trotz DOAC, Schwere Blutung, Überdosis incl. Suizidversuch, vor Chirurgie (Punktionen, Endoskopie) Compliance? >75j. Patienten, Medikamente mit Interaktionen, akute und chronische Organversagen (Niere, Leber, Herz).

Vignette Claire cont

Claire hat im Checkup einen Eisenmangel, sie braucht eine Coloskopie, CrCl 20ml/min(2v3>80j; <60kg, Creatinin >133µg/l. Die Gastroenterologen sagen Antikoagulation nur am Tag der Untersuchung absetzen. Bei Claire wird Apixaban 2 Tage vorher abgesetzt.
Nun hat sie Thoraxschmerzen und erhält einen Stent. Sie erhält eine Triple Therapie während eines Monates, anschliessend DAPT (DOAC +SAPT während 4 Monaten gefolgt von DOAC allein.

Zusammenfassung:
Die 10 Gebote für Giovanni und Claire

1. Individualisierung der Risikoabwägung für Thrombose und Blutung vor der Wahl des Medikaments und der Dauer der Therapie.
2. Ziehe eine Dosisreduktion nach 6 Monaten bei TVT in Betracht, nicht aber bei Vorhofflimmern
3. Adaptiere die DOAC-Dosis nicht basierend auf dem Plasmaspiegel (welche in manchen Situationen hilfreich sind)
4. Verwende triple und duale Antikoagulationstherapie so kurz wie möglich (und diskutiere sie mit dem Kardiologen)
5. Verwende DOAC Outcome Daten für die Diskussion mit dem Patienten und die Patientenbefähigung
6. DOACs können bei krebsassoziierter Thrombose angewandt werden, wenn sie angemessen sind
7. Leber- und Nierenfunktion immer berücksichtigen, sowie die Anämie
8. Korrekte Risikoabwägung beim perioperativen Management
9. Eine Revertierung ist stets möglich
10. Vermeide einsame Entscheidungen
Der Chirurg von Giovanni ruft an. Was tun bei BMI >50 und Vorhofflimmern? Die Wirksamkeit und Sicherheit von DOACs ist nicht inferior zu Warfarin, die Daten ab BMI >40 sind knapp, Apixaban und Edoxaban empfohlen.
Synthese der Empfehlungen/Guidelines

  • Bis BMI 40 reguläre Dosierung
  • Wechsel auf Apixaban oder Edoxaban erwägen
  • Spiegel messen (Tal) bei BMI >40 oder >120kg oder Wechsel auf VKA (EHRA)
  • Bei subtherapeutischen Spiegeln auf VKA (ESC) eher als Dosis Adaptation
Prof. em. Dr. Dr. h.c. Walter F. Riesen

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  • Vol. 12
  • Ausgabe 11
  • November 2022